Pilcher

 

Die Stadt Wayward Pines war völlig zerstört, Gebäude lagen auf dem Kopf, Autos in der Gegend herum und Straßen waren zerbrochen. Selbst das Krankenhaus war ruiniert, da die oberen drei Stockwerke weggefegt worden waren. Ethans Haus hatte es am schlimmsten erwischt: Es war zertrümmert, die Espen im Garten waren in der Mitte durchgebrochen und durch die Fenster gestürzt.

Diese Miniaturversion von Wayward Pines hatte David Pilcher 2010 in Auftrag gegeben. Er hatte keine Kosten und Mühen gescheut, sondern ein sehr detailgetreues Modell verlangt, das letzten Endes fünfunddreißigtausend Dollar gekostet hatte. Seit zweitausend Jahren hatte es als das Herzstück seines Büros unter Glas gestanden, um nicht nur der Stadt, sondern auch seinen grenzenlosen Ambitionen Anerkennung zu zollen.

Es hatte fünfzehn Sekunden gedauert, es zu zerstören.

Jetzt saß er auf einem Ledersofa und sah auf der Monitorwand mit an, wie die echte Stadt ebenso zerstört wurde.

Er hatte die Stromversorgung für das ganze Tal unterbrochen, aber die Überwachungskameras liefen mit Batterien und verfügten über einen Nachtsichtmodus. Auf den Bildschirmen sah er, was die Kameras einfingen, und die befanden sich in jedem Zimmer jedes Hauses. In jedem Geschäft. In den Büschen. Verborgen in Straßenlaternen. Sie wurden von den Mikrochips aktiviert, die jedem Einwohner von Wayward Pines implantiert worden waren, und in dieser Nacht geschah das ohne Unterlass.

Fast jeder Monitor leuchtete auf.

Auf einem Bildschirm: ein Abby, der eine Frau eine Treppe hinaufjagt.

Auf einem anderen: drei Abbys, die einen Mann mitten in einer Küche in Stücke reißen.

Eine Menschenmenge, die mitten auf der Main Street um ihr Leben rennt und vor dem Süßwarengeschäft von den Abbys eingeholt wird.

Ein Abby, der Belinda Moran in ihrem Fernsehsessel auffrisst.

Familien, die durch Flure laufen.

Eltern, die versuchen, ihre Kinder vor einem schrecklichen Ende zu bewahren, das sie doch nicht aufhalten können.

So viele Darstellungen von Leid, Schrecken und Verzweiflung.

Pilcher trank einen Schluck aus einer Flasche Scotch aus dem Jahr 1925, die er gerade geöffnet hatte, und versuchte, sich darüber klar zu werden, was er von alldem hielt. Natürlich gab es längst einen Präzedenzfall. Wenn Gottes Kinder rebellierten, dann musste Gott sie bestrafen.

Eine sanfte Stimme, die er seit Langem zu ignorieren gelernt hatte, flüsterte durch den in seinem Kopf tobenden Wahnsinn hindurch: „Hältst du dich wirklich für ihren Gott?“

Sorgte Gott für seine Kinder?

Ja.

Beschützte er sie?

Ja,

Erschuf Gott?

Ja.

Schlussfolgerung?

Er war Gott.

Die Sinnsuche war einer der Eckpfeiler der menschlichen Existenz, und Pilcher hatte diese Sorge beseitigt. Er hatte den vierhunderteinundsechzig Seelen in diesem Tal eine Existenz verschafft, die sie sich nie hätten erträumen können. Er hatte ihnen ein Leben und einen Zweck gegeben, für Unterkunft und Komfort gesorgt. Sie waren allein aus dem Grund ausgewählt worden, weil sie die wichtigsten Mitglieder ihrer Spezies waren, seit der Homo sapiens vor zweihunderttausend Jahren in den Savannen Ostafrikas begonnen hatte, aufrecht zu gehen.

Und sie hatten sich diese Bestrafung selbst zuzuschreiben. Sie hatten alles wissen wollen, auch das, was sie nur schwer verkraften konnten. Und als sie von Ethan Burke mit der Wahrheit konfrontiert worden waren, hatten sie gegen ihren Schöpfer rebelliert.

Dennoch tat es ihm weh, ihren Tod auf den Monitoren mit anzusehen.

Er hatte ihr Leben geschätzt. Ohne Menschen war dieses Projekt bedeutungslos geworden.

Aber dennoch … Scheiß auf sie. Sollten die Abbys sie doch alle haben.

Er hatte noch ein paar hundert weitere Menschen in der Suspension. Das wäre nicht das erste Mal, dass er von vorne anfangen musste, und seine Leute im Berg würden ihn bei allem unterstützen, ohne Fragen zu stellen, da sie ihm absolut treu ergeben waren. Sie waren seine Armee aus Engeln.

Pilcher stand auf und ging auf wackligen Beinen schwankend zu seinem Schreibtisch. In der Superstruktur wusste außer ihm niemand, was im Tal geschah. Er hatte Ted angewiesen, die genaue Überwachung in dieser Nacht auszusetzen. Die Enthüllung von dem, was er getan hatte, musste gut überlegt erfolgen.

Dann sackte Pilcher auf seinem Stuhl zusammen, nahm den Telefonhörer ab und rief den guten, alten Ted an.