28
So ausgelaugt und zutiefst erschöpft hatte sich Isabel noch nie gefühlt. Während Josh erst vom Feuerwehrhauptmann und anschließend von einem Brandermittler befragt worden war, hatte sie das Gefühl gehabt, als würde dieser Tag niemals enden wollen. Die ganze Zeit über hatte Andrew ihrem Sohn beigestanden und ihn in Schutz genommen.
Wegen Josh war Poplar Cove abgebrannt. Ginger und Connor wären beinahe gestorben. Gott sei Dank war Andrew da gewesen und hatte alle ständig daran erinnert, dass es sich um einen Unfall gehandelt hatte. Immer wieder hatte er ihr versichern müssen, dass Josh keinesfalls etwas angelastet werden könne und dass er auch keinen dauerhaften Eintrag im Vorstrafenregister zu erwarten habe, weil der Untersuchungsbeamte keine Anzeige erstatten würde.
Als die Sonne endlich unterging, lag Josh bereits in seinem Bett und schlief tief und fest. Derweil saß Andrew mit einer Kaffeetasse in der Hand in ihrer Küche, und es erstaunte sie, wie gut er dorthin passte.
Irgendwie schaffte er es, sich ohne Schwierigkeiten in Isabels Welt am See einzufügen, die sie eigentlich nur für sich und ihren Sohn geschaffen hatte.
»Was für ein nervenaufreibender Tag, nicht wahr, Isabel?«
Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das alles für kurze Zeit hinter sich lassen zu können.
»Wie wäre es, wenn wir raus zur Insel rudern würden?«
Mit einem Blick über die Schulter in Richtung von Joshs Zimmer fragte sich Isabel, ob sie nicht lieber hierbleiben sollte – nur für den Fall, dass ihr Sohn aufwachte –, aber in Wahrheit war das bloß eine Ausrede, um nicht mit Andrew alleine sein zu müssen.
Weil ihre tiefen Gefühle für ihn sie schrecklich ängstigten. Besonders nach allem, was heute geschehen war.
Auf ihrem Weg zum Steg griff sich Andrew ein paar große Strandtücher, die auf der Veranda lagen, dann kletterten sie nacheinander in das Ruderboot. Unter einem pechschwarzen Himmel glitten die Holzpaddel durch das ebenso dunkle Wasser.
Während Andrew ruderte, saßen sie schweigend beieinander. In der nachtschwarzen Finsternis konnte Isabel ihn kaum erkennen, und trotzdem beruhigte es sie zu wissen, dass er so nahe bei ihr war, ja, es erfüllte sie sogar mit Freude, ihn neben sich zu wissen.
Bei einem Notfall hätte sie früher niemand anderen als ihn mit in ihrem Rettungsboot haben wollen.
Zum ersten Mal fragte sie sich jetzt, nach drei Jahrzehnten, ob es denkbar wäre, dass er für sie noch einmal zu diesem ganz besonderen Mann werden könnte?
Nachdem sie ihr Boot an das Ufer gezogen hatten, streckte Andrew die Hand aus, und Isabel ließ sich von ihm zu ihrem »Privatstrand« führen. Auf dieses besondere Fleckchen Erde hatten sie sich als Teenager immer zurückgezogen, wenn sie einmal ungestört sein wollten. Und während er neben ihr herging und sie seine warme Hand in ihrer spürte, wartete Isabel darauf, dass alte Erinnerungen in ihr aufsteigen würden – all die Szenen, die sie sich lieber gar nicht wieder vor Augen führen wollte.
Aber dann fiel ihr auf, dass sie gerade dabei waren, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, anstatt zu dem zurückzukehren, was früher einmal zwischen ihnen gewesen war. Und auch wenn sie die Vergangenheit niemals vergessen würde, wurde Isabel doch jetzt endlich klar, dass Andrew nicht zum See zurückgekommen war, um alte Zeiten heraufzubeschwören.
Sie würden sich gemeinsam eine neue Zukunft aufbauen.
Nachdem sie die Badetücher im Sand ausgebreitet hatten, war es die natürlichste Sache der Welt, den Kopf auf seine Schulter zu legen.
»Es tut mir so leid, dass du dein Ferienhaus verloren hast«, sagte Isabel, während er sie ein wenig fester an sich zog. In seiner Umarmung begann ihre Selbstbeherrschung zu bröckeln.
