19
Connor hatte stets von allen Seiten zu hören bekommen, wie mutig er sei. Und er hatte es gerne geglaubt. Schließlich hatte er Dinge geleistet, zu denen niemand sonst imstande gewesen wäre, sich nahezu unüberwindbaren Gefahren gestellt, und war dennoch jedes Mal mit einem Lächeln auf den Lippen aus den Ereignissen hervorgegangen. Er hatte immer nur Glück im Leben gehabt. War von einem Erfolgserlebnis zum nächsten weitergezogen.
Damit war es nach dem Feuer in der Desolation Wilderness vorbei gewesen, so viel stand fest. Damals war er zum ersten Mal mit seiner eigenen Sterblichkeit in Berührung gekommen. Hatte einsehen müssen, dass er kein Superheld war. Trotzdem war Connor immer davon ausgegangen – sogar felsenfest überzeugt gewesen –, dass alles wie früher sein würde, sobald er seine Arbeit wieder aufnahm. Dass er vor nichts Angst haben würde. Immer noch unbesiegbar wäre. Und wenn es hart auf hart käme, jederzeit fähig, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Mit dem Anruf der Forstbehörde hatte dieses Bild von sich selbst jedoch einen Riss bekommen. Aber erst als er Ginger »Ich liebe dich« sagen hörte, war endgültig alles zusammengebrochen.
Denn wenn er ehrlich war, hatte er sich noch niemals etwas so sehr gewünscht oder einen anderen Menschen so sehr gebraucht wie Ginger. Noch nie hatte ihn etwas dermaßen beherrscht, etwas, das außerhalb seiner Kontrolle lag. Sogar ein Feuer folgte gewissen Regeln. Sicher, es konnte einen auch mal überraschen, aber meistens bekam man nur dann einen Denkzettel verpasst, wenn man eine gewisse Grenze überschritt und sich zu weit vorwagte.
Seine Gefühle für Ginger hingegen waren grenzenlos.
Und genau deshalb hatte er versucht, seine Empfindungen mit hartem Sex auszulöschen. Sie von sich weg zu treiben. Doch als ihm das nicht gelungen war, hatte er genau das getan, wovor er sich die ganze Zeit gefürchtet hatte, weil er es hatte kommen sehen.
Er hatte sie verletzt.
»Warum bist du nicht nach oben gekommen?«, hatte sie ihn heute Morgen gefragt, nachdem sie die Treppen zum Wohnzimmer hinuntergestiegen war.
Er hatte sich auf der Couch im Wohnzimmer aufgerichtet und war überwältigt von ihrem Anblick gewesen. Im schwachen Licht der aufgehenden Sonne, das durch die Fenster hereinfiel, war sie wunderschön gewesen.
So verdammt schön.
»Weil ich mir in deiner Nähe nicht über den Weg traue.«
Jedenfalls seit dem gestrigen Abend nicht mehr. An dem sie ihm trotz allem gesagt hatte, dass sie ihn liebte. In dem Moment, als er es am wenigsten verdient gehabt hatte.
Er stand auf. »Ich kann einfach nicht riskieren, dich noch einmal zu verletzen«, sagte er. »Du bist der letzte Mensch auf der Welt, dem ich wehtun möchte.«
Sie war auf ihn zugegangen, als hätte sie ihn nicht gehört, als hätte sie nicht verstanden, dass er sie nur vor sich selbst schützen wollte und vor der unbändigen Wut in ihm, die er nicht länger verdrängen konnte. Erst letzte Nacht war ihm überhaupt klar geworden, welches Ausmaß dieser Zorn besaß.
Die blauen Flecken an ihren Handgelenken hatten ihm die Augen geöffnet.
Sie war nur wenige Zentimeter vor ihm stehen geblieben. Nahe genug, dass er bloß noch an eines hatte denken können – sie an sich zu ziehen, damit er sie mit seinen Lippen und Händen um Vergebung anflehen könnte und sie mit dem ihr gebührenden Respekt behandeln, wie er es bereits gestern Abend hätte tun sollen.
»Ich habe darauf gewartet, dass du zu mir ins Bett kommst, Connor. Die ganze Nacht. Darauf, dass du hochkommst und mit mir redest. Ich wollte das nicht tun. Nach unten kommen und dich dazu zwingen.«
Plötzlich hatte sie wohl selbst bemerkt, wie nahe sie beieinanderstanden, weil sie erst einen Schritt zurückwich, dann noch einen. Mit jedem Zentimeter Abstand zwischen ihnen wurde das Ziehen in seiner Brust stärker.
