4

 

Den ganzen Abend über war es Isabel so vorgekommen, als ob mit Ginger irgendetwas nicht in Ordnung war. Nur konnte sie nicht genau sagen, was. Ihre Freundin wirkte irgendwie verändert. Fröhlicher als sonst. Und gleichzeitig schien sie ein bisschen neben der Spur zu sein.

Bei ihrer ersten Begegnung vor acht Monaten hatte Ginger denselben Eindruck bei ihr hinterlassen den einer Frau, die dringend einmal einen Gang herunterschalten musste. Hier in Blue Mountain Lake zu leben hatte sich dann geradezu als Wohltat für Gingers strapaziertes Nervenkostüm erwiesen. So ging es eigentlich allen, die sich lange genug hier niederließen, um sich dem gemächlichen Rhythmus des Kleinstadtlebens anzupassen. Was also konnte dann in Herrgotts Namen bloß dazu geführt haben, dass Ginger sich nun wieder in ihr altes, hypernervöses Ich zurückverwandelt hatte?

Nachdem Isabel Scott, ihren Koch an der Fritteuse, gebeten hatte, sie kurz am Herd zu vertreten, folgte sie Ginger nach draußen.

»Was ist los?«

Ginger schob sich eine Locke aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Heute Nachmittag ist überraschend jemand bei mir aufgetaucht.«

An einem so schönen Ort wie Blue Mountain Lake war das eigentlich nichts Ungewöhnliches. Meist handelte es sich um Freunde aus der Stadt, die sich spontan dazu entschieden hatten, ein paar Tage am See zu verbringen. Auch nicht unüblich waren Verwandte auf der Suche nach ein bisschen Ruhe vor ihren Kindern, die sie an einem der privaten Uferabschnitte spielen ließen, während sie selbst den Schnapsschrank durchforsteten. Aber ein Haufen ins Haus geschneiter Freundinnen würden Ginger sicher nicht in diesen Zustand versetzen.

»Wer denn? Sag bloß nicht, dass dein Ex den weiten Weg hierher auf sich genommen hat? Oder womöglich deine Mutter?«

Ginger hatte Isabel alles über ihre Ehe mit Jeremy erzählt und auch, dass ihre Beziehung sich eigentlich schon in dem Moment totgelaufen hatte, als er ihr den Ring an den Finger gesteckt hatte. Und obwohl Ginger immer wieder betont hatte, sie seien beide gleichermaßen für das Scheitern der Ehe verantwortlich gewesen, so hatte sich für Isabel doch ein anderes Bild ergeben. Gingers Exmann schien ein egomaner Tyrann zu sein, der es für kurze Zeit geschafft hatte, ein freundlicheres Gesicht aufzusetzen, um Ginger hinters Licht zu führen. Von Gingers Eltern hatte Isabel eine ähnlich schlechte Meinung.

Ginger schnitt eine Grimasse. »Nein, Jeremy würde niemals herkommen, nur um mich zu besuchen. Nach allem, was ich gehört habe, hat er sich inzwischen schon mit einer kleinen, zierlichen Brünetten getröstet. So eine mit Stupsnase und hohlen Wangen. Und meine Mutter würde verrückt werden bei dem ganzen Ungeziefer hier, also wird das wohl auch nie passieren.«

Isabel hatte den Eindruck, als würden sich Gingers Wangen in den Pausen zwischen ihren Sätzen noch ein wenig mehr röten.

»Sein Name ist Connor. Connor MacKenzie. Seine Großeltern sind die Besitzer von Poplar Cove. Er dachte, er könnte da heute einziehen. Bis er mich auf der Veranda vorgefunden hat. Und jetzt ist er hier, im Restaurant. Vorne am Tresen.«

Isabel hörte sich selbst nach Luft schnappen. Sie fragte sich, warum sie auf einmal das Gefühl hatte, als hätte jemand ihre Welt aus den Angeln gehoben.

Der Enkel eines benachbarten Ehepaares war zu Besuch in der Stadt. Na und?

»Weißt du, warum Connor hierher zurückgekommen ist?«

»Er will das Haus für die Hochzeit seines Bruders herrichten.«

Der Stein in ihrer Magengrube schien noch schwerer zu werden. Hochzeiten bedeuteten Familie. Mütter.

Und Väter.

