Sheriff Ethan Burke

 

Ethan starrte die siebeneinhalb Meter hohen Stahlmasten und Kabel an, die mit Stacheldraht umwickelt waren. Normalerweise summte der Zaun, da genug Energie hindurchfloss, um einem Menschen einen tausendfach tödlichen Stromstoß zu versetzen. Er war so laut, dass man ihn schon aus hundert Metern Entfernung hören konnte und ein Vibrieren im Bauch spürte, wenn man näher kam.

Doch heute Abend hörte Ethan nichts.

Noch schlimmer war allerdings, dass das neun Meter breite Tor offen stand.

Es war aufgeschlossen worden.

Nebelbänke krochen als Vorboten eines nahenden Sturms an ihm vorbei, und Ethan sah hinaus in die schwarzen Wälder jenseits des Zauns. Über das Pochen seines Herzens hinweg hörte er Schreie, die durch den Wald hallten.

Die Abbys waren unterwegs.

David Pilchers letzte Worte schossen ihm immer wieder durch den Kopf.

Die Hölle wird zu Ihnen kommen.

Das alles war Ethans Schuld.

Die Hölle wird zu Ihnen kommen.

Er hatte den Fehler begangen, den Bluff dieses Psychopathen auffliegen zu lassen.

Die Hölle wird zu Ihnen kommen.

Und den Menschen die Wahrheit zu sagen.

Und jetzt musste jeder in der Stadt, auch seine Frau und sein Sohn, sterben.

 

Ethan rannte zurück durch den Wald, und seine Panik wuchs mit jedem Schritt, mit jedem verzweifelten Atemzug. Er rannte neben dem lautlosen Zaun her zwischen den Bäumen hindurch.

Sein Bronco stand nicht weit entfernt, und schon jetzt wurden die Schreie lauter und kamen näher.

Er setzte sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und raste in den Wald, wobei er die Aufhängung an ihre Grenzen brachte und die letzten Glassplitter, die noch von der Windschutzscheibe übrig waren, herausbrach.

Kurz darauf hatte er die Straße erreicht, die zurück in die Stadt führte, und raste über den Standstreifen und auf den Asphalt.

Er trat das Gaspedal ganz durch.

Der Motor jaulte.

Dann kam er aus dem Wald und fuhr an einer Weide entlang.

Die Scheinwerfer fielen auf ein Schild am Stadtrand, auf dem eine vierköpfige Familie zu sehen war, die grinste und aussah wie aus den 1950er-Jahren. Darunter stand:

WILLKOMMEN IN WAYWARD PINES

WO DAS PARADIES ZU HAUSE IST

 

„Nicht mehr“, dachte Ethan.

Wenn sie Glück hatten, kamen die Abbys zuerst zur Molkerei und schlachteten das Vieh ab, bevor sie über die Stadt herfielen.

Da war sie.

Direkt voraus.

Die Stadt Wayward Pines.

An einem klaren Tag sah sie perfekt aus. Ordentliche Blöcke mit bunten viktorianischen Häusern. Weiße Lattenzäune. Saftiges grünes Gras. Die Maine Street hätte auch dafür errichtet worden sein können, dass Touristen auf ihr flanierten und davon träumten, hier im Alter ein schönes Leben zu führen. Ein ruhiges Leben. Die Berghänge, die die Stadt umgaben, versprachen Schutz und Sicherheit. Auf den ersten Blick sah nichts danach aus, als wäre das hier ein Ort, den man nicht verlassen konnte, ein Ort, an dem man allein für den Versuch sterben musste.

Doch heute Abend war das anders.

An diesem Abend lagen die Häuser und anderen Gebäude in unheilvoller Dunkelheit da.

Ethan bog auf die Tenth Avenue ein und raste an sieben Blocks entlang, bevor er das Lenkrad so hart herumriss, um auf die Main Street zu fahren, dass die Reifen auf der linken Seite des Wagens vom Boden abhoben.

Direkt vor ihm an der Kreuzung Main und Eight standen die meisten Stadtbewohner noch so, wie er sie verlassen hatte, vor dem Theater. Über vierhundert Seelen warteten in der Dunkelheit, als wären sie alle gleichzeitig rausgeworfen worden, und trugen noch immer ihre lächerlichen Kostüme, die sie für das Fest angezogen hatten.

Ethan stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen.

Es war irgendwie unheimlich, die Main Street im Dunkeln zu sehen, deren Schaufenster nur vom Licht der Fackeln erhellt wurde.

Da war das Steaming Bean.

Wooden Treasures, der Laden, in dem Kate und Harold Ballinger Spielzeug verkauften.

Richardsons Bäckerei.

Der Biergarten.

Das Süßwarengeschäft Sweet Tooth.

Das Immobilienbüro von Wayward Pines, in dem Ethans Frau Theresa arbeitete.

Die Menschenmenge machte einen unfassbaren Lärm.

