25
Als er Ginger auf sich zukommen sah, machte Connors Herz einen Satz.
Er hatte Stärke beweisen wollen, indem er sich von ihr abwandte, um sich ganz alleine seinen Problemen zu stellen. In der Welt der Hotshots gab man niemals auf oder gestand sich irgendwelche Schwächen ein. Aber lag das wirklich daran, dass sie alle so harte Kerle waren? Oder hatte es vielmehr damit zu tun, dass sie sich da oben auf dem Berg jederzeit auf neunzehn andere Männer verlassen konnten, die ihnen den Rücken stärkten? Eine erfahrene Crew von Freunden, die zum Familienersatz geworden waren und die ihnen in jeder Notsituation den Arsch retten und sie aus den Flammen ziehen würden, falls es nötig sein sollte.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube: Ginger war seine Crew.
Wieso hatte er das bloß nicht eher erkannt? Sie hatte ihn unterstützt, ihm verständnisvoll zugehört – und sogar ihr Leben für ihn riskiert. Sie hatte sich ihm vollkommen hingegeben. Und anstatt es ihr gleichzutun, war er vor ihr davongelaufen.
Nach all den Gefahren, denen er getrotzt hatte, stand nun zum ersten Mal sein Herz auf dem Spiel. Zum ersten Mal hatte er sich verliebt, heftiger, als er es je für möglich gehalten hatte.
Sein Vater hatte recht. All die Gründe, warum er Ginger aufgeben sollte, waren eigentlich nur Ausreden. Er wollte genau so für sie da sein, wie sie immer für ihn da gewesen war. Ihr die Hand halten, wenn sie litt. Ihre Erfolge mit ihr feiern.
Sie lieben, egal, was die Zukunft bereithalten mochte. Und ihre Liebe annehmen, ohne irgendetwas infrage zu stellen.
Er würde sich nicht länger von seiner Angst leiten lassen. Sondern alles dafür tun, um sie zurückzugewinnen.
Während er auf sie zuging, schien die Welt um ihn herum stehen zu bleiben. Er spürte die Sandkörner unter seinen nackten Fußsohlen, die Hitze der Sonne auf den Schultern. Hörte die Rufe der Eistaucher, die über den See hallten. Endlich stand sie direkt vor ihm.
Er nahm ihren Anblick in sich auf. Sie wirkte müde. Als hätte sie geweint. Aber dennoch strahlend.
»Du hast mir gefehlt, Ginger.«
Überrascht wich sie einen Schritt zurück, dann blickte sie zu Boden, schloss die Augen und atmete tief durch.
»Ich muss dir etwas sagen, Connor.«
»Ginger, bitte. Lass mich zuerst reden.«
»Nein«, beharrte sie. »Ich muss das loswerden.« Sie straffte die Schultern und reckte das Kinn. »Ich bin schwanger.«
Die Sonne trat hinter den Bäumen hervor, und einen Moment lang war Connor geblendet.
»Sag das noch mal.«
»Ich werde ein Kind bekommen.« Jetzt klang ihre Stimme ganz zittrig. »Unser Baby.«
»Du bist schwanger.« Er brauchte eine Sekunde, um diese unglaubliche Nachricht zu verdauen.
»Wahrscheinlich ist es beim erst… « Sie stolperte über ihre Worte. »In der ersten Nacht. Oder am nächsten Morgen. Zeitlich kommt es ungefähr hin.«
Er machte sich darauf gefasst, negative Gefühle in sich zu spüren. Ein Kind bedeutete schließlich, dass sein Leben, so wie er es bis jetzt gekannt hatte, für immer vorbei war.
Doch unverhoffterweise fühlte er große Erleichterung.
Und pure Freude.
Er nahm ihre Hände, verschränkte seine Finger mit ihren. »Ich liebe dich.«
Ginger blickte erst auf ihre Hände hinunter, dann sah sie mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen zu ihm auf. Und dann löste sie plötzlich ihre Finger aus seinen. Trat einen Schritt zurück.
»Sagst du das jetzt nur, weil –?«
Erneut streckte Connor die Hände nach ihr aus, aber dieses Mal zog er sie an sich. »Verdammt noch mal, Ginger. Ich habe dir gerade gesagt, dass ich dich liebe. Du bist die erste Frau, der ich das jemals gesagt habe.«
»Ich wette, ich bin auch die erste Frau, die du geschwängert hast.«
Was zum Teufel sollte das denn jetzt? Er hatte ihr gerade seine wahren Gefühle gestanden, und sie machte ihm Vorhaltungen?
»Das verstehe ich nicht. Ich dachte, das ist es, was du willst. Ein Kind. Einen Mann, der dich liebt.«
»Ich sehe gar keine Wiesenblumen.«
»Verflucht noch mal, was haben Wiesenblumen damit zu tun?«
»Ich habe dich schon einmal um all das gebeten«, schrie sie ihn an. »Und du hast abgelehnt. Also wag jetzt bloß nicht, mir zu sagen, dass du mich liebst, und verlang dann auch noch, dass ich dir glaube!«
Sie atmete schwer, und ihr Gesicht war gerötet. Sichtlich bemüht, sich wieder zu beruhigen, sagte sie: »Dadurch muss sich überhaupt nichts ändern. Du wirst bald nach Kalifornien zurückgehen. Wir können eine vernünftige Lösung finden. Ich weiß, dass es auch dein Kind ist, und ich werde dafür sorgen, dass du jede Menge Zeit mit ihm oder ihr verbringen kannst.«
»Von wegen dadurch muss sich nichts ändern. Das ändert alles. Du wirst ein Kind bekommen. Mein Kind. Und kein Kind von mir wird ohne Vater aufwachsen.«
»Wenn du mir jetzt noch mit dem H-Wort kommst, dann mache ich dich platt.«
»Du hast recht, zu heiraten ist nicht immer die Lösung. Aber wenn nun mein Wunsch, dich zu heiraten, gar nichts mit diesem Kind zu tun hat? Wenn ich dich vielleicht einfach nur deswegen heiraten möchte, weil ich mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen kann?«
Vor Verblüffung blieb ihr der Mund offen stehen, doch ihr Ausdruck verwandelte sich sofort in Wut.