»Wann wird die Hochzeit stattfinden?«

»Am einunddreißigsten Juli.«

Noch vier Wochen Zeit. Lange genug, um sich eine neue Frisur zuzulegen, überlegte Isabel. Nein, besser gleich eine Rundumerneuerung. Sie wollte sichergehen, dass es Andrew umhaute, wenn sie sich wiedertrafen.

Falls es überhaupt dazu kam.

Herrje, was war nur in sie gefahren? Sie hatte Connors Vater seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen. Das war doch alles Schnee von gestern. Inzwischen hatte sie ein erfülltes Leben mit einem gut laufenden Restaurant, vielen Freunden und einem großartigen Sohn.

»Connor hat gesagt, das Haus sei nicht sicher. Es würden überall Brandgefahren lauern, deswegen müsse er einige Reparaturen vornehmen. Aber auch wenn das stimmen mag, macht mich die Vorstellung ganz verrückt, dass sich irgendein Kerl in meinen vier Wänden einnistet. Ganz besonders dieser Kerl.«

»Warum?«, hakte Isabel nach, weil sie immer auf der Hut war, wenn es um die Sicherheit ihrer Freundin ging. »Was hat er getan? Irgendwas versucht?«

Ginger wurde ganz rot. »Oh Gott, nein. Natürlich nicht. Es ist nur «

»Was? Du kannst mir alles sagen.« Und anschließend würde Isabel ins Restaurant gehen und ihn eigenhändig umbringen.

»Oh Isabel, er hat so etwas an sich. Nicht nur, weil er groß ist und super aussieht, da ist auch diese seltsame Verbindung zwischen uns. So als ob wir « Das hätte Isabel am wenigsten erwartet.

Sie versuchte zu ignorieren, dass es sich um einen der MacKenzies handelte, und überlegte, welchen Rat sie ihrer Freundin in diesem Fall normalerweise gegeben hätte. Wahrscheinlich hätte sie ihre Freundin dazu ermuntert, ihr einjähriges Zölibat zu brechen, und zwar mit genau diesem Mann.

Zum Glück musste Ginger in diesem Moment bereits über sich selbst lachen. »Wie ich mich anhöre. Wie eine Fünfzehnjährige, die in den Schulschwarm verknallt ist. Gleich werde ich noch davon anfangen, dass es uns vorherbestimmt ist, zusammen zu sein! Könnten wir bitte einfach so tun, als hätte ich das eben nicht gesagt?«

Isabel konnte sich jedoch nur allzu gut daran erinnern, was für gut aussehende Jungs die MacKenzie-Brüder waren. Nicht ohne Grund waren Gingers Wangen dermaßen gerötet, und auch das Leuchten in ihren Augen war verständlich. Ein MacKenzie glich einer Naturgewalt. Als Teenager war Isabel manchmal selbst davon überzeugt gewesen, Connors Vater halte die Fäden des Schicksals in der Hand.

»Hey, deine Familie und die MacKenzies waren doch lange Zeit Nachbarn. Gibt es etwas, das ich über sie wissen sollte? Vielleicht ein paar warnende Worte, was Connor betrifft?«

Isabel schüttelte entschieden den Kopf, vielleicht ein bisschen zu entschieden, stellte sie fest, als ihr schwindlig wurde. »Naja, Helen und George sind großartig. Aber das weißt du ja schon von euren Telefonaten.«

Das wäre eigentlich der richtige Zeitpunkt gewesen, um einfach den Mund zu halten und nicht mehr weiterzureden. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund brachte sie es nicht fertig.

»Ich kannte Connors Vater Andrew. Wir sind eine Zeit lang miteinander ausgegangen. Aber das ist ewig lange her.«

Als Ginger ein interessiertes Gesicht machte, bemühte Isabel sich sofort, die Sache kleinzureden. »Wir waren praktisch noch Kinder. Im gleichen Alter wie Josh und das Mädchen, mit dem er heute ins Kino gegangen ist. Ich hab schon seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Wahrscheinlich würde ich ihn nicht mal mehr wiedererkennen, wenn er hier durch die Tür kommen würde.«

Viel zu spät wurde ihr bewusst, dass sie bei dem Versuch, Ginger von der Harmlosigkeit ihrer Beziehung zu Connors Vater zu überzeugen, maßlos übertrieben hatte. Ein klarer Fall von Überkompensation.

Glücklicherweise war Ginger viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, als dass ihr das aufgefallen wäre. »Ich sollte wohl lieber wieder reingehen, bevor die Gäste eine Meuterei anzetteln.«

»Mach das«, sagte Isabel ungezwungen. Erst als sie wieder in der Küche angekommen war und nach ihrem Messer griff, bemerkte sie, wie stark ihre Hände zitterten.