Nach und nach hatten die Menschen die Fassungslosigkeit und den Schreck, die sie nach Ethans Entschluss, ihnen die Wahrheit über Wayward Pines zu sagen, befallen hatte, überwunden. Nun sprachen sie miteinander, und für viele stellte es das erste richtige Gespräch dar, das sie hier miteinander führten.

Kate Ballinger kam zu Ethan geeilt. Sie und ihr Mann Harold hatten an diesem Abend beim Fest auf dem Henkersblock gestanden, und seine Enthüllung hatte ihnen vorerst das Leben gerettet. Jemand hatte die Wunde über ihrem linken Auge schnell genäht, aber ihr Gesicht war noch immer blutüberströmt, ebenso wie ihr vorzeitig ergrautes Haar. Kates Verschwinden in Wayward Pines hatte Ethan vor zweitausend Jahren überhaupt erst in diese Stadt geführt. In einem anderen Leben hatten sie zusammen beim Secret Service gearbeitet. Sie waren Partner gewesen und für sehr kurze Zeit sogar mehr als das.

Ethan nahm Kates Arm und führte sie hinter den Bronco, wo die anderen sie nicht mehr hören konnten. Kate wäre an diesem Abend beinahe ums Leben gekommen, und als Ethan ihr jetzt in die Augen sah, wurde ihm klar, dass sie sich nur noch mit Mühe und Not zusammenreißen konnte.

„Pilcher hat den Strom abgestellt“, sagte er.

„Ich weiß.“

„Ich will damit sagen, dass er auch den Strom für den Zaun abgestellt und das Tor geöffnet hat.“

Sie musterte Ethan, als müsse sie erst darüber nachdenken, wie schlecht die Nachricht wirklich war, die sie da gerade gehört hatte.

„Dann werden diese Dinger …“, begann sie. „Diese Abscheulichkeiten …“

„Sie können jetzt einfach in die Stadt eindringen. Und das werden sie auch tun. Ich habe sie am Zaun gehört.“

„Wie viele?“

„Das weiß ich nicht. Aber selbst eine kleine Gruppe wäre schon eine Katastrophe.“

Kate drehte sich zu den anderen um.

Die Gespräche verstummten, und die Leute kamen näher, um die Neuigkeiten zu hören.

„Einige von uns haben Waffen“, meinte sie dann. „Und andere Macheten.“

„Das wird nicht reichen.“

„Kannst du nicht noch mal mit Pilcher reden? Damit er seine Meinung ändert und den Strom wieder anstellt?“

„Dazu ist es viel zu spät.“

„Dann müssen wir alle wieder ins Theater schaffen“, erwiderte sie. „Das Gebäude hat keine Fenster. Es gibt nur einen Ausgang auf jeder Seite der Bühne und die Doppeltür hinein. Wir können uns darin verbarrikadieren.“

„Und was ist, wenn wir tagelang belagert werden? Wir haben da drin nichts zu essen oder zu trinken. Und es gibt auch keine Barrikade, die die Abbys ewig draußen halten wird.“

„Was machen wir dann, Ethan?“

„Ich weiß es nicht, aber wir können die Leute auch nicht einfach nach Hause schicken.“

„Einige sind bereits gegangen.“

„Ich habe allen gesagt, dass sie hier bleiben sollen.“

„Ich habe versucht, sie aufzuhalten.“

„Wie viele sind schon nach Hause gegangen?“

„Fünfzig oder sechzig.“

„Großer Gott.“

Ethan entdeckte Theresa und Ben, seine wundervolle Familie, die durch die Menge auf ihn zukamen.

„Wenn ich irgendwie in die Superstruktur komme, kann ich Pilchers innerem Kreis vielleicht zeigen, wie der Mann wirklich ist, für den sie arbeiten. Dann haben wir möglicherweise noch eine Chance“, sagte er.

„Dann geh, und zwar auf der Stelle.“

„Ich werde meine Familie nicht verlassen. Nicht in dieser Situation und ohne richtigen Plan.“

Theresa hatte sie erreicht. Sie trug ihr langes blondes Haar jetzt als Pferdeschwanz, und Ben und sie hatten dunkle Kleidung an.

Ethan küsste sie und zerzauste Bens Haare. Er konnte den Mann, der aus diesem zwölfjährigen Jungen werden würde, bereits in Bens Augen sehen. Er wurde langsam erwachsen.

„Was hast du rausgefunden?“, wollte Theresa wissen.

„Nichts Gutes.“

„Ich habe eine Idee“, rief Kate auf einmal. „Wir brauchen ein sicheres Versteck, während du in die Superstruktur einbrichst.“

„So ist es.“

„Einen Ort, der gut geschützt ist und sich gut verteidigen lässt. Und an dem es genug Lebensmittel und Wasser gibt.“

„Genau.“

Sie lächelte. „Zufälligerweise kenne ich genau so einen Ort.“

„Die Höhle der Wanderer“, begriff Ethan.

