VIII
In den Tagen, die der Entdeckung des Wracks folgten, spuckte die See die Leichen mehrerer verstorbener Seelen aus und spülte sie in verschiedenen kleinen Buchten des Festlandes an den Strand. Keine davon war die unseres Vaters. Obwohl wir uns als Waisen fühlten, waren wir es nicht wirklich: Ohne einen Leichnam galt Vater nach dem Gesetz so lange nicht als verstorben, bis es per Gericht beschlossen wurde. Doch was auch immer im Gesetz stand, wussten wir und alle auf der Insel, dass Vater nicht mehr da war, und wir warteten nicht auf die Erlaubnis der Behörden, um um ihn zu trauern. Einige sehr bedeutende Personen ehrten ihn mit Worten. Die Bevollmächtigten der Vereinigten Kolonien äußerten sich über seinen Tod, als einen »schier unersetzlichen Verlust«. Apostel Eliot schrieb einen Brief, in dem er seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, Gott der Herr möge uns dabei helfen, »diesen schrecklichen Schlag, der meinen Bruder Mayfield hinweggerissen hat«, zu ertragen.
Auch die Gemeinde trauerte um ihren verlorenen Hirten, und zwar auf der ganzen Insel, denn sein Tod wurde nicht nur in Great Harbor beweint. Die Wampanoag beschlossen, auf mir nicht ganz nachvollziehbaren Wegen, gemeinsam und auf besondere Art meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Sobald bekannt wurde, dass er verschieden war, nahm jeder von ihnen, der auf der Insel unterwegs war, vom Strand einen dieser glatten, weißen Steine mit, die dort oft zu finden sind. Diese trugen sie so lange bei sich, bis sie an der Stelle vorbeikamen, wo Vater Abschied von ihnen genommen hatte. Dort legten sie die Steine nieder. Innerhalb nur weniger Tage war auf diese Weise ein Steinhaufen entstanden, der in den Wochen, die folgten, zu einem regelrechten Denkmal anwuchs, bei dem ein jeder Stein mit künstlerischer Sorgfalt seinen Platz fand. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er höher als ein Mensch, und noch immer kamen Wampanoag und legten ihre Steine nieder. Ich kann nicht sagen, ob sie es immer noch tun, oder in welchem Zustand das Denkmal mittlerweile ist, doch ich sehe es vor mir, weißer Schnee liegt auf den weißen Steinen, und das Schmelzwasser ist zu einem dicken Guss aus schimmerndem Eis gefroren, in dem sich die bunten Farben der untergehenden Sonne spiegeln.
In den ersten Wochen, nachdem wir davon gehört hatten, wurde es Makepeace und mir zur Gewohnheit, dort hinauszureiten und zu schauen, welche Fortschritte der Steinhaufen machte. Wir fühlten uns beide zu dem Ort hingezogen und hielten uns gerne eine Weile dort auf. Die Steine bargen eine Art innere Leuchtkraft, die je nach Tageszeit auf das wechselnde Licht der Sonne zu antworten schien. Es war ein sprechendes Grabmal, ganz anders als die stummen, grauen Grabsteine auf dem englischen Friedhof. Ich glaube, wir waren jedes Mal, wenn wir es besuchten, von neuem erstaunt darüber, wie tief es uns in unserem Innersten zu berühren vermochte.
Zwischen meinem Bruder und mir hatte sich etwas verändert, seit Solace gestorben war. Ich wusste, wie er litt, selbst seinem gewohnten Schweigen war es deutlich anzumerken. Er wiederum hatte es sich abgewöhnt, ständig irgendwelche Urteile über mich abzugeben. Ich glaube, er begriff allmählich, welch großen Kampf ich gegen den stolzen, unabhängigen Charakter ausfocht, über den er sich immer beklagt hatte, und ich denke, er begann mir damals endlich zugutezuhalten, dass ich mich redlich bemühte.
Am Anfang saßen wir schweigend vor den Steinen, doch dann begannen wir irgendwann, über Vater zu sprechen. Zunächst sagte ich nicht viel und beschränkte mich auf die frommen Allgemeinplätze, von denen ich glaubte, mein Bruder würde sie tröstlich finden. Doch eines Tages wandte er sich mir zu und fuhr sich mit der Hand durch sein spärliches Haar. (Die Büschel, die ihm ausgefallen waren, wuchsen allmählich wieder nach, doch die kurzen Stoppeln standen in alle Richtungen ab.)