»Ich hätte dich heute beinahe verloren. Da oben auf dem Dach …« Sie musste innehalten, denn allein sich vorzustellen, wie Andrew dort vom Feuer hätte umzingelt werden können, verursachte ihr Übelkeit.
Er verlagerte das Gewicht, bis Isabels Kopf auf seinem kräftigen Unterarm lag, beugte sich über sie und betrachtete lange ihr Gesicht. Dann fuhr er ihr sanft mit dem Daumen über die Wange, um die Tränen fortzuwischen.
»Wein doch nicht, Izzy. Ich bin ja noch hier. Und ich gehe nirgendwohin. Versprochen.«
»Ich kann mich gar nicht genug für das entschuldigen, was mein Sohn angerichtet hat. Bevor er ins Bett gegangen ist, hat Josh mir aber noch gesagt, dass er dich vollkommen falsch eingeschätzt hat. Du wärst eigentlich gar kein so übler Kerl. Ich hoffe, du kannst ihm irgendwann verzeihen.«
»Versteh mich da nicht falsch, ich glaube, ich hab noch gar nicht recht begriffen, dass Poplar Cove nicht mehr da ist – aber irgendwie frage ich mich, ob es nicht vielleicht sogar besser so ist.«
»Wie könnte das besser sein?«
»Na ja, zunächst einmal bedeutet es einen Neuanfang für mich und Connor. Und den haben wir auch verflucht nötig.«
»Genau wie Ginger«, murmelte Isabel.
Und ich selbst, fügte sie im Stillen hinzu. Ihr war nie bewusst gewesen, wie sehr sie in der Vergangenheit stecken geblieben war, bis Andrew wieder aufgetaucht war.
»Jetzt kommen Connor und ich vielleicht dazu, die Hütte ganz neu aufzubauen; monatelang gemeinsam an etwas zu arbeiten, das uns beiden am Herzen liegt. Vielleicht möchte Josh auch mithelfen, dann könnte er ein paar seiner Schuldgefühle mit Hammer und Säge verarbeiten. Könnte auch eine gute Möglichkeit sein, um den Tatendrang, den Jungs in seinem Alter haben, in die richtigen Bahnen zu lenken und ihn eine Weile aus Schwierigkeiten herauszuhalten.«
»Du willst also hierbleiben?«
Zog er tatsächlich in Erwägung, ihren Sohn um Hilfe zu bitten, nach allem, was er angerichtet hatte?
»Das will ich, Izzy. Nichts 3wünsche ich mir mehr. Aber ich möchte dich auch nicht verletzen; wenn du also nicht willst, dass –«
Isabel unterbrach ihn, indem sie ihm einen Finger auf die Lippen legte. »Als mein Sohn uns überrascht hat …« Sie errötete. »Na ja, als er uns beim Küssen erwischt hat, da habe ich mich dir gegenüber unmöglich benommen. Nur weil er nicht damit zurechtkommt, dass sich seine Mutter wie eine ganz normale Erwachsene verhält, muss ich ja nicht so tun, als sei zwischen uns nichts vorgefallen.« Sie schaute zu ihm auf, und ihre Blicke fanden sich. »Denn in Wahrheit wollte ich doch, dass es passiert. Ich wollte, dass du mich küsst.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Und wie. Aber gleichzeitig war ich mir noch nicht sicher, ob ich dir jemals wieder vertrauen könnte. Bis heute, als ich dich mit meinem Sohn gesehen habe und wie du ihn beschützt hast, obwohl er ganz allein für den Schaden verantwortlich ist.«
»Er ist nur ein Teenager, der einen Fehler gemacht hat. Auch wenn es ein großer Fehler war, aber er hat das ja nicht absichtlich getan.«
»Euch beide so zu sehen hat mir gezeigt, dass ich dir wirklich vertrauen kann. Was du damals getan hast und was er heute angerichtet hat, unterscheidet sich gar nicht so sehr voneinander. Zwei Jungs, die nicht wussten, wohin mit ihrer Energie. Ihrer Leidenschaft. Mir kommt immer wieder in den Sinn, was ich zu dir gesagt habe, als du damals ins Diner gekommen bist. Darüber, dass ein echter Mann das Beste aus seiner Situation gemacht hätte.«
»Du hattest recht. Vollkommen recht.«
»Vielleicht«, sagte sie, »aber wenn ich so gut im Austeilen bin, dann sollte ich auch selbst etwas einstecken können, meinst du nicht? Denn ich habe dir schließlich einen Vortrag darüber gehalten, dass du dir in deiner Ehe mehr Mühe hättest geben sollen – aber habe ich das denn selbst getan? Nein. Weil ich die ganze Zeit über, als ich meinen Ehemann und den Vater meines Kindes hätte lieben sollen, immer noch in dich verliebt war.«
»Du bist in mich verliebt?«
»Ich habe dich immer geliebt, Andrew. Habe nie aufgehört, dich zu lieben, nicht eine Sekunde lang, nicht einmal, als ich so wütend auf dich war, dass ich am liebsten mit dem Küchenmesser auf dich losgegangen wäre.«
Sie hörte ihn leise lachen, weil sie so schonungslos ehrlich war, dann flüsterte er: »Izzy, mein Engel, wie sehr ich dich liebe.« Er beugte sich vor und küsste sie.
