Ethan
Er folgte Alan durch die Glastüren. Sie gingen über die Treppe in den ersten Stock und durch den Korridor auf Etage zwei.
Als sie sich dem Überwachungsraum näherten, zog Alan eine Schlüsselkarte aus der Tasche.
Er zog sie durch das Lesegerät, und über der Tür leuchtete ein roter Punkt auf.
Alan versuchte es noch einmal, aber wieder mit demselben Ergebnis.
Dann schlug er gegen die Tür.
„Hier ist Alan Spear. Aufmachen.“
Keine Antwort.
Alan trat zurück, feuerte vier Kugeln in das Lesegerät und trat denn mit seinem Kampfstiefel gegen die Mitte der Tür.
Die Tür flog auf.
Ethan ließ Alan vorgehen.
Der Raum war dunkel und wurde nur vom Leuchten der Monitore erhellt.
An der Konsole saß niemand.
Ethan wartete auf der Türschwelle, während Alan zur inneren Tür ging.
Als er es hier mit seiner Schlüsselkarte versuchte, leuchtete es grün.
Die Tür wurde entriegelt.
Alan richtete sein AR-15 in den Raum.
„Sauber“, sagte er.
Ethan kam herein. „Können Sie dieses System bedienen?“
„Ich werde schon herausfinden, wie man die Daten vom Speicherstick abspielt. Geben Sie mal her.“
Sie setzten sich an die Konsole.
Als Alan den Stick anschloss, sah Ethan zu den Monitoren hinauf.
Sie waren bis auf einen alle dunkel.
Die Kamera zeigte den Keller der Schule, wo sich eine große Menschenmenge in einem Klassenzimmer zusammendrängte. In der Mitte des Raums lagen die Verletzten auf behelfsmäßigen Betten, während sich ihre Nachbarn um sie kümmerten und ihre Wunden versorgten. Er hielt Ausschau nach Kate, konnte sie aber nirgends entdecken.
Auf einem anderen Bildschirm erschien auf einmal ein Bild.
Es war eine Weitwinkelaufnahme über ein Feld – der Park am Fluss. Darauf war ein Mann zu sehen, der am Ufer entlanghumpelte.
„Sehen Sie mal, Alan.“
Alan hob den Kopf.
Der Mann auf dem Bildschirm begann zu rennen – in dieser seltsamen, taumelnden Gangart eines Menschen, der verwundet worden war.
Dann rannten drei Abbys von links ins Bild, während der Mann am rechten Bildschirmrand verschwand.
Ein neuer Monitor wurde hell. Der Feed zeigte die Sixth Street, an der Ethan wohnte. Der Mann lief über das Feld und auf die Straße, und die Abbys verfolgten ihn in aufrechter Haltung. Alle vier kamen der Kamera immer näher.
Vor Ethans Haus hatten sie ihn eingeholt und töteten ihn mitten auf der Straße.
In Ethan loderte die Wut auf und ihm wurde übel.
„Ich hatte schon den ganzen Morgen das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt“, sagte Alan.
„Wieso das?“
„Erinnern Sie sich an Mustin, den Wachmann von vorhin? Er ist Scharfschütze. Den ganzen Tag lang hockt er auf einem Berg, sieht auf die Stadt und die Schlucht herab und erschießt alle Abbys, die versuchen, zu uns reinzukommen. Ich habe ihn heute Morgen im Speisesaal gesehen, als er eigentlich auf seinem Posten sein sollte. Er sagte, Pilcher hätte ihn für heute vom Berg abgezogen. Ohne irgendeinen Grund. Der Tag war klar.“
„Sonst hätte Mustin ja mit angesehen, was Pilcher all den unschuldigen Menschen angetan hat.“
„Wann sind sie durch den Zaun durchgebrochen?“, wollte Alan wissen.
„Letzte Nacht. Man hat Ihnen nichts davon erzählt?“
„Kein Sterbenswort.“
Ein weiterer Bildschirm wurde hell.
„Ist das der Speicherchip?“, erkundigte sich Ethan.
„Ja. Haben Sie es schon gesehen?“
„Ja.“
„Und?“
„Ich kann es nicht mehr vergessen.“
Alan spielte das Video ab.
Die Kamera hing in einer Ecke unter der Wand und sah auf die Leichenhalle herab. Darin stand Pilcher. Mit Pam. Und Alyssa. Die junge Frau war mit dicken Lederriemen an den Autopsietisch gefesselt worden.
„Kein Audio?“, fragte Alan.
„Seien Sie froh darüber.“
Alyssa schrie, hob den Kopf vom Tisch und spannte jeden Muskel im Körper an.