»Glaubst du, der pawaaw hat Vater auf dem Gewissen?«
Ich schaute auf meine Hände und versuchte, ein leichtes Zittern zu beruhigen.
»Ich denke … ich glaube, er wollte es. Aber wir müssen doch gewiss davon ausgehen, dass es Gott der Herr ist, der uns so tragische Fügungen beschert. Vater ist nicht der erste seiner treuen Diener, den ein solch bitteres Los ereilt hat. Und dem pawaaw eine solch außerordentliche Zauberkraft zuzugestehen, wäre doch …«
»Ich glaube, er hat’s getan«, fiel mir Makepeace ins Wort. »Ich bin mir so sicher, dass er ihn getötet hat, als hätte er sein Kriegsbeil erhoben und ihm den Schädel damit eingeschlagen.«
»Aber Makepeace, denk mal darüber nach, was du da sagst. Wenn sich der Nebel und der Sturm auf seine Weisung hin erhoben haben, dann bedeutet das doch, dass Satans teuflische Machenschaften denen Gottes überlegen sind. Wie könnte das sein? Das kannst du doch nicht wirklich glauben …«
»Ich finde jedenfalls, er sollte für diese schrecklichen Hexereien zur Rechenschaft gezogen werden. Das habe ich auch Großvater schon gesagt. Als oberster Richter muss er doch endlich handeln …«
»Aber Makepeace, Großvater ist nur der Richter über die Engländer. Seine Anweisungen gelten nicht bei den Menschen, die sich nur ihren sonquems verantwortlich fühlen.«
»Das hat er mir auch gesagt. Genau das waren seine Worte. Doch wenn er nicht handelt, dann bin ich gewillt, Giles Alden um Hilfe zu ersuchen.«
»Bruder, nein!« Ich sprang von dem bemoosten Stein auf, wo ich gesessen hatte, und ging auf und ab. »Das wäre genau das Zugeständnis, das Alden sich wünscht. Denn er würde mit Freuden einen Krieg anzetteln, wenn er könnte. Glaubst du denn, er würde bei Tequamuck aufhören? Und selbst wenn, meinst du, dessen Nachfolger würden ein solches Vorgehen ungeahndet durchgehen lassen? So mancher Engländer würde den Tod finden, und dann hätte Alden den lang ersehnten Vorwand, die Insel entvölkern zu lassen. Ehe wir’s uns versehen, würde er seine Musketen schwenkenden Aufschneider vom Festland herüberholen. Es würde ein Gemetzel geben …«
Ich nahm Makepeace’ Hände in die meinen, schaute ihm ins Gesicht. »Du musst das begreifen. Es ist das Letzte, was sich unser Vater gewünscht hätte …«
»Und was dann? Sollen wir ihn einfach weiterleben und sich in seiner Bosheit suhlen lassen? Sollen wir es einfach hinnehmen, dass er mit dem Satan im Bunde steht und nach seinem Geheiß handelt? Und sollen wir abwarten, bis er nicht nur heidnische Seelen, sondern auch die frömmsten unter unseren lebenden Heiligen abschlachtet?«
»Nein. Keineswegs. Doch ich will ihn mit dem Glauben bekämpfen, so wie Vater es tat. Denk doch nur, Bruder: Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel … Sind das nicht Christi Worte? Wie können wir ihnen diese schwierige Botschaft überbringen, wenn wir nicht selbst in unserer Zeit bitterster Anfechtung danach leben? Und wie willst du von Caleb erwarten, dass er auf unserem Pfad bleibt, wenn wir zum Werkzeug eines Blutvergießens werden und seine nächsten Verwandten niedermetzeln?« In diesem Augenblick sah ich, wie sich Makepeace’ Antlitz gegen mich verhärtete, während ich heftiger wurde. Ich kämpfte um Selbstbeherrschung, senkte meine Stimme und bemühte mich, eine sanftere Miene aufzusetzen. »Tu das, was Vater mit dir vorhatte. Schaff es ans Harvard College, bereite dich darauf vor, Pfarrer zu werden. Hilf Joel, hilf Caleb, damit sie bei diesem Unterfangen an deiner Seite stehen. Denn es gibt keine Grenzen für die großartigen Dinge, die vollbracht werden könnten, und vor allem mithilfe von Caleb, der unter ihnen die höchste Geburt hat …«