Ihr Kuss begann sanft und zärtlich, und dann, ohne Vorwarnung, brach die Ausweglosigkeit eines ganzen Sommers durch und gewann die Oberhand über jegliche Zurückhaltung oder Geduld, bis sie sich zügellos aufeinanderstürzten, sich schmeckten und erforschten.
Und dann legte Andrew Isabel rücklings auf das Handtuch, und während er sie langsam auszog, schaute sie zum Mond auf, der gerade durch die Bäume lugte. Die Luft um sie herum war erfüllt vom Duft der Blaubeerbüsche, die wie ein süßes Parfum rochen. Nachdem er ihr das T-Shirt und den Büstenhalter ausgezogen hatte, tastete er sich in Richtung Hosenbund vor, und dabei stöhnte Isabel bei jeder Berührung seiner Finger auf ihrer nackten Haut auf. Er bedeckte ihre Brüste mit seinen so herrlich großen Händen, denen sie sich sehnsüchtig entgegenreckte, denn sie wollte mehr –- so viel er ihr nur geben konnte. Als Nächstes spürte sie seinen Mund zwischen ihren Beinen. Unter seinen Liebkosungen vergaß Isabel, wo sie war, sie nahm nur noch den Mann wahr, der ihr einen solch unvergleichlichen Genuss verschaffen konnte.
Während er sie mit seinem Mund liebte, wurde sie immer weiter emporgetragen, aber Isabel wollte dieses Gefühl mit ihm teilen, also griff sie nach seinen Schultern und zog ihn über sich. Mit zitternden Händen versuchte sie, seine Hose zu öffnen, doch als er sie wieder küsste, verlor sie die Kontrolle über ihre Finger. Also übernahm Andrew das für sie und hatte sich kurz darauf ganz ausgezogen, um sich nackt über sie zu beugen.
Beim nächsten Mal würde sie ihn ausgiebig betrachten, jeden Quadratzentimeter seines Körpers neu kennenlernen. Aber jetzt ging es nur noch darum, sich ihm zu öffnen, ihn aufzunehmen und in sich zu spüren – es war atemberaubend!
Er hielt kurz inne und fragte: »Wie soll ich jemals genug von dir bekommen?« Dann glitt er in sie hinein, und sie hielten einander fest umschlungen. Sie bewegten sich in einem Rhythmus, der auf herrliche Weise vertraut schien und doch eine ganz neue Erfahrung war. Andrew küsste Isabel, als hätte er sein ganzes Leben lang darauf gewartet, sie zu finden. Und in dem Moment, als sie sich gegenseitig zum Höhepunkt brachten, gab auch sie sich ihm vollkommen hin. Sein lustvoller Schrei verlor sich in den Bäumen und dann in ihrem Mund, als sie ihn küsste.
Nachdem sie schwer atmend und verschwitzt zur Erde zurückgekehrt waren, wo sie auf einem zerwühlten Strandtuch lagen, nahm Isabel sein Gesicht zwischen die Hände und küsste ihn noch einmal mit all der Liebe, die sie für ihn empfand.
Es gab keine Reue mehr.
Auch keinen Zorn.
Nach dreißig Jahren hatte nur die Liebe überdauert.