Ethan
Ethan fuhr mit dem Fahrstuhl von Pilchers Suite in die erste Etage hinunter. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, konnte er noch immer Schüsse hören, die allerdings weiter weg zu sein schienen.
Er ging zur Glastür am anderen Ende des Flurs, und zog die Pistole, die Alan ihm gegeben hatte, als er über die Türschwelle in die Arche ging.
Offenbar war der Großteil von Pilchers innerem Kreis hier runtergekommen, um nachzusehen, was das für ein Tumult war, da hier wenigstens einhundert Menschen mit verwirrter, ängstlicher Miene herumliefen.
Hier waren die Schüsse lauter, und sie kamen tief aus dem Tunnel, der durch den Berg nach Wayward Pines führte.
Überall lagen tote Abbys herum.
Mehrere Haufen im Tunnel.
Vierzig oder fünfzig in der Höhle.
Das Blut floss in Strömen über den Stein.
Fünf mit Laken bedeckte Leichen lagen neben dem Eingang zur Suspension in einer Reihe nebeneinander.
Der Geruch nach Schießpulver war kaum auszuhalten.
Alan kam aus dem Tunnel gelaufen.
Ethan bahnte sich durch die Menge einen Weg in seine Richtung und sah, dass Alans Gesicht voller Blut war und sein rechter Arm vermutlich von einer Kralle aufgerissen worden war.
Das Knattern eines AR-15 hallte durch den Tunnel.
Gefolgt von einem Schrei.
„Wir drängen sie zurück“, berichtete Alan, „aber es müssen an die zweihundert Abbys sein. Ich habe einige Leute verloren. Die Munition für die M230 ist alle. Ohne die Maschinenkanone wäre alles noch viel schlimmer gewesen. Wo ist Pilcher?“
„Er liegt gefesselt und bewusstlos in seinem Büro.“
„Ich werde jemanden nach oben schicken.“ Alans Funkgerät piepte. „Alan. Over“, meldete er sich.
Mustins Stimme kam aus dem Lautsprecher, der schreien musste, weil um ihn herum geschossen wurde. „Wir haben die letzte Gruppe aus dem Tunnel getrieben, aber die Tür wurde zerstört. Over.“
„Ich habe bereits einen Wagen mit Blechen aus verstärktem Metall und drei Metallarbeiter zu ihnen geschickt. Sie werden die Tür zuschweißen. Over“, sagte Alan.
„Verstanden, wir halten die Stellung! Over.“
„Sie können den Eingang nicht versiegeln“, warf Ethan ein. „Wir müssen die Leute ins Tal bringen. Meine Frau und mein Sohn sind da unten!“
„Das werden wir auch, aber wir müssen uns neu formieren und nachladen. Ich weiß von acht Männern, die ich verloren habe. Wenn wir mit voller Schlagkraft nach Wayward Pines ausrücken wollen, dann sollten wir alle Waffen aus unserem Arsenal mitnehmen. Und wir müssen mehr Munition für die Maschinenkanone finden.“ Er machte ein ernstes Gesicht, als er hinzufügte: „Und wir können da nicht mitten in der Nacht rausfahren.“
„Wie bitte?“
„Es ist bereits Abend. Es wird längst dunkel geworden sein, bis wir aufbruchbereit sind. Wir fahren morgen früh bei Tagesanbruch los.“
„Morgen?“
„Wir sind nicht für einen Kampf bei Nacht ausgerüstet.“
„Denken Sie denn, die unbewaffneten Menschen im Tal wären es? Meine Frau und mein Sohn …“
„Im Dunkeln werden wir nur abgeschlachtet, und das wissen Sie genauso gut wie ich. Dadurch würden wir nur die einzige Chance verspielen, die wir haben, um diese Leute zu retten.“
„Verdammt!“
„Sie können mir glauben, dass ich auch am liebsten sofort mit gezückten Waffen in die Stadt fahren würde.“
Ethan ging auf den Tunnel zu.
„Wo wollen Sie denn hin?“, rief Alan ihm nach.
„Meine Familie suchen.“
„Wenn Sie da nachts alleine rausgehen, dann werden Sie nur gefressen. Da draußen sind Hunderte von diesen Kreaturen.“
Ethan, der schon zwei Schritte in den Tunnel gemacht hatte, blieb stehen.
„Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Sie sich fühlen“, sagte Alan. „Wenn das meine Familie da draußen wäre, dann könnten Sie mich auch nicht zurückhalten. Aber Sie sind klüger als ich, Ethan. Und Ihnen muss doch klar sein, dass Sie weder Ihre Familie noch sonst jemanden retten, wen Sie heute Nacht auf einer Selbstmordmission ums Leben kommen.“
Verdammt.
Er hatte recht.
Ethan drehte sich um und stieß einen frustrierten Seufzer aus.
„Dann müssen die Einwohner von Wayward Pines also noch eine Nacht ohne Licht, ohne Wärme, ohne Essen und ohne Wasser verbringen und sich ihr Tal mit einem Rudel Abbys teilen.“
Alan kam auf ihn zu.
Weit entfernt im Tunnel waren wieder Schüsse zu hören.
„Hoffentlich haben diejenigen, die die erste Invasionswelle überlebt haben, ein sicheres Versteck gefunden“, meinte Alan. „Wo ist Ihre Familie?“
„Ich habe sie in einer Höhle hinter einer verschlossenen Tür mitten in den Bergen zurückgelassen.“
„Dann ist sie in Sicherheit.“
„Das weiß ich nicht. Eine Gruppe hat sich in der Schule verschanzt“, berichtete Ethan. „Unten im Keller. Achtzig oder neunzig Personen. Was ist, wenn wir …“
„Das ist zu riskant, und das wissen Sie.“
Ethan nickte. „Was ist mit dem Tor im Zaun? Steht es noch immer offen, sodass weitere tausend oder dreißigtausend Abbys einfach ins Tal eindringen können, wenn ihnen danach ist?“
„Ich habe den leitenden Techniker darauf angesetzt. Er sagt, wir können den Zaun nicht von hier aus wieder einschalten.“
„Warum nicht?“
„Offenbar hat Pilcher das interne System sabotiert. Der einzige Weg, um den Zaun wieder zu aktivieren und das Tor zu schließen, ist eine manuelle Überbrückung.“
„Lassen Sie mich raten …“
„Direkt am Tor. Es würde doch keinen Spaß machen, wenn es ganz einfach wäre, oder?“
„Ich würde vorschlagen, dass wir jemanden dorthin schicken“, entgegnete Ethan. „Und zwar sofort.“
„An der Südseite des Berges gibt es einen geheimen Eingang. Von dort aus sind es nur vierhundert Meter bis zum Zaun.“
„Schicken Sie einen Techniker und ein paar Wachen hin.“
„Okay, aber während ich das tue …“ Alan sah über die Schulter zu der Menschenmenge, die sich in der Arche versammelt hatte. „Sie wissen noch gar nichts. Sie haben bloß die Schüsse gehört und sind hergekommen, weil sie wissen wollten, was los ist.“
„Ich werde mit ihnen reden“, versprach Ethan.
Er ging auf die Leute zu.
„Seien Sie nicht zu hart zu ihnen!“, rief Alan ihm hinterher.
„Wieso nicht?“
„Weil dies das einzige Leben ist, das sie kennen, und Sie werden es gleich in tausend Stücke zerspringen lassen.“