Eigentlich begann jetzt ihre Lieblingszeit des Tages wenn das geschäftige Treiben am frühen Abend in eine Art organisiertes Chaos umschlug. Heute fiel es ihr jedoch schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit um dasselbe. Die Geschichte, wie sie zu dem Restaurant am See gekommen war.

Inzwischen war es zehn Jahre her, dass sie das heruntergekommene Gebäude an der Hauptstraße von Blue Mountain Lake gekauft hatte. Damals hatte der Ort aus wenig mehr als einem Lebensmittelgeschäft, einem Postamt, einem Wein- und Spirituosengeschäft und einer Tankstelle bestanden. Wenn sie in der letzten Zeit die Main Street entlangging, um einen Brief aufzugeben, fiel ihr immer wieder auf, wie sehr sich die kleine Stadt seit damals herausgemacht hatte.

In dem weißen Haus mit der filigranen Glasfront an der Ecke gab es inzwischen ein nettes Café, in dem auch öfter Konzerte stattfanden. Anderson’s Market, das alte Lebensmittelgeschäft aus der Zeit, als ihre Großeltern hier am See ihr Ferienhaus gebaut hatten, hatte ebenfalls einige Neuerungen eingeführt. Mittlerweile konnte man dort das ganze Jahr über Obst und Gemüse aus Bioanbau kaufen. Früher hatte es dieses Angebot nur im Juli und August für die Touristen gegeben, die den Sommer hier verbrachten. Und der Gasthof konnte mit einem Meer leuchtender Blumen aufwarten, die entlang der Straße, gleich hinter dem Zaun, gepflanzt worden waren.

Nur das Nähgeschäft wirkte immer noch ziemlich altertümlich. Isabel erinnerte sich noch gut an den Sommer, als sie dort auf den gemütlichen Sofas gesessen und Sticken gelernt hatte. Josh war damals noch ein Kleinkind gewesen und sie hatte die Hilfe der anderen Frauen im Laden zu schätzen gewusst. Mehr als die Handarbeit, mit der sie nie sonderlich viel anfangen konnte.

Nach ihrer Scheidung war ihr gar nichts anderes in den Sinn gekommen, als nach Blue Mountain Lake zu ziehen. Ihr Herz hatte schon lange an dem Ort gehangen. Und jedes Jahr im September, wenn sie wieder nach Hause hatte zurückkehren müssen, hatte sie den nächsten Sommer kaum erwarten können. Wegen ihres Kindes hatte sie lange nicht gearbeitet, und als ihre Beziehung zerbrochen war, hatte sie buchstäblich vor dem Nichts gestanden. Aber in dem Moment, als sie den Ehering abgenommen hatte, hatte sich ihr ganzes Leben verändert. Sie hatte nicht auf Unterstützung von ihrem Ex angewiesen sein wollen.

Trotzdem glaubte sie, dass Josh eine relativ behütete Kindheit und Jugend gehabt hatte. Das schrieb sie vor allem der Umgebung hier zu, die so grundverschieden von der schnelllebigen Großstadt war, in der sie selbst aufgewachsen war. Auch dass Mobiltelefone erst vor Kurzem ihren Weg hierher gefunden hatten, war nicht unbedingt von Nachteil gewesen. Wegen der dichten Wälder in der Umgebung und dank einer Übereinkunft der Einheimischen, kein Land zu verkaufen, wenn darauf Telefonmasten errichtet werden sollten gab es an den meisten Stellen im Ort so gut wie keinen Empfang.

Aber seit Handys mit den Jahren immer beliebter geworden waren, musste Isabel oft lachen, wenn sie einen der Sommergäste dabei beobachtete, wie er mitten auf dem See in einem Paddelboot stand und sein Gerät hin- und herschwang. Es schien ihnen so unglaublich wichtig zu sein, mit ihrem rastlosen Leben zu Hause verbunden zu sein.

Lief das nicht eigentlich der Grundidee eines Urlaubs am See zuwider? Hier kam man doch eigentlich her, um dem allen zu entfliehen, oder?

Bei ihr war es jedenfalls so gewesen.

Gleich am ersten Tag nach ihrem Umzug war ihr das ZUVERKAUFEN-Schild am alten Diner aufgefallen, und sie hatte das Gefühl gehabt, als hätte jemand über ihrem Kopf eine Glühbirne angeknipst. Sie hatte schon immer leidenschaftlich gerne gekocht. So konnte sie nach einem langen harten Tag immer am besten abschalten.

