Vor sechshundertachtundsiebzig Tagen

 

Farbenfrohe Algen umringen das Ufer, und Ströme aus mineralhaltigem Wasser schlagen Blasen, wo sie aus der geschmolzenen Unterwelt austreten. Der Geruch nach Schwefel und anderen Mineralien ist stark.

Hassler zieht sich im fallenden Schnee nackt aus und legt seine Kleidung und seine Ausrüstung unter den stinkenden Staubmantel. Dann huscht er durchs Gras, lässt sich in den Teich gleiten und stöhnte vor Wonne auf.

In der Mitte ist das Wasser tief, klar und himmelblau.

Er findet in der Nähe des Ufers eine Stelle, die gerade mal einen halben Meter tief ist, und streckt sich auf einem langen, glatten Stein aus, der leicht abschüssig ist.

Was für eine Wohltat!

Als wäre der Stein genau zu diesem Zweck geschaffen worden.

Er entspannt sich in dem warmen Wasser, während der Schnee um ihn herum zu Boden fällt, und schließt bei diesem kurzen Euphorieausbruch die Augen, da er endlich mal wieder daran erinnert wird, wie es ist, ein Mensch zu sein. In einer zivilisierten Welt voller Komfort und Annehmlichkeiten zu leben, in der man nicht in jedem Augenblick in Lebensgefahr geraten kann.

Aber das Wissen, wo er ist, wer er ist und warum er hier ist, kehrt stets schnell zurück. Eine angespannte Stimme – die ihm in den letzten achthundertirgendwas Tagen in der Wildnis am Leben gehalten hat – flüstert ihm zu, dass es dumm ist, anzuhalten und in diesem Teich zu baden. Egoistisch und tollkühn. Das hier ist kein Spa. Ein Rudel Abbys könnte jederzeit auftauchen.

Normalerweise ist er überaus wachsam, aber dieser Teich gleicht einem Geschenk, und er weiß, dass ihn die Erinnerung an dieses Bad in den kommenden Wochen besänftigen wird. Außerdem sind die Karte und sein Kompass bei einem Schneesturm ohnehin nutzlos. Er wird hier einfach sein Lager aufschlagen, bis sich das Wetter wieder gebessert hat.

Wieder schließt er die Augen und spürt, wie die Schneeflocken auf seine Wimpern fallen.

In der Ferne hört er ein Geräusch, das klingt, als würde Wasser aus dem Atemloch eines Wals rausgepustet – einer der kleineren Geysire ist ausgebrochen.

Er ist selber überrascht, dass er lächelt.

Diesen Ort hat er zum ersten Mal auf verblassten Farbfotos in der Encyclopedia Britannica im Keller seiner Eltern gesehen, auf denen eine Menschenmenge in den 1960er Jahren von einem Steg aus zusah, wie „Old Faithful“ kochendes Wasser in die Luft spie.

Seit er ein kleiner Junge war, träumte er davon, einmal hierher zu kommen. Aber er hätte sich nie vorstellen können, dass sein erster Besuch in Yellowstone unter diesen Umständen stattfinden würde.

Zweitausend Jahre später, wenn die ganze Welt vor die Hunde gegangen war.

 

Hassler nimmt eine Handvoll Kieselsteine und reibt sich den Dreck und den Schmutz von der Haut, die seine Haut wie eine Rüstung bedecken. In der Mitte des Teichs, wo ihm das Wasser bis über den Kopf geht, taucht er ganz unter.

Er wäscht sich zum ersten Mal seit Monaten, und danach steigt er aus dem Wasser und setzt sich auf das gefrorene Gras, um sich abzukühlen.

Von seinen Schultern steigt Dampf auf.

Die Hitze hat ihn ein wenig benommen gemacht.

Auf der anderen Seite der Lichtung stehen Nadelbäume wie geisterhafte Kreaturen, die durch den Dampf und den Schnee kaum zu erkennen sind.

Und dann …

Beginnt etwas, das er als Busch eingestuft hat, zu kriechen.

Hasslers Herz bleibt beinahe stehen.

Er richtet sich auf und kneift die Augen zu.

Zwar kann er nicht genau bestimmen, wie weit es entfernt ist, aber es können keine hundert Meter sein. Man könnte es aus dieser Entfernung glatt für einen Menschen halten, der sich auf allen vieren vorwärts bewegt, allerdings gibt es auf der Welt keine Menschen mehr. Zumindest nicht außerhalb des elektrischen, mit Stacheldraht gesicherten Zauns, der die Stadt Wayward Pines umgibt.