Pam kam wieder ins Bild, griff in Alyssas Haare und zerrte ihren Kopf nach unten auf den Metalltisch.
Als Pilcher wieder zu sehen war, legte er ein kleines Messer auf den Tisch und kletterte dann auf Alyssa. Ethan wandte den Blick ab.
Er hatte das Video schon einmal gesehen und wollte die Bilder, die sich in sein Gehirn gebrannt hatten, nicht noch intensivieren.
„Großer Gott“, murmelte Alan.
Er hielt das Video an, schob den Stuhl zurück und stand auf.
„Wo gehen Sie hin?“, fragte Ethan.
„Was denken Sie denn?“ Alan ging zur Tür.
„Warten Sie.“
„Warum?“ Alan drehte sich zu ihm um. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was er gerade gesehen hatte. Seine Miene erinnerte an das nordische Eis und war leer wie der Winterhimmel.
„Die Menschen in der Stadt brauchen Sie jetzt“, beharrte Ethan.
„Ich werde ihn zuerst umbringen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Sie denken nicht nach.“
„Seine eigene Tochter!“
„Er ist am Ende“, meinte Ethan. „Erledigt. Aber er hat Informationen, die wir brauchen werden. Mobilisieren Sie Ihre Männer. Schicken Sie ein Team los, um das Tor zu schließen und den Zaun wieder einzuschalten. Ich werde zu Pilcher gehen.“
„Sie?“
Ethan stand auf. „Ja, genau.“
Alan holte seine Schlüsselkarte aus der Tasche und warf sie auf den Boden. „Dann werden Sie die brauchen.“
Ein Schlüssel fiel daneben.
„Und den auch. Er ist für den Fahrstuhl. Und wo wir schon mal dabei sind …“ Er holte eine Glock aus seinem Schulterholster, hielt sie am Griff fest und reichte sie Ethan. Als der sie entgegennahm, sagte Alan: „Wenn ich Sie das nächste Mal sehe und Sie mir gestehen, dass Sie diesem Stück Scheiße im Eifer des Gefechts eine Kugel in den Bauch geschossen haben, um dann zuzusehen, wie er langsam verblutet, dann werde ich Sie voll und ganz verstehen.“
„Das mit Alyssa tut mir sehr leid.“
Alan verließ den Raum.
Ethan beugte sich vor und hob den Schlüssel und die Plastikkarte auf.
Der Korridor war leer.
Als er die Treppe schon fast erreicht hatte, hörte er es.
Ein Geräusch, das er aus dem Krieg nur allzu gut kannte.
Sie schossen mit der Maschinenkanone, und es klang, als würde jemand eine Trommel schlagen.
Als er auf Etage eins angekommen war, wurden die Geräusche unwirklich. Die Menschen würden jetzt bald ihre Arbeitsplätze und Quartiere verlassen.
Vor einer nicht gekennzeichneten Doppeltür zog er die Karte durch das Lesegerät.
Die Türen öffneten sich.
Er betrat die kleine Fahrstuhlkabine, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn.
Der einzige Knopf begann zu blinken.
Er drückte ihn, die Türen glitten zu, und das Knattern der Maschinenkanone wurde nach und nach leiser.
Ethan holte tief Luft und dachte an seine Familie. Die Angst um sie durchbohrte seinen Magen wie eine spitze Glasscherbe.
Die Türen gingen wieder auf.
Er betrat Pilchers Suite.
Als er an der Küche vorbeikam, hörte er das Zischen von gebratenem Fleisch. Es roch nach Knoblauch, Zwiebeln und Olivenöl, und Koch Tim war offensichtlich bei der Arbeit und bereitete Pilchers Frühstück zu, während die Abbys einbrachen, und tupfte einige Punkte aus einer hellroten Soße mit einem Spritzbeutel auf einen Teller aus feinstem Porzellan.
Während Ethan durch den Flur auf Pilchers Büro zuging, überprüfte er, ob Alans Glock auch geladen war, und stellte erfreut fest, dass sich eine Kugel in der Kammer befand.
Er öffnete die Bürotür, ohne anzuklopfen, und ging hinein.
Pilcher saß auf einem der Ledersofas, von denen man auf die Monitorwand sehen konnte, hatte die Füße auf einen Beistelltisch aus Akazienholz gelegt und hielt eine Fernbedienung in der einen und eine Flasche mit einer braunen Flüssigkeit in der anderen Hand.
Auf der linken Seite der Monitorwand war Wayward Pines zu sehen.
Auf der rechten Bilder der Überwachungskameras in der Superstruktur.