Und da sie durch das Leben im Ferienhaus kaum Geld ausgab, hatte sie ihre Ersparnisse dafür nutzen können, das Restaurant zu pachten und zu renovieren. Am Ende hatte sich herausgestellt, dass die Aufgaben, die mit der Führung eines Restaurants einhergingen sich Menüs einfallen lassen, Köche und Angestellte einarbeiten und ihnen eine gute Chefin sein –, das beste Mittel waren, um über ihre Scheidung hinwegzukommen. Um sich weiterzuentwickeln.

Wenn sie am Herd stand oder vor dem Computer saß, gelang es ihr, die hässlichen Auseinandersetzungen zu vergessen, die sie und Brian sich am Ende ihrer Ehe geliefert hatten, und nicht mehr über all die schrecklichen Vorwürfe nachdenken zu müssen, die er ihr gemacht hatte.

»Hast du mich jemals wirklich geliebt, Isabel?«, hatte er sie gefragt. »Gab es jemals genug Platz in deinem Herzen für ihn und für mich?«

Zwischen Isabels Brüsten und auch auf ihrer Stirn breitete sich Feuchtigkeit aus. Das große M der Menopause schwebte drohend über ihr. Immer häufiger wachte sie mitten in der Nacht in schweißgetränkten Laken auf. Um ihre Regelblutung tat es ihr nicht leid. Das war nie die beste Woche des Monats gewesen.

Was ihr viel mehr zu schaffen machte, war das Gefühl, keine richtige Frau mehr zu sein. Von achtundvierzig zu fünfzig war es nicht mehr weit, und dann wäre sie nichts weiter als eine dahinwelkende ältere Frau, deren beste Jahre vorbei waren.

Isabel machte sich auf den Weg in den herrlich kühlen begehbaren Eisschrank am anderen Ende der Küche, um dort die Vorräte zu überprüfen. Sie wusste, dass es ungerecht von ihr war, die Vergangenheit in ein so schlechtes Licht zu rücken. Als Kind hatte sie schließlich viele wunderschöne verregnete Nachmittage am Tresen des alten Diners verbracht, Milchshakes oder Malzbier getrunken und sich kichernd mit ihren Freundinnen über niedliche Jungs unterhalten. Auch fünfunddreißig Jahre später hatte sich nicht viel verändert: Jeden Sommer kamen Mädchen in abgeschnittenen Jeans und Flipflops durch die Tür, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden standen. Sie saßen mit ihren Freundinnen zusammen und hatten jede Menge Spaß, während sie über die Jungs redeten, die sie tagsüber am Seeufer getroffen hatten.

Im Traum wurde Isabel manchmal wieder zu einem dieser Mädchen. Anders als bei Ginger war ihr die Zeit als Fünfzehnjährige keineswegs in schlechter Erinnerung geblieben. Ganz im Gegenteil.

Mit fünfzehn hatte die erste Begegnung von ihr und Ach, was nützte der Blick zurück. Besser, sie fing gar nicht erst damit an.

Caitlyn, eine ganz reizende Zweiundzwanzigjährige mit einem Händchen für Grünzeug, steckte den Kopf zur Tür herein. »Oh, Isabel, du bist hier drin. Wollte nur kurz nachschauen, ob jemand versehentlich die Tür offen gelassen hat.«

Isabel konnte sich denken, was für einen merkwürdigen Anblick sie bot, wie sie da im Kühlraum stand und ins Leere starrte. Als sei sie nicht mehr ganz bei Trost. Schnell nahm sie ein paar Auberginen und eine Handvoll Karotten aus dem Metallregal, ging damit zum Waschbecken und hielt sie unter den Wasserstrahl. Als sie sich anschließend mit einem bunt gemusterten Küchentuch die Hände abtrocknete, kam Ginger mit dem Tagesmenü zurück.

»Stimmt etwas mit dem Essen nicht?«, fragte Isabel.

»Nein. Das war Connors Bestellung. Aber er ist verschwunden.«

In diesem Moment hörte Isabel ein lautes Poltern hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie noch, wie das Scharnier der Hintertür aus den Angeln fiel. Es hinterließ ein klaffendes, rostiges Loch in der weißen Tür.

Während sie und Ginger zuschauten, wie die lose an einem Scharnier baumelnde Tür haltlos hin- und herschwang, beschlich Isabel das Gefühl, dass dies ein schlechtes Omen war.

