Harold Ballinger

 

Die Menschen im hinteren Teil schrien als Erste.

Schreie in der Dunkelheit.

Menschliche.

Und unmenschliche.

„… Lauf, lauf, lauf, lauf …“

„… Oh Gott, sie sind hier …“

„… helft mir …“

„… Nein, nein, nein, neiiiiiin …“

Die Menschenkette wogt, und einige Leute fallen ins Wasser.

Weitere Hilferufe.

Dann Schmerzensschreie.

Alles ging so verdammt schnell.

Harold wirbelte herum und wollte schon nach hinten laufen, aber das war nicht möglich. Alle Fackeln waren erloschen. Da war nichts als Dunkelheit und Schreie, eine Explosion aus Lärm, die von den Wänden des Abwasserkanals widerhallte – und er konnte nur noch denken, dass sich so die Hölle anhören musste.

In einem angrenzenden Tunnel hörte er Schüsse.

Kate?

Tiffany Golden schrie seinen Namen. Sie schrie ihn und alle anderen an, sie sollten sich in Bewegung setzen. Sich beeilen. Nicht einfach nur dastehen.

Sie stand zehn Meter vor ihm im Tunnel und hielt die letzte brennende Fackel in der Hand.

Menschen drängten sich an Harold vorbei.

Eine Schulter drückte ihn gegen die Wand aus zerbröckelndem Beton.

Die Schreie der Sterbenden kamen näher.

Harold rannte los, eingezwängt zwischen zwei Frauen, deren Ellenbogen sich in seine Seite drückten, während sie alle auf das schwächer werdende Licht zuliefen.

Seiner Meinung nach konnte es nicht mehr weit sein. In drei-bis vierhundert Metern endete der Tunnel und sie gelangten in den Wald.

Wenn sie es nach draußen schafften, wenigstens die Hälfte von ihnen …

Die Fackel in der Ferne ging aus und jemand schrie etwas.

Augenblicklich wurde es stockdunkel um sie herum.

Harold konnte die Panik spüren, die in der Luft lag.

Seine eigene gehörte auch dazu.

Er wurde umgeworfen und fiel ins Wasser. Füße trampelten über seine Beine, dann seinen Körper. Als er versuchte, wieder aufzustehen, wurde er erneut zu Boden gedrückt und die Menschen krochen über ihn hinweg, als wäre er ein Hindernis. Irgendjemand trat auf seinen Kopf.

Schließlich rollte er sich zur Seite und aus dem Weg und rappelte sich auf.

Etwas schoss in der Dunkelheit an ihm vorbei.

Es stank nach Verwesung.

In einigen Metern Entfernung schrie ein Mann um Hilfe, und Harold hörte Knochen und Knorpel brechen.

Harold konnte es einfach nicht fassen, was hier geschah, und er wurde immer mutloser.

Eigentlich sollte er verschwinden.

Einfach wegrennen.

Der arme Kerl neben ihm verstummte, und jetzt war nur noch das fressende Monster zu hören.

Wie konnte das alles nur möglich sein?

Ein stinkender Atemzug strich ihm über das Gesicht.

Nur wenige Zentimeter von ihm entfernt hörte er ein dumpfes Knurren.

„Tu das nicht“, flehte Harold.

Auf einmal fühlte sich seine Kehle heiß an. Seine Brust wurde feucht und warm. Er konnte noch atmen, und er spürte keine Schmerzen, aber ihm rann unglaublich viel Blut aus der Wunde an seiner Kehle.

Schon jetzt wurde ihm schwindlig.

Harold sackte in das eiskalte Wasser, während ihm die Bestie mit einem schnellen Schlag den Bauch aufschlitzte.

Er spürte nur einen fernen, dumpfen Schmerz, als der Abby zu fressen begann.

Um ihn herum waren die Schreie und das Stöhnen der Sterbenden und Verängstigten zu hören.

Noch immer rannten Menschen in der Dunkelheit an ihm vorbei und versuchten verzweifelt, sich in Sicherheit zu bringen.

Er gab kein Geräusch von sich.

Er wehrte sich auch nicht.

Er war wie gelähmt durch den Schock, den Blutverlust, das Trauma, die Angst.

Dabei konnte er nicht fassen, dass ihm das wirklich passierte.

Das Vieh fraß ihn mit der Gier einer Kreatur, die seit Tagen gehungert hatte, und drückte seine Beine mit den Klauen zu Boden, während die vorderen Krallen Harolds Arme auf dem Beton festnagelten.

Und noch immer spürte er keinen nennenswerten Schmerz.

Er vermutete, dass er einer der Glücklichen war.

Er würde tot sein, bevor der Schmerz richtig zuschlug.