Hassler
Er überquerte den Fluss an der Ostseite der Stadt, und als er am anderen Ufer wieder aus dem Wasser taumelte, waren seine Beine steif geworden.
Auf allen vieren kroch er zwischen den Pinien hindurch, die an dem steiler werdenden Hang wuchsen.
Weiter.
Weiter.
Weiter.
Dreißig Meter über der Stadt war das Gelände schon fast vertikal, aber er hielt nicht an, sondern kämpfte sich weiter und immer weiter die Klippe hinauf.
Er kletterte ohne Furcht.
Ohne Sorge.
Er konnte es nicht fassen, dass er tatsächlich die Selbstmordklippe erklomm. In dem Jahr, in dem er mit Theresa in der Stadt gelebt hatte, waren zwei Menschen hier hochgeklettert und in den Tod gesprungen. Es gab noch zahlreiche andere tödliche Optionen in den Klippen, die Wayward Pines umgaben, aber dieser besondere Abgrund war bei Weitem der steilste. Es bestand nicht die Chance, dass man den Sprung versehentlich falsch ausführte und unnötigerweise von einem Vorsprung abprallte. Wenn man bis an die Spitze gelangte, ohne vorher abzustürzen, dann konnte man auf einen ungehinderten Sturz ins Vergessen vertrauen.
Hassler zog sich einhundertfünfzig Meter über dem Tal auf einen langen Sims.
Er brach auf dem kalten Granit zusammen. Sein Kiefer pochte und war vermutlich auch gebrochen.
Es war Nacht, und die Stadt lag dunkel unter ihm.
Seine Hosenbeine waren steifgefroren.
Als es kühler wurde, dachte er über sein Leben nach, und den Frieden, den er mit sich schloss. Als er wieder aufstand, konnte er sich damit rechtfertigen, dass von seinen achtunddreißig Jahren eins magisch gewesen war. Er hatte in einem kanariengelben Haus mit der Liebe seines Lebens gewohnt, und es hatte nicht einen Tag gegeben, an dem er neben Theresa aufwachte und nicht wusste, wie gut es ihm ging.
Er sehnte sich nach mehr Zeit mit ihr, aber immerhin hatte er dieses eine Jahr mit ihr gehabt …
Es war genug.
Genug, um sich daran festzuhalten.
Es dauerte einen Moment, aber dann hatte er ihr Haus in der Dunkelheit gefunden.
Er fixierte den Blick darauf und sah es nicht als das, was es war – ein leeres, dunkles Haus –, sondern so, wie es im sanften Licht an jenen Sommerabenden ausgesehen hatte, wenn er nach Hause gekommen war zu allem, was er liebte.
Er trat an den Rand heran.
Er hatte keine Angst.
Nicht vor dem Tod. Nicht vor den Schmerzen. Er hatte auf seiner Nomadenmission genug Qualen erlitten, dass es für mehrere Lebensspannen reichte, und auf den Tod hatte er sich schon vor sehr langer Zeit vorbereitet. Wenn überhaupt, dann enthielt er für ihn zumindest das Versprechen, Frieden zu finden.
Er beugte seine Knie zum Sprung.
Ein Geräusch riss ihn wie eine Reißleine aus dem Moment.
Er drehte sich um, konnte in der Dunkelheit aber nicht viel erkennen. Dann wurde ihm klar, dass da jemand weinte.
„Hallo?“, sagte er.
Das Weinen hörte auf.
„Wer ist da?“, fragte eine Frauenstimme.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“
„Wäre ich hier oben, wenn es so wäre?“
„Das ist ein gutes Argument. Soll ich zu Ihnen rüberkommen?“
„Nein.“
Hassler machte einen Schritt nach hinten und setzte sich auf den Stein. „Sie sollten das nicht tun“, meinte er.
„Wie bitte? Was zum Teufel wollen Sie denn hier oben? Ich könnte Ihnen genau dasselbe sagen.“
„Ja, nur dass ich tatsächlich hier oben sein sollte.“
„Warum? Weil Ihr Leben auch so schrecklich gewesen ist?“
„Wollen Sie meine traurige Geschichte hören?“
„Nein. Ich wünschte mir nur, ich wäre längst gesprungen. Endlich habe ich den Mut gefunden, hier hochzukommen, und dann bin ich plötzlich nicht alleine. Das ist schon das zweite Mal, dass ich hier oben sitze.“
„Was ist beim ersten Mal passiert?“, wollte Hassler wissen.
„Es war helllichter Tag, und ich habe Höhenangst. Ich habe mich nicht getraut.“
„Warum sind Sie hier oben?“, fragte er.
„Ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie nicht versuchen, mich zu retten.“
„Abgemacht.“
Die Frau seufzte. „Ich habe meinen Mann verloren, als die Abbys in die Stadt kamen.“
„Das tut mir leid. Wurden Sie in Wayward Pines verheiratet?“
„Ja, und ich weiß, was Sie denken, aber ich habe ihn geliebt. Ich habe auch diesen anderen Mann geliebt, der hier ist. Das Verrückte ist, dass wir uns aus unserem früheren Leben kennen. Er ist mit seiner Frau und seinem Sohn hier, und als er zu mir kam, um mir zu sagen, dass mein Mann tot ist, habe ich ihn gefragt, ob seine Familie überlebt hat.“
„Und, hatte sie überlebt?“
„Ja, und wissen Sie was? Da war ein Teil von mir, der größer ist, als ich mir eingestehen möchte, der tatsächlich traurig war, weil sie überlebt hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich vermisse meinen Mann sehr, aber ich denke immer wieder …“
„Wenn seine Frau auch umgekommen wäre, dann könnten Sie beide …“
„Genau. So habe ich nicht nur meinen Mann verloren, sondern kann außerdem nicht mit diesem Mann zusammen sein, den ich liebe, und bin zu allem Überfluss auch noch ein schlechter Mensch.“
Hassler lachte.