„Ja.“

„Das könnte funktionieren. Ich habe einige Waffen auf dem Revier.“

„Dann hol sie. Nimm Brad Fisher mit.“ Sie deutete auf den Bürgersteig. „Er steht gleich da vorne.“

„Wie sollen wir so viele Leute den Berg hochkriegen?“

„Ich werde sie in Hundertergruppen einteilen“, schlug Kate vor. „Und jede Gruppe wird von jemandem angeführt, der den Weg kennt.“

„Was machen wir mit den Leuten, die nach Hause gegangen sind?“, wollte Theresa wissen.

Doch bevor jemand antworten konnte, erklang aus der Ferne ein einsamer Schrei.

Das Gemurmel der Menschenmenge, das bis eben noch zu hören war, verstummte.

Das Geräusch war aus dem Süden der Stadt gekommen und hatte geklungen wie ein schwaches, bösartiges Stöhnen.

Man spürte förmlich, was es zu bedeuten hatte.

Und es bedeutete, dass die Hölle auf dem Weg zu ihnen war.

„Es wird schon schwer genug, die Leute zu beschützen, die hier geblieben sind.“

„Dann sind sie auf sich allein gestellt?“

„Wir sind jetzt alle auf uns allein gestellt.“

Er ging zur Beifahrerseite des Broncos, griff hinein und nahm das Megafon heraus, das er Kate reichte. „Kümmerst du dich darum?“

Sie nickte.

Ethan sah Theresa an. „Ich möchte, dass du mit Ben bei Kate bleibst.“

„Okay.“

„Ich komme mit dir, Dad“, meinte Ben.

„Du musst bei Mom bleiben.“

„Aber ich kann dir helfen.“

„Und dadurch hilfst du mir auch.“ Ethan wandte sich noch einmal an Kate. „Ich komme zu euch, wenn ich alles geholt habe.“

„Wir treffen uns in dem kleinen Park am Nordende der Stadt.“

„Dem mit dem kleinen Pavillon?“

„Genau.“

Brad Fisher, der einzige Anwalt in Wayward Pines, saß betreten auf dem zerstörten Beifahrersitz von Ethans Bronco und umklammerte den Haltegriff, während Ethan mit knapp einhundert Stundenkilometern über die First Avenue durch die Stadt raste.

Ethan warf ihm einen Blick zu. „Wo ist Ihre Frau?“

„Wir waren zusammen im Theater“, antwortete Brad. „Sie haben uns die nackte Wahrheit an den Kopf geworfen, und als ich mich umgedreht habe, war Megan auf einmal nicht mehr da.“

„Wenn man bedenkt, was sie den Kindern hinter dem Rücken ihrer Eltern beigebracht hat, war sie vermutlich der Ansicht, dass die Leute sie als Verräterin ansehen würden. Wahrscheinlich hatte sie Angst um ihr Leben. Was denken Sie jetzt über sie?“

Die Frage schien Brad zu überraschen. Normalerweise war er immer glatt rasiert und auf Hochglanz poliert und entsprach in jeder Hinsicht dem Bild eines kompetenten jungen Anwalts. Jetzt kratzte er sich über die Bartstoppeln an seinem Kinn.

„Ich weiß es nicht. Ich hatte nie das Gefühl, dass wir einander wirklich gekannt haben. Wir haben zusammengelebt, weil man es uns so gesagt hat. Wir schlafen im selben Bett. Manchmal haben wir sogar miteinander geschlafen.“

„Das klingt so wie bei vielen anderen Ehen auch. Lieben Sie sie?“

Brad seufzte. „Das ist kompliziert. Sie haben übrigens das Richtige gemacht, indem Sie es uns gesagt haben.“

Die Scheinwerfer erhellten das dunkle Büro des Sheriffs.

Ethan steuerte über den Bürgersteig und hielt erst dicht vor dem Eingang an. Dann stieg er aus, schaltete die Taschenlampe ein und ging zusammen mit Brad zur Eingangstür. Ethan schloss auf und stellte die Tür fest, damit sie offenblieb.

„Was nehmen wir mit?“, wollte Brad wissen, als sie durch die Lobby und den Korridor zu Ethans Büro rannten.

„Alles, was schießt.“

Brad hielt die Taschenlampe, während Ethan die Waffen aus dem Schrank holte und die dazu passende Munition heraussuchte.

Er legte eine Mossberg 930 auf den Schreibtisch und lud sie mit acht Patronen.

Vierzig Schuss passten ins Magazin eines Bushmaster AR-15.

Auch seine Desert Eagle wurde erneut geladen.

Da waren noch weitere Schrotflinten.

Und Jagdgewehre.

Glocks.

Eine Sig.

Ein .357er-Smith-and-Wesson-Revolver.

Er lud noch zwei weitere Pistolen, aber das dauerte alles zu lange.