Ethan ging zum Sofa und setzte sich neben Pilcher. Er hätte ihm einfach den Hals brechen können. Ihn totschlagen. Ihn erwürgen. Das Einzige, was ihn davon abhielt, war das Gefühl, dass der Tod dieses Mannes vor allem den Menschen in Wayward Pines gehörte. Das konnte er ihnen nicht wegnehmen. Nicht nach allem, was Pilcher ihnen angetan hatte.
Pilcher sah ihn an, und sein Gesicht war mit tiefen Kratzspuren übersät, die noch bluteten.
„Mit wem haben Sie sich denn angelegt?“, wollte Ethan wissen.
„Ich musste Ted heute Morgen entlassen.“
Ethan standen die Haare zu Berge.
Pilcher roch nach Alkohol. Er trug einen schwarzen Satinbademantel und sah völlig verwirrt aus, als er Ethan die Flasche anbot.
„Nein, danke.“
Auf einem der Bildschirme sah Ethan das grellweiße Mündungsfeuer der Maschinenkanone, die die Abbys im Tunnel niedermähte.
Auf einem anderen: Abbys auf der Main Street, die sich genüsslich an den Opfern der vergangenen Nacht gütlich taten und deren Bäuche sich schon aufblähten.
„Was für ein Ende“, murmelte Pilcher.
„Hier geht überhaupt nichts zu Ende, außer Ihrem Leben.“
„Ich kann es Ihnen nicht verdenken“, sagte Pilcher.
„Mir? Was?“
„Ihren Neid.“
„Worauf sollte ich denn bitteschön neidisch sein?“
„Auf mich natürlich. Wie es sich anfühlt, hinter diesem Schreibtisch zu sitzen. All das erschaffen zu haben.“
„Sie glauben wirklich, es ginge darum? Sie denken, ich würde Ihren Job haben wollen?“
„Mir ist klar, dass Sie denken, Sie würden den Menschen die Wahrheit und die Freiheit geben, aber seien wir ehrlich, Ethan, es gibt auf dieser Welt nichts Besseres als Macht. Die Macht zu töten. Zu verschonen.“ Er deutete auf die Bildschirme. „Leben zu kontrollieren. Sie besser zu machen. Oder schlimmer. Wenn es je einen Gott gegeben hat, dann muss er sich so gefühlt haben. Die Menschen wollen Antworten, die sie nicht verarbeiten können. Die Menschen hassen ihn, während sie die Sicherheit genießen, die er ihnen bietet. Ich glaube, ich habe endlich verstanden, warum Gott fortgegangen ist und die Welt sich selbst überlassen hat, damit sie sich zerstören kann.“ Pilcher lächelte. „Und das werden Sie eines Tages tun, Ethan. Nachdem Sie eine Weile hinter diesem Schreibtisch gesessen haben. Sie werden begreifen, dass die Menschen im Tal nicht so sind wie Sie und ich. Sie können nicht mit dem umgehen, was Sie ihnen letzte Nacht erzählt haben. Sie werden es schon sehen.
„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. In jedem Fall haben sie es verdient, die Wahrheit zu kennen.“
„Ich behaupte ja nicht, dass es perfekt gewesen wäre. Oder fair. Aber bevor Sie hergekommen sind, hat es funktioniert, Ethan. Ich habe diese Menschen beschützt, und sie haben ein Leben geführt, dass dem normalen Leben, das sie sich erhoffen konnten, sehr nahe war. Ich habe ihnen eine wunderschöne Stadt gegeben und die Möglichkeit, darauf zu vertrauen, dass alles so war, wie es sein sollte.“
Pilcher trank direkt aus der Flasche.
„Ihr größter Fehler ist, dass Sie dem falschen Eindruck aufgesessen sind, die Leute würden Sie mögen, Ethan. Dass sie Ihren Mut, Ihre Furchtlosigkeit und Ihren Willen besitzen würden. Wir beide sind Ausnahmen und aus demselben Holz geschnitzt. Selbst meine Leute im Berg kämpfen mit der Angst. Aber wir beide nicht. Wir kennen die Wahrheit. Wir fürchten uns nicht davor, ihr in die Augen zu sehen. Der einzige Unterschied ist, dass ich mir dieser Tatsache bewusst bin, während Sie es erst langsam, auf die schmerzhafte Weise und für den Preis vieler Menschenleben lernen müssen. Aber Sie werden sich eines Tages an diese Unterhaltung erinnern, Ethan. Dann werden Sie verstehen, warum ich das alles getan habe.“
„Ich werde nie verstehen, warum Sie den Zaun deaktiviert haben. Warum Sie Ihre eigene Tochter ermordet haben.“
„Wenn Sie lange genug herrschen, dann werden Sie es verstehen.“
„Ich habe nicht vor zu herrschen.“
„Ach nein?“ Pilcher lachte. „Was denken Sie, was das da unten ist? Plymouth Rock? Wollen Sie eine Verfassung schreiben? Eine Demokratie ins Leben rufen? Die Welt auf der anderen Seite des Zauns ist zu grausam, zu feindselig. Diese Stadt braucht einen starken Mann, der sie anführt.“
„Warum haben Sie den Zaun abgeschaltet, David?“
Der alte Mann nippte an seinem Whisky.