„Lachen Sie mich etwa aus?“
„Nein, ich finde es süß, dass Sie denken, das wäre schlimm. Wollen Sie mal was Schlimmes hören?“
„Schießen Sie los.“
„In meinem früheren Leben habe ich eine Frau geliebt, aber sie war mit diesem Kerl verheiratet, der für mich gearbeitet hat. Ich … habe eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, damit ihr Mann von der Bildfläche verschwindet. Ich wusste vor zweitausend Jahren nämlich, dass diese Stadt entstehen soll. Ich habe dafür gesorgt, dass diese Frau von David Pilcher entführt wurde, und dann habe ich mich freiwillig für die Suspension gemeldet, damit ich bei ihr sein kann, wenn sie aufwacht. Wir haben zusammen in Wayward Pines gelebt, und sie hat nie erfahren, dass sie nur wegen mir überhaupt dort war. Nach einem Jahr wurde ich auf eine Mission auf die andere Seite des Zauns geschickt, von der ich nie mehr zurückkehren sollte. Jeden Tag, den ich da draußen war, hat mich der Gedanke an sie aufrecht gehalten, dafür gesorgt, dass ich weiter atme, dass ich einen Fuß vor den anderen setze. Obwohl meine Erfolgsaussichten kaum vorhanden waren, bin ich zurückgekehrt. Ich dachte, ich würde zu ihr zurückkehren und als Held empfangen werden. Stattdessen muss ich herausfinden, dass ihr Mann da ist und dass die Stadt zerstört wurde.“
Unten in der Dunkelheit sammelten sich winzige Punkte aus Fackellicht auf der Main Street.
Hassler beobachtet sie und sagt: „Also bin ich hier raufgeklettert, um mir das Leben zu nehmen. Sie haben an schlimme Dinge gedacht, ich habe sie getan. Sehen Sie die Dinge jetzt nicht gleich in einem anderen Licht?“
„Warum sind Sie hier?“, fragte sie.
„Das habe ich Ihnen doch gerade erzählt.“
„Nein, ich meine, weil Sie nicht mit dem leben können, was Sie getan haben, oder weil Sie nicht mit ihr leben können?“
„Weil ich nicht bei ihr sein kann. Ich höre doch nicht einfach auf, sie zu lieben, nur weil ihr Mann da ist. So funktioniert das menschliche Herz nun mal nicht. Ich kann meine Gefühle nicht einfach amputieren. Es ist ja nicht so, dass wir noch in einer großen, weiten Welt leben, in der ich einfach in eine andere Stadt oder einen anderen Staat ziehen kann. Es gibt kein alternatives Leben, das da draußen auf mich wartet. Das ist es. Wie viele sind wir jetzt noch? Zweihundertfünfzig Menschen? Ich kann ihr nicht aus dem Weg gehen, und meine Gefühle für sie definieren mich jetzt seit so langer Zeit, dass ich nicht weiß, was ich für ein Mensch wäre, wenn ich sie einfach aufgebe.“
„Das geht mir genauso.“
„Und das Witzige ist, dass ich es nicht über mich bringe, ihren Mann umzubringen, obwohl ich schon so viel Böses getan habe. Gibt es ein schlimmeres Schicksal, als halb böse zu sein?“
Einen Augenblick lang war das einzige Geräusch, das man auf der Klippe hören konnte, das Säuseln des Windes über den Stein.
Schließlich sagte die Frau: „Ich kenne Sie, Adam Hassler.“
„Woher?“
„Ich habe für Sie gearbeitet.“
„Kate?“
„Das Leben ist wirklich seltsam, was?“
„Ich kann Sie jetzt alleine lassen, wenn Sie …“
„Ich verurteile Sie nicht, Adam.“
Er hörte, wie sie aufstand und auf ihn zukam.
Kurz darauf tauchte sie aus der Dunkelheit auf, selbst kaum mehr als ein Schatten, und setzte sich neben ihn, sodass ihrer beider Füße herunterbaumelte.
„Ist Ihre Hose auch gefroren?“, fragte er.
„Ja, und ich frier mir den Hintern ab. Glauben Sie, es hat was zu bedeuten, dass wir beide in derselben Nacht hier raufgeklettert sind, um zu springen?“
„Wie meinen Sie das? Als würde das Universum sagen: ‚Tu es nicht!‘? Können wir uns darauf einigen, dass wir dem Universum am Arsch vorbeigehen und das vermutlich schon immer getan haben?“
Kate sah ihn an. „Es ist mir egal, ob wir zusammen springen oder zusammen runterklettern, aber lassen Sie es uns bitte nicht alleine machen, was es auch ist.“