Der Horrorfilm war wirklich unter aller Kanone gewesen. So was von schlecht. Aber das machte Josh Wilcox nichts aus. Mit Hannah auf dem Sitz neben ihm hatte er sich sowieso nicht auf die Handlung konzentrieren können. Bei dieser einen besonders blutrünstigen Stelle, als einer Tussi der Kopf abgeschlagen worden war, hatte sie sogar nach seinem Arm gegriffen. Das war klasse gewesen.

Die anderen hatten sich gleich nach dem Film auf den Weg nach Hause machen müssen. Josh wusste jedoch, dass seine Mutter keinesfalls vor elf von der Arbeit im Diner zurück sein würde. Bis dahin hatte er also noch jede Menge Zeit.

»Ganz schön dunkel hier draußen«, sagte Hannah, nachdem ihre Freunde sie auf der Main Street abgesetzt hatten.

Josh war sich zwar nicht ganz sicher, ob sie damit auf irgendetwas hinauswollte, aber er wagte trotzdem ein: »Ich könnte dich noch nach Hause bringen.«

Da sie ihn daraufhin ermutigend anlächelte, gingen sie gemeinsam zum Seeufer hinunter. Hannah wohnte ganz in der Nähe, er hingegen auf der anderen Seite des Sees. Die Strecke von hier nach Hause hätte er aber auch mit geschlossenen Augen radeln können.

Vereinzelt leuchteten Lagerfeuer im Dunkeln auf, und Hannah sagte: »Stell dir vor, ich habe noch nie ein Marshmallowsandwich probiert.«

Er drehte sich zu ihr um und gab sich Mühe, sie nicht anzustarren, als sei sie verrückt. »Im Ernst?«

»Schräg, oder?«, fragte sie und wirkte fast ein wenig beschämt. »Vielleicht könntest du mir irgendwann mal zeigen, wie man das macht?«

Als er mit pochendem Herzen nickte, fand Josh seine eigene Reaktion bereits viel zu überschwänglich. Aber er konnte einfach nicht anders. Schließlich wäre das die Gelegenheit, sie zu beeindrucken.

Jeder wusste, dass er das beste Marshmallowsandwich weit und breit machte.

»Klar.« Inzwischen waren sie fast bei ihrem Haus angekommen. »Wie wär’s mit heute Abend?« Da fiel ihm plötzlich etwas ein. »Aber du hast wahrscheinlich gar nicht alles hier, was wir dazu brauchen würden.«

Hannah nickte jedoch. »Eigentlich schon«, verriet sie ihm. Josh setzte sich also auf den Steg vor ihrem Haus, bis sie mit den Zutaten zurückkam: Graham Cracker, Marshmallows, Schokolade und Streichhölzer.

»Komm mit.« Gemeinsam gingen sie zum Waldrand. Er deutete auf den Boden. »Als Erstes brauchst du den perfekten Stock. Nicht zu dick, nicht zu dünn. Nicht zu kurz, nicht zu lang. Und er sollte eine schmale Spitze haben, damit du das Marshmallow gut aufspießen kannst.«

Sie hob einen kleinen Zweig auf. »Wie wäre es damit?«

Nachdem er den Zweig eingehend gemustert hatte, lächelte er sie an. »Das nenne ich Anfängerglück. Der ist goldrichtig.«

Sein Kompliment ließ sie erröten. »Danke. Und jetzt?«

»Jetzt machen wir ein Feuer.«

Josh war mit Lagerfeuern aufgewachsen. Am liebsten wandte er die Pyramidentechnik an. Nur wenige Minuten später loderten bereits die ersten Flammen empor. Schnell suchte er sich einen eigenen Stock.

»Es kommt vor allem auf das Marshmallow an wenn er außen knusprig braun, innen aber schön klebrig ist, hast du alles richtig gemacht. Dann schmilzt die Schokolade von ganz allein, wenn du sie darauflegst. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass du das Marshmallow verbrennst. Dann hast du eine verkohlte Außenseite, während er innen noch ganz roh ist.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Kleinen Kindern passiert das ständig.«

»Wow!« Hannah klang beeindruckt. »Hört sich schwierig an. Vielleicht sollte ich das erst mal dir überlassen.«

»Ach was«, sagte er achselzuckend. »Eigentlich ist es ganz einfach. Wenn du erst einmal ein Gespür dafür bekommen hast, machst du das bestimmt wie ein Profi.«

Beide spießten ein Marshmallow auf ihren Zweig und hockten sich neben das große Lagerfeuer. »Am besten hältst du ihn unten über die Glut. Dauert zwar ein bisschen länger, lohnt sich aber.«

Während sich Hannah neben ihn kniete, spürte Josh, wie er sich immer mehr entspannte. Schweigend hielten sie ihre Marshmallows ins Feuer, bis die äußere Schicht braun wurde und Blasen warf.