„Ohne mich würde es unsere Spezies auf dieser Welt nicht mehr geben. Wir sind ganz allein wegen mir hier. Dank meines Geldes. Meiner Brillanz. Meiner Vision. Ich habe ihnen alles gegeben.“
„Warum haben Sie es getan?“
„Man könnte durchaus behaupten, dass ich sie erschaffen habe. Ebenso wie Sie. Und Sie besitzen die Dreistigkeit, mich zu fragen …“
„Warum?“
Auf einmal brannte in Pilchers Augen sein ungezügelter Zorn.
„Wo waren diese Leute denn, als ich entdeckt habe, dass das menschliche Genom sich zersetzt? Dass die Menschheit innerhalb weniger Generationen aussterben würde? Als ich eintausend Suspensionseinheiten gebaut habe? Als ich einen Tunnel ins Herz eines Berges gebohrt habe und eine fünfhunderttausend Quadratmeter große Arche mit genug Lebensmitteln ausgestattet habe, um die letzte Stadt auf Erden wieder aufzubauen? Und wo wir gerade dabei sind: Wo zum Teufel sind Sie damals gewesen, Ethan?“
Pilchers ganzer Körper bebte vor Zorn.
„Waren Sie an dem Tag dabei, als ich aus der suspensierten Animation aufgewacht und mit meiner Crew nach draußen gegangen bin, nur um festzustellen, dass die Abbys die Welt übernommen hatten? Waren Sie da, als ich über die Main Street ging und meinen Arbeitern dabei zusah, wie sie die Häuser bauten? Jede Straße gepflastert haben? An dem Morgen, an dem ich den Leiter der Suspensionsabteilung in mein Büro gerufen und angewiesen habe, Sie zu wecken, damit Sie wieder bei Ihrer Frau und Ihrem Sohn sein können? Ich habe Ihnen dieses Leben gegeben, Ethan. Ihnen und jedem anderen in diesem Tal. Jedem in diesem Berg.“
„Warum?“
„Weil ich es konnte“, knurrte Pilcher. „Weil ich ihr verdammter Schöpfer bin und Schöpfungen denjenigen, der sie geschaffen hat, nicht infrage zu stellen haben. Denjenigen, der ihnen die Luft zum Atmen gibt. Und der sie ihnen jederzeit wieder wegnehmen kann.“
Ethan sah zu den Monitoren hinüber. Darauf war das Chaos in der Höhle zu sehen. Die Maschinenkanone war leer, und die Wachen fielen mit ihren AR-15 immer weiter zurück, während die Monster näherkamen.
„Ich hätte Sie nicht einmal hier rauflassen müssen. Ich hätte den Fahrstuhl absperren können. Was haben Sie jetzt mit mir vor?“, fragte Pilcher leise.
„Das haben die Menschen zu entscheiden, die Sie ermorden wollten.
Pilcher stiegen die Tränen in die Augen.
Als könnte er sich selbst einen Augenblick lang klar und deutlich sehen.
Er drehte sich zu seinem Schreibtisch um.
Sah zur Monitorwand hinauf.
Seine Stimme wurde emotional und rau.
„Es ist mir entglitten“, sagte er und blinzelte, und dann war die Härte in die kleinen, schwarzen Augen zurückgekehrt, als wäre Wasser zugefroren.
Pilcher ging mit einem Jagdmesser mit kurzer Klinge auf Ethan los und versuchte, es in Ethans Bauch zu bohren.
Ethan wehrte Pilchers Hand ab, und die Klinge streifte nur seine Seite.
Dann stand er auf und setzte einen so heftigen linken Haken an, dass Pilchers Kopf herumgerissen wurde und sein Wangenknochen brach. Durch die Wucht stürzte Pilcher zu Boden, und sein Kopf schlug gegen die Tischkante.
Dann lag Pilcher zitternd auf dem Rücken, das Messer rutschte ihm aus der Hand und fiel klappernd zu Boden.