Okay, eigentlich gibt es doch einen.

Ihn.

Die Gestalt kommt näher.

Nein.

Was ja klar.

Die Gestalten.

Es sind drei.

Du Idiot.

Er ist nackt, und sein bestes Mittel zur Verteidigung, seine 357er, steckt in der Tasche seines Staubmantels, der auf der anderen Seite des Teichs liegt.

Aber nicht einmal seine Smith and Wesson kann in einem Schneesturm etwas gegen drei Abbys auf kurze Entfernung ausrichten. Wenn er vorbereitet gewesen wäre, dann hätte er sie schon früher entdeckt und vielleicht einen oder zwei mit seiner Winchester ausschalten können, um dem letzten dann mit einer Kugel aus dem Revolver den Garaus zu machen.

Doch diese Überlegungen sind sinnlos.

Sie kommen auf den Teich zu.

Hassler gleitet geräuschlos zurück ins Wasser, bis es ihm bis zum Hals steht. Er kann sie durch den Dampf kaum noch sehen und betet, dass es ihnen umgekehrt genauso geht.

Als die Abbys näherkommen, taucht Hassler bis zu den Augen unter.

Es sind ein ausgewachsenes Weibchen und zwei schlaksigere Heranwachsende, die beide um die zwanzig Jahre alt sein müssen – und somit ebenso tödlich sind. Er hat schon kleinere gesehen, die einen riesigen Bison erlegt haben.

Das Weibchen ist so groß wie die beiden anderen zusammen.

Aus knapp zwanzig Metern Entfernung beobachtet Hassler, wie die Mutter an dem Haufen aus seiner Kleidung und seiner Ausrüstung stehen bleibt.

Sie schnüffelt am Staubmantel.

Die jüngeren Abbys gesellen sich zu ihr und schnüffeln ebenfalls.

Hassler steigt einige Zentimeter höher, bis sich seine Nase direkt über der Wasseroberfläche befindet.

Er holt lange und tief Luft und geht dann unter, wobei er so viel Luft aus seiner Lunge ausstößt, dass sein Körper auf den Boden des Teichs sinkt.

Kurz darauf setzt er sich auf den Felsboden.

Aus dünnen Rissen im Stein dringen Ströme aus kochend heißem Wasser unter seinen Beinen hervor.

Er schließt die Augen, und als der Druck und das Brennen in seiner Lunge stärker werden, manifestiert sich der Sauerstoffmangel als grelle Explosionen vor seinen Augen.

Er bohrt die Fingernägel in die Beine.

Die Gier nach Luft wird immer schlimmer.

Sie ist alles verzehrend.

Als er es nicht mehr aushalten kann, steigt er langsam nach oben und holt Luft.

Die Abbys sind verschwunden.

Vorsichtig dreht er sich im Wasser um, Zentimeter für Zentimeter …

Und erstarrt.

Der Drang, zurückzuzucken, ist fast schon übermächtig.

In drei Metern Entfernung hockt einer der jungen Abbys neben dem Ufer am Boden.

Reglos.

Er hat den Kopf leicht auf die Seite gelegt.

Wirkt fasziniert.

Sieht er sein Spiegelbild an?

Hassler hat schon viele dieser Monster gesehen, aber meist durch das Zielfernrohr seines Gewehrs. Aus der Entfernung.

So dicht ist er keinem Abby je gewesen, ohne entdeckt zu werden.

Er kann den Blick nicht von seinem Herzen abwenden: dem schlagenden Muskel, der durch die durchsichtige Haut zu erkennen ist und das Blut durch die Arterien pumpt – lilafarbene Röhren, die sich durch den ganzen Köper ziehen. All das sieht verschwommen und verzerrt aus, als würde man es durch Quarz hindurch betrachten.

Der Abby hat kleine Augen, die Hassler an schwarze Diamanten erinnern. Sie wirken hart und fremdartig.

Aber seltsamerweise ist es nicht das schaurige Erscheinungsbild, das ihm so zu schaffen macht.

Die Klauen mit den fünf Krallen, die Reihen rasiermesserscharfer Zähne und die unfassbare Körperkraft können seine menschliche Herkunft nicht verbergen. Diese Wesen sind eine Weiterentwicklung von uns, und jetzt gehört ihnen diese Welt. David Pilcher, Hasslers Boss und der Erschaffer von Wayward Pines, schätzt, dass es allein auf diesem Kontinent etwa eine halbe Milliarde Abbys gab.

Der Dampf ist dicht, aber Hassler wagt es nicht, wieder unterzutauchen.