»Caleb!« Makepeace zischte den Namen und trat dabei mit der Stiefelspitze nach einem Torfklumpen. »Ich hab es satt, mir Geschichten über Caleb und seine Großartigkeit anzuhören. Dieser Caleb stammt doch aus der gleichen Brut wie sein Onkel, der täglich mit dem Satan Unzucht treibt! O ja: Blut ist dicker als Wasser, Schwester. Aber es ist kein vornehmes Blut, das durch seine Adern fließt. Es ist Hexerblut. Seine eigenen Leute haben das sehr wohl gewusst, als sie ihn hinausgeschickt haben, um ihn bei seinem Onkel, diesem Diener der Finsternis, leben zu lassen. Ich kann es kaum ertragen, bei Tische neben ihm zu sitzen und eine Schüssel aus seinen Händen entgegenzunehmen. Ich sage dir, es ist, als würde ich am ganzen Körper von Dornen gestochen, wenn ich ihn bei der Versammlung neben mir sitzen habe und mit anhöre, wie er Gottes Wort flüstert, er, der vor noch gar nicht langer Zeit in der Wildnis gelebt hat, um Satan herbeizurufen. Und doch höre ich überall um mich herum nur Lobgesänge auf seine überwältigende Klugheit: ›Caleb kann Vergil interpretieren‹ … ›Calebs Verständnis des Evangeliums‹ … ›Calebs gestochene Schrift‹ …«
Er wandte sich mir zu und schaute mich sonderbar an. Seine Augen wurden schmal. »An dem Tag, als Solace ertrank: Ist dir denn nie aufgefallen, dass es Caleb war, der sie fand? Dass er schnurstracks, wie ein Pfeil, zu jenem Wasserloch lief, ohne zu zögern? Wer kann sagen, ob er nicht einen tödlichen Zauber über sie gesprochen hatte?«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er zu solch niederträchtigen Gedanken fähig war. Welch weitere, schändliche Wahnvorstellungen mochte er noch hegen?
»Bruder«, sagte ich, um Geduld bemüht. »Das Brunnenloch war bei weitem die größte Gefahr rings um das Haus. Er ist direkt dorthin gelaufen, weil er bei klarem Verstand war und sich daran erinnerte, während wir anderen alle zu verwirrt waren, um …«
»Da ist er wieder! Calebs verfluchter Verstand!« Er stürzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm, riss einen Goldrutenzweig heraus, der dort wuchs, und zupfte die Blüte mit brutaler Heftigkeit vom Stiel. »Ich weiß, was du denkst. Gib dir gar nicht erst die Mühe, es zu leugnen. Du glaubst, ich bin blind vor Neid. Und ich sage dir eins: Du bist diejenige hier, die blind ist. Du ebenso wie Vater. Vater war wie besessen von dem Jungen. Ich konnte es in seinem Gesicht sehen, Tag für Tag. Wie er freudig lächelte, wenn Caleb irgendeine knifflige Textpassage löste, und dann wanderte sein Blick zu mir, und das Lächeln schwand dahin. Ich konnte es ihm ansehen, dass er insgeheim darüber nachdachte, wie lange ich wohl gebraucht hätte, um so weit zu kommen. Und dann sah ich die Enttäuschung in seinen Augen.« Er blickte mich fragend an. »Wahrlich, ich hatte gedacht, die Probe, auf die Gott mich stellte, als er mir eine Schwester gab, die mir im Lernen den Rang ablief, sei hart genug gewesen. Aber wenigstens hatte Vater den Anstand, dieser Demütigung ein Ende zu bereiten. Doch nun diesen Fremden bei uns zu haben, diesen wilden Heiden, diesen, diesen … vermeintlichen Hexenmeister, der direkt aus der Wildnis kommt … kommt hierher und sitzt bei uns, und ich muss mit ansehen, wie er sich Vaters Achtung erschleicht und Vater ihm die liebevollen Blicke schenkt, die doch eigentlich mir gebührten …«
»Makepeace, du irrst. Vater hat nie …«
»Halt den Mund, Bethia«, fauchte er. »Du hast von allen Leuten am wenigsten das Recht, etwas zu sagen …«
»Ich weiß nicht, was du damit andeuten willst …«
»Glaubst du, ich habe wirklich kein Fünkchen Verstand? Ich weiß, wem du deine Zuneigung schenkst. O ja, ich sehe, dass du versuchst, das zu verbergen, weil solche ungesetzlichen Gefühle nur durch eine grässliche tierische Lust gezeugt sein können …«
»Das ist falsch!«, sagte ich und spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht schoss. »An meinen Gefühlen für Caleb ist nichts dergleichen.«
Unsere Blicke trafen sich, und ich zwang mich, ihm standzuhalten. Seine Kinnlade mahlte, und sein Gesicht wurde fleckig, doch ich wandte immer noch nicht den Blick ab.