Dann hatte sie sich schützend die Hände vors Herz gelegt und gesagt: »Ich wollte, dass du den ersten Schritt machst.« Als sie gegangen war, hatte er ihr nachgesehen. Er hatte gehört, wie sie den Motor ihres Wagens angelassen hatte und die Kiesauffahrt hinuntergefahren war.
Seit sie gegangen war, nahm er die Welt um sich herum nur noch wie im Nebel wahr. Er hatte sich auf den Weg zur Werkstatt gemacht und dort nach der größten Axt gegriffen, die er hatte finden können. Immer wieder hatte er damit auf einen Baumstamm eingeschlagen. Doch aller Schweiß der Welt hatte Ginger nicht aus seinem Kopf vertreiben oder das Gefühl verjagen können, dass alles, was er sich wünschte, zum Greifen nahe vor ihm lag.
Nur dass er verdammt noch mal keinen blassen Schimmer hatte, wie er es festhalten sollte.
Nachdem Andrew seinen Mietwagen hinter Poplar Cove geparkt hatte, sah er beim Aussteigen, wie Connor einen riesigen Baumstamm aus dem Wald in Richtung Seeufer zerrte. Schnell eilte er ihm zu Hilfe.
»Ich nehme das andere Ende.«
Connor antwortete zwar nicht, wartete aber, bis sein Vater zugepackt hatte. Herr im Himmel, war der schwer, dachte Andrew, als er den Baum vom Boden hochhob. Kurz darauf atmete er bereits stoßweise und der Schweiß lief ihm in die Augen. Er schaffte es gerade noch so, mit seinem Sohn Schritt zu halten. Aber die Anstrengung tat irgendwie auch gut.
Es war das erste Mal überhaupt, dass er und Connor als Team zusammenarbeiteten.
Endlich kamen sie bei der Hütte an und konnten den Stamm absetzen. Andrew hätte sich am liebsten auf der Stelle in den Sand geworfen, weil ihm die Puste ausgegangen war, aber Connor hatte sich bereits wieder auf den Weg zurück in den Wald gemacht.
Als Andrew angeboten hatte zu helfen, hatte er eigentlich eher daran gedacht, ein paar Nägel einzuschlagen. Und nicht an solche Hauruckaktionen.
Dann musste er jetzt eben umdenken, entschied er, während er seinem Sohn nachschaute, der bereits zwischen den Baumreihen verschwand.
Zwei Stunden später meinte Andrew, jeden Moment einen Herzinfarkt zu erleiden. Die Schmerzen in seinen Armen und im Schultergürtel wollten einfach nicht nachlassen. Bei jedem Schritt, den er tat, stöhnte er laut auf. Aber er wollte sich keinesfalls geschlagen geben oder seinem Sohn zeigen, was für ein Schwächling er war.
Genau in dem Moment ließ Connor den Stamm fallen, den sie gerade trugen. Er krachte so unvermutet zu Boden, dass er beinahe Andrews Fuß zermalmt hätte. Fluchend sprang er aus dem Weg und warf seinem Sohn einen wütenden Blick zu. »Verdammt noch mal, du hättest wirklich etwas sagen können, bevor du ihn einfach so fallen lässt.«
Aber Connor reagierte gar nicht, stand einfach nur da und ballte die Hände zu Fäusten.
Ach, Mist. Connors Hände. Nach dem Unfall waren sie nicht mehr zu gebrauchen gewesen. Jetzt sahen sie zwar immer noch stark vernarbt aus, aber Andrew war davon ausgegangen, dass sein Sohn sie wieder problemlos benutzen konnte. Weil Connor nie etwas anderes angedeutet hatte.
Und er hatte ihn nie danach gefragt.
»Es sind deine Hände, habe ich recht?«, fragte Andrew, nachdem er zu seinem Sohn hinübergegangen war.
»Das kommt und geht«, murrte Connor.
»Was kommt und geht?«
»Die Taubheit. Der Schmerz.«
Andrews instinktive Reaktion war, seinen Sohn beschützen zu wollen. Ihn zu umsorgen, wie er es hätte tun sollen, als Connor noch ein kleiner Junge war.
»Wir sollten uns jemanden suchen, der uns diese Arbeit abnimmt.«
»Einen Teufel werden wir tun.«
Die Heftigkeit in der Stimme seines Sohnes ließ Andrew beinahe vor ihm zurückweichen. »Ich wollte damit nicht sagen, dass du das nicht alles alleine hinbekommst. Ich weiß, dass du das kannst. Aber vielleicht wäre es einfacher, wenn –«
»Scheiß auf einfach«, unterbrach ihn Connor.
Aber Andrew hatte den schmerzerfüllten Ausdruck im Gesicht seines Sohnes bemerkt. »Sei doch kein Idiot«, sagte er. »Du könntest deinen Händen noch mehr Schaden zufügen.«
»Mir geht es gut.«
»Nein«, widersprach Andrew und blickte Connor direkt in die Augen. »Dir geht es gar nicht gut.«
Connor wollte weglaufen, doch Andrew packte ihn am Arm und ließ nicht los.