Er bewegt sich nicht.

Und der Abby betrachtet weiterhin sein Spiegelbild.

Entweder entdeckt er Hassler gleich, was seinen Tod bedeuten würde, oder …

In der Ferne kreischt die Mutter.

Der junge Abby hebt den Kopf.

Die Mutter schreit erneut, und nun klingt ihre Stimme irgendwie bedrohlich.

Der Abby flitzt davon.

Hassler lauscht, während sich die drei vom Teich entfernen, und als er es nach einiger Zeit wagt, sich vorsichtig zu bewegen und schnell den Kopf zu drehen, sind sie im Schneesturm verschwunden.

 

Hassler wartet, dass der Schnee nachlässt, aber das passiert nicht. Irgendwann steigt er aus dem Teich und wischt den Schnee von seiner Kleidung, der sich acht Zentimeter hoch aufgetürmt hat. Er trocknet seine Füße ab und zieht seine Stiefel wieder an.

Dann legt er den Staubmantel auf die nasse Seite, nimmt den Rest seiner Ausrüstung und läuft über die Lichtung zu einem Pinienhain. Geduckt unter dem Dach einiger tief hängender Äste, die den Boden vor dem Schnee schützen, lässt er alles fallen und öffnet zitternd seinen Rucksack. Die trockene Clematis liegt obendrauf, und darunter hat er etwas trockenes Feuerholz gestapelt, das er an diesem Morgen gesammelt hatte.

Die Flechte fängt beim dritten Funken Feuer.

Als der Ast zu knistern beginnt, bricht Hassler mehrere große Äste ab, die in Reichweite hängen, und zerkleinert sie über dem Knie.

 

Das Feuer lodert auf.

Die Kälte verschwindet.

Er steht nackt in der Wärme der Flammen.

Kurz darauf hat er sich angezogen, lehnt sich mit dem Rücken an einen Baumstamm und streckt die Hände zum Feuer aus.

Rings um seinen wettergeschützten Unterschlupf fällt weiterhin Schnee auf die Lichtung.

Die Nacht bricht an.

Ihm ist warm.

Er sitzt im Trockenen.

Und für den Moment …

Ist er nicht tot.

Alles in allem ist das so gut wie alles, was sich ein Mann in dieser beschissenen neuen Welt nach einem langen, kalten Tag erhoffen kann.

 

Als er das nächste Mal die Augen aufschlägt, ist der Himmel über den Ästen tiefblau und die Lichtung liegt unter dreißig Zentimeter hohem funkelnd weißem Schnee.

Das Feuer ist schon vor Stunden ausgegangen.

Die Setzlinge auf der Lichtung biegen sich unter dem Gewicht des Schnees durch und sehen aus wie kleine Bögen.

Nach dem Bad in den heißen Quellen fühlt sich Hassler zum ersten Mal seit Monaten nicht steif, als er aufsteht.

Er hat Durst, aber sein Wasser ist über Nacht gefroren.

Er isst gerade so viel Dörrfleisch, dass sein größter Hunger, den er morgens beim Aufwachen immer spürt, gestillt ist.

Dann hebt er sein Gewehr hoch und hält durch das Zielfernrohr Ausschau nach Bewegungen auf der Lichtung.

Es ist gute fünf bis zehn Grad kälter als am Vortag – er schätzt, dass es etwa minus siebzehn Grad sein müssen. Von den heißen Quellen steigen ständig Dampfwolken auf.

Ansonsten bewegt sich in der Winterlandschaft nichts.

Er holt seinen Kompass und die kleine Karte aus der Tasche und setzt seinen schweren Rucksack auf.

Dann kriecht Hassler unter den Zweigen hervor und geht über die Lichtung.

Es ist kalt und lautlos, und die Sonne geht gerade auf.

In der Mitte der Lichtung bleibt er stehen und sieht noch einmal durch das Zielfernrohr seiner Winchester in alle Richtungen.

Zumindest in diesem Augenblick gehört die Welt ihm allein.

 

Als die Sonne höher steigt, wird die Reflexion des Schnees immer intensiver und schmerzt in seinen Augen. Er würde ja anhalten und seine Sonnenbrille herausholen, aber der Wald, in dem es wieder angenehm dunkel sein wird, ist nicht mehr weit.

Nichts als Pinien weit und breit.

Sechzig Meter hohe Riesen mit geraden, dünnen Baumstämmen und schmalen Kronen.

Es ist viel gefährlicher, sich durch den Wald fortzubewegen, daher zieht Hassler am Waldrand seine 357er aus der Tasche und überprüft, ob sie geladen ist.