»Nun denn«, sagte er kalt. »So täuschst du dich also noch selbst, und ich dachte, du täuschst nur andere. Dann schwebst du in noch größerer Gefahr, als ich befürchtet hatte.«
»Makepeace, ich sage dir, du irrst.«
»Schwester, du bist diejenige, die in die Irre geht, und zwar in Worten, Taten und, wie es scheint, sogar in Gedanken. Ich sehe, wie du ihn anschaust, wenn du dich unbeobachtet glaubst. Ich höre den vertrauten Ton in deiner Stimme, wenn du mit ihm sprichst und glaubst, ihr seid allein. So schaust du nicht und so sprichst du nicht, wenn es um Joel Iacoomis geht. Nicht einmal, wenn der junge Merry, dieses verliebte Mondkalb, dich anhimmelt. Nein. Diese liebevollen Blicke gelten nur Caleb. Gib es zu. Er hat dich verhext. Du bist von ihm besessen.«
»Ganz und gar nicht!« Mein Herz raste in meiner Brust, und ich konnte kaum atmen. Doch als ich sah, wie er den Mund öffnete, um weiterzureden, riss ich mich zusammen und hob eine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Nein, Bruder. Du hast wahrlich genug gesagt. Auf der Versammlung hast du dich zu Völlerei und Trägheit bekannt – am besten kehrst du dorthin zurück und fügst deiner Liste noch Neid hinzu. Denn ganz offensichtlich hat dein Neid auf Calebs von Gott gegebenen Verstand die Oberhand über deine Vernunft gewonnen. Außerdem hast du dich zu Fleischeslust bekannt. Ich kann mir nur vorstellen, dass du von deinen eigenen Begierden auf andere schließt. Ich bin unschuldig, was deine böswilligen Anschuldigungen betrifft. Gänzlich unschuldig. Meine Gefühle Caleb gegenüber sind nichts Ungewöhnliches, und deine Behauptungen, was mein Benehmen angeht, haltlos und lächerlich.« Da ich ihm die Wahrheit über meine Gefühle nicht sagen konnte – nämlich dass ich Caleb wie den Bruder liebte, der er, Makepeace, mir nie gewesen war –, kehrte ich ihm einfach den Rücken und band Speckle los. Meine Handgelenke zitterten vor Wut, und meine Hand bebte, als sie sich am Knoten zu schaffen machte. Während ich mich damit abmühte, ihn zu lösen, senkte ich meine Stimme und fuhr fort, ohne ihm ins Gesicht zu schauen.
»Du weißt sehr wohl, dass du es niemals gewagt hättest, so mit mir zu sprechen, wäre Vater noch da, um dich in die Schranken zu weisen. Jetzt plusterst du dich auf wie ein Gockel im Hühnerhof und denkst, du könntest mich einfach so beleidigen und verleumden, ohne dass das Folgen hat. Muss ich dich daran erinnern, dass ich Großvaters Mündel bin? Nein, du nicht. Wenn du von dem überzeugt bist, was du da sagst, dann geh zu Großvater und erstatte ihm Bericht. Mal sehen, ob du das wagst.« Ich stellte meinen Stiefel in den Steigbügel. Makepeace streckte eine Hand aus, doch ich schlug sie weg. Einen Moment lang sah ich noch seine erschrockene Miene, als ich mich in den Sattel schwang, meine Röcke raffte und mich vorbeugte. Dann hieb ich der Stute die Fersen in die Flanken. Speckle schoss mit einem solchen Satz vorwärts, dass Makepeace eine ordentliche Portion Staub zu schlucken bekam.
Er brauchte lange, um zu Fuß nach Hause zu gehen. Ich erwartete eine Gardinenpredigt von ihm, wenn nicht gar eine Tracht Prügel. Doch alles, was er sagte, war: »Verlass dich darauf, dass Großvater davon hören wird, wenn dich jemand auf diese unschickliche, männliche Art reiten sah.« Ich legte eisiges Schweigen an den Tag, richtete ihm das Essen her und nahm mein eigenes Brot mit hinaus in den Garten. Als ich später zu Bett ging, wünschte ich ihm keine gute Nacht, und am nächsten Morgen stand ich früh auf, zündete das Feuer an und setzte einen Kessel Wasser auf. Dann machte ich mich auf den Weg aufs Feld und ließ ihn sein Frühstück allein verzehren.