»Jetzt können wir loslegen«, sagte er dann. Sie gingen zu dem Tablett mit den Keksen und der Schokolade hinüber. Josh brach einen der Cracker in der Mitte auseinander, legte ein Stück Schokolade auf eine Hälfte und sagte: »So fügst du dann alles zusammen. Halt mal deinen Stock hoch.«

Vorsichtig zog er mit den beiden Kekshälften das Marshmallow von Hannahs Zweig und achtete dabei darauf, dass die Schokolade nicht hinunterfiel. »Also gut, jetzt probier mal.«

Gebannt beobachtete er, wie sie abbiss und dabei verzückt die Augen schloss. Noch nie hatte er so viel für ein Mädchen empfunden, dass es ihn interessiert hätte, ihr mit etwas so Einfachem wie einem Marshmallowsandwich Freude ins Gesicht zu zaubern. Hannah könnte er jedoch ewig betrachten.

»Wie findest du’s?«, fragte er sie mit leicht belegter Stimme.

Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an. »Einfach himmlisch.«

Als er sich gerade fragte, wie er es wohl anstellen könnte, sie zu küssen, redete sie weiter: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, hier aufzuwachsen. Da hast du echt Glück gehabt. Auch weil deiner Mom das Diner gehört. Du kennst bestimmt jeden hier.«

»Pah, das ist es ja gerade, was ich an der Großstadt so mag dort kennt mich keiner. Jedes Mal, wenn ich hier zur Post gehe, fragt mich Frau Hendricks, ob ich etwa schon wieder gewachsen bin.«

Hannah kicherte. »Und, bist du?«

»Vielleicht ein paar Zentimeter.« Das brachte sie wieder zum Lachen. »Ganz im Ernst, es ist sterbenslangweilig hier.«

Als sie betroffen schaute, fügte er schnell hinzu: »Ich meine natürlich nicht mit dir. Ich lebe nur schon so lange am See. Und meine Mom nervt mich auch die ganze Zeit.«

»Als meine Eltern sich hier nach einem Ferienhaus umgesehen haben, waren wir alle zusammen im Diner essen. Deine Mutter hat sich mit uns unterhalten und davon erzählt, wie es sich hier so lebt. Sie war wirklich cool. Und sehr freundlich.«

Er zuckte mit den Achseln. »Ja, ich meine, sie ist schon in Ordnung.«

»Hat sie einen Freund?«

»Nein.«

»Wirklich nicht? Dabei ist sie so hübsch. Geht sie wenigstens manchmal aus?«

Er dachte kurz darüber nach und versuchte, sich seine Mom als Frau und nicht als seine Mutter vorzustellen. »Nö. Sie trifft nie irgendjemanden.«

Vielleicht war das ja ihr Problem. Seine Mutter hatte überhaupt kein eigenes Leben. Kein Wunder, dass sie sich immer in seines einmischen wollte und ihn ständig fragte, ob er mit ihr etwas unternehmen wollte, wandern oder mit dem Ruderboot rausfahren.

Als das Feuer fast heruntergebrannt war, rief Hannahs Mutter sie von der Veranda zu sich ins Haus. »Ich muss los«, sagte sie. »Danke für die Marshmallowsandwich-Lehrstunde.«

Als er zu seinem Fahrrad ging, kam er an ein paar zwielichtigen Typen vorbei, die am Seeufer herumlungerten.

»Willste Feuerwerkskörper?«, fragten sie ihn.

Eigentlich wollte er einfach weitergehen und sie ignorieren, aber dann fiel ihm ein, dass er Hannah wahrscheinlich schwer beeindrucken könnte, wenn er am bevorstehenden Feiertag am 4. Juli einen Geheimvorrat eigener Böller und Raketen vorweisen konnte. Also langte er nach seinem Geldbeutel und gab ihnen ein Bündel der Scheine, die er von seinem Vater bekommen hatte.

Hotshots - Firefighters 3: Verhängnisvolle Wahrheit
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