Die Sonne scheint immer wieder grell durch die Bäume.

 

Hassler erklimmt eine Anhöhe.

Vor ihm breitet sich ein See aus, der wie ein Juwel in der Sonne glänzt. In Ufernähe ist das Wasser gefroren, aber in der Mitte hat sich noch kein Eis gebildet. Er setzt sich auf einen ausgebleichten Baumstumpf und hebt den Schaft des Gewehrs an die Schulter.

Der See ist riesig. Hassler sieht durch das Zielfernrohr am Ufer entlang. In der Richtung, in der er weitergehen will, ist nichts zu erkennen außer dem unangetasteten, glänzend weißen Schnee.

Auf der anderen Seite des Sees, die mehrere Kilometer entfernt sei muss, entdeckt er einen Abby-Bullen in einem blutigen Schneefeld. Der Bulle hat einen gewaltigen Grizzlybären gerissen und zerrt ihm gerade die Eingeweide aus dem Leib.

Hassler geht langsam den sanften Abhang auf der anderen Seite hinunter.

Am Ufer sieht er noch einmal auf die Karte.

Der Wald reicht dicht bis ans Wasser heran. Er geht an der Westseite des Sees entlang, wobei er sich immer zwischen dem Ufer und den Bäumen hält.

Der Weg durch den Schnee hat ihn erschöpft.

Hassler nimmt das Gewehr von der Schulter und setzt sich in der Nähe des Ufers auf den Boden. Gar nicht weit entfernt entdeckt er eine Stelle, an der das Eis nicht so dick zu sein scheint. Es sieht eher aus wie eine dünne Kruste, die über Nacht festgefroren ist. Es hat in diesem Jahr früh geschneit. Sehr früh. Seiner Meinung nach kann es gerade mal Juli sein.

Wieder sieht er sich mithilfe des Zielfernrohrs um.

Er schaut zum Wald hinter sich.

Dort ist keine Bewegung zu erkennen mit Ausnahme des Abbys auf der anderen Seite des Sees, der jetzt seinen kompletten Kopf im Bauch des Grizzlys vergraben hat und sich den Magen vollschlägt.

Hassler lehnt sich an seinen Rucksack und holt die Karte aus der Tasche.

Es weht kein Wind, und die Sonne steht direkt über ihm und wärmt ihn bis auf die Knochen.

Er liebt diese Vormittage – das ist ihm eindeutig die liebste Zeit des Tages. Für ihn hat es etwas Hoffnungsvolles, beim ersten Tageslicht aufzuwachen und noch nicht zu wissen, was der Tag bringen wird. Emotional fallen ihm die Nachmittage am schwersten, wenn das Licht zu schwinden beginnt und ihm klar wird, dass er wieder eine Nacht im Freien verbringen wird, alleine in der Dunkelheit und immer mit der Angst, einen schrecklichen Tod zu erleiden.

Aber zumindest in diesem Augenblick scheint ihm die nächste Nacht noch sehr fern zu sein.

Wieder einmal wandern seine Gedanken in Richtung Norden.

Nach Wayward Pines.

Zu dem Tag, an dem er den Zaun erreichen und in die Sicherheit zurückkehren wird.

In dieses kleine viktorianische Haus an der Sixth Street.

Und zu der Frau, die er so sehr liebt, dass er es selbst kaum fassen kann. Nur für sie hat er im Jahr 2013 sein Leben bereitwillig aufgegeben, um sich für zweitausend Jahre in die suspensierte Animation zu begeben, ohne zu wissen, in was für einer Welt er wieder erwachen würde. Aber allein der Gedanke, dass Theresa Burke darin leben würde und ihr Mann Ethan seit Langem tot war, hatte ausgereicht, damit er alles riskierte.

Er vergleicht die Karte mit dem Kompass.

Das wohl Auffälligste in dieser Region ist ein dreitausend Meter hoher Berggipfel, der früher einmal Mount Sheridan genannt wurde. Die obersten dreihundert Meter des Berges sind nicht mit Bäumen bewachsen und zeichnen sich grellweiß vor dem lilafarbenen Himmel ab. Auf dem Gipfel ist es sehr windig, und der Schnee wird umhergeweht.

Unter optimalen Bedingungen könnte er den Berg in einer Stunde erreichen.

In zwei oder drei Stunden bei etwa dreißig Zentimeter hohem frisch gefallenem Schnee.

Aber vorerst zeigt er ihm einfach nur an, wo Norden ist.

Die Richtung, in der sein Zuhause liegt.