»Kannst du dir überhaupt vorstellen, was für ein Gefühl es gewesen ist, dich dort im Krankenhaus zu sehen? Am ganzen Körper in Mullbinden gewickelt. Ohne zu wissen, wie schlimm du verletzt bist. Ob du jemals wieder in der Lage sein würdest, deine Hände zu benutzen. Weißt du, wie schwer es ist, das eigene Kind derart leiden zu sehen?«
Während er das sagte, kehrte die Erinnerung zurück. Andrew durchlebte erneut diese ersten, entsetzlichen Stunden, als er immer neue Abkommen mit Gott getroffen hatte.
»Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich dir diese Schmerzen abgenommen. Ich habe Gott gesagt, dass er mich sofort gegen dich austauschen kann, aber er hat mich nicht erhört. Es schien ihm egal zu sein, dass mein Sohn ohnmächtig dort liegt. Ich sah alles vor mir. All die Jahre, die Baseballspiele in der Juniorenmannschaft, die Halloween-Kostüme – all das war fort.«
Während er den Griff um Connors Arm noch verstärkte, schickte Andrew ein stummes Dankesgebet in den Himmel – zu dem Gott, den er damals so gründlich verflucht hatte –, weil er so glücklich darüber war, dass sein Sohn überhaupt am Leben war.
»Ich möchte nicht auch noch die nächsten dreißig Jahre verlieren.«
Connor schüttelte Andrews Hand ab. »Du kommst einfach hierher zurück, um dich ganz heldenhaft zu entschuldigen. Aber manchmal reicht das nicht aus. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Die Botschaft seines Sohnes war eindeutig. Er konnte sagen, was er wollte, sich noch so sehr bemühen, Connor würde ihm nicht vergeben. Gut, dann musste er ja auch nicht länger um den heißen Brei herumreden. Denn er hatte Gingers unglücklichen Gesichtsausdruck heute Morgen auf dem Parkplatz keinesfalls vergessen.
»Was ist da eigentlich mit dir und deiner Freundin los?«
Connor blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich zu ihm um. »Wovon, zum Teufel, sprichst du?«
»Ich habe Ginger heute Morgen getroffen. Beim Diner. Sie wirkte unglücklich. Zwischen euch ist doch irgendetwas vorgefallen, oder etwa nicht?«
»Willst du wissen, was verdammt noch mal vorgefallen ist? Sie hat mich gestern Abend gefragt, wie unser Treffen gelaufen ist.«
»Unser Treffen?«
»Ja, und meine Antwort hat ihr nicht gefallen. Sie hat mir kein einziges Wort geglaubt. Und weil sie auch noch recht hatte, bin ich ausgeflippt und über sie hergefallen.«
Andrew kannte diese Schuldgefühle, die seinen Sohn von innen auffraßen. Vor dreißig Jahren hatte er sich genauso gefühlt, sich bei jedem Atemzug selbst gehasst.
»Du hast ihr wehgetan, weil du auf mich wütend warst?«
»Wütend auf alles, verflucht!«
Dieses Gespräch erweckte in ihm das Gefühl, im Treibsand zu versinken. Aber das war gut. Denn es bedeutete, dass er und Connor aufeinander angewiesen waren, wenn sie da wieder herauskommen wollten.
»Was ist noch passiert, Connor? Spuck’s schon aus.«
»Sie hat gesagt, dass sie mich liebt.« Connor stand reglos da, als würde er erwarten, gleich eins übergezogen zu bekommen. »Sie kann mich nicht lieben. Das ist unmöglich.«
»Herr im Himmel, Connor. So darfst du nicht denken. So kann man doch keine Beziehung mit einer wunderbaren Frau eingehen – wenn man eigentlich überzeugt ist, dass Liebe unmöglich ist. Geh zu ihr. Sag ihr, dass du es verbockt hast. Sag ihr, wie leid es dir tut. Dass du den Rest deines Lebens damit verbringen wirst, es wiedergutzumachen.«
Das waren genau die Dinge, die er damals gerne zu Isabel gesagt hätte. Aber dann war Connors Mutter mit der Nachricht zu ihm gekommen, dass sie schwanger war, und somit war es zu spät für irgendwelche Entschuldigungen gewesen.
»Erwartest du ernsthaft, dass ich mir von dir Ratschläge darüber anhöre, wie man eine Beziehung führt?«
Und dieses Mal musste Andrew seinen Sohn ziehen lassen, denn Connor hatte recht.
Was wusste er schon von Liebe?