»Ich leide nicht unter Gedächtnisverlust. Vor vier Tagen bist du ›beiseitegetreten‹«, sie setzte ihre Worte mit den Fingern in Anführungszeichen, »›damit ich die Chance habe, den Richtigen zu treffen‹. Und jetzt willst du seinen Platz einnehmen?«
Er verstärkte seinen Griff um ihre Schultern. »Es ist mein Platz, verdammt!«
Wie hatte es so weit kommen können? Dass sie beide hier am Seeufer standen und sich anschrien? Er bemühte sich, seine Beherrschung wiederzugewinnen.
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich dich liebe, bis du mir endlich glaubst?«
»Ich weiß es nicht, Connor. Ich weiß es einfach nicht.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Das ist heute alles zu viel für mich. Ich brauche ein bisschen Zeit zum Nachdenken.«
»Wie viel Zeit?«
Und wie zum Teufel sollte er sich so lange gedulden, bis sie sich entschieden hatte?
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich jetzt nicht mit dir darüber reden kann.«
Mit einem Mal schienen sie die Rollen getauscht zu haben.
Jetzt war er derjenige, der Forderungen an sie stellte … und sie war diejenige, die ihn abwies.
Josh wartete, bis er hörte, wie seine Mom das Haus verließ, dann rief er seinen Vater an. »Hey, Josh«, meldete dieser sich am anderen Ende der Leitung, »hab gar nicht damit gerechnet, von dir zu hören. Vor allem noch so früh am Tag.«
Josh blickte auf die Uhr – erst halb acht. Aber er hatte einfach nicht mehr länger warten können.
»Ich möchte zu dir kommen, um bei dir zu leben.«
Stille am anderen Ende der Leitung. »Du meinst, du möchtest mich wieder besuchen kommen?«
»Nein. Ich möchte ganz bei dir leben.«
»Hast du mit deiner Mutter darüber gesprochen?«
»Nein, aber sie wird wahrscheinlich froh sein, wenn ich ihr nicht länger im Weg bin, damit sie und dieser Typ zu Ende bringen können, was sie da auf der Motorhaube angefangen haben.«
»Es gibt einen Typen? Auf der Motorhaube?«
»Sie hat mit irgendeinem Arschloch rumgemacht, in das sie angeblich mal verliebt war.«
»Andrew.«
»Ja«, sagte Josh, den der Verlauf des Gesprächs immer missmutiger stimmte. Warum hatte sein Vater ihm nicht längst gesagt, er solle seine Taschen packen? »Also, das ist doch in Ordnung, wenn ich bei dir einziehe, oder?«
»Hey, Junge, du weißt, ich hätte dich liebend gerne bei mir, aber ich werde den nächsten Monat fast die ganze Zeit in Asien sein.«
»Ich komme auch gut alleine klar«, erwiderte Josh. Dann hörte er im Hintergrund eine Frauenstimme. »Ist nur mein Sohn, Liebling«, antwortete sein Vater. »Bin gleich wieder bei dir.«
Nur sein Sohn.
Deutlicher ging es ja wohl kaum. Seine Eltern interessierten sich beide einen Scheißdreck für ihn, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt waren, jemanden flachzulegen.
»Vergiss es«, sagte Josh noch, bevor er den Hörer aufknallte.
Als Isabel im Diner eintraf, hielt ihr Scott den Telefonhörer hin. »Es ist Brian.«
Das wurde ja immer besser. Erst Andrew. Dann Josh. Jetzt Brian. Als hätten sich die Männer in ihrem Leben alle gegen sie verschworen.
»Was gibt’s?«
»Ich wusste, er würde zu dir zurückkommen.«
»Wer? Wovon redest du?«
»Ich habe gerade mit Josh telefoniert. Er hat mir erzählt, dass Andrew wieder aufgetaucht ist.«
Wie war es möglich, dass ihr Ex es selbst nach zehn Jahren noch schaffte, verletzt zu klingen, sobald es um Andrew ging?
Und dass sie sich tatsächlich immer noch schuldig fühlte.
Aber Andrew ging Brian nun wirklich nichts an. »Warum hat Josh dich angerufen?«
»Er will zu mir ziehen.«
»Nein.«
»Keine Sorge«, sagte er schnell. »Ich habe ihm schon gesagt, dass das nicht geht.«
»Herrje, Brian. Waren das deine Worte? Hast du dir mal überlegt, wie er sich dabei fühlt?«
»Und was ist mit dir? Als du mit dem lange verschollenen Andrew auf der Motorhaube beschäftigt warst, hast du dabei an deinen Sohn gedacht?«
Ihr lag ein Du kannst mich mal auf der Zunge, dem ein Gut gekontert gegenüberstand.
»Danke für die Warnung«, brachte sie schließlich heraus. »Ich werde mich nachher in Ruhe mit Josh darüber unterhalten.«
Nachdem Isabel aufgelegt hatte, dachte sie betrübt an ihren Sohn und wie übel ihm die Pubertät mitspielte.
Aber sie selbst fühlte sich auch nicht viel besser.
Denn unabhängig davon, ob sie Andrew je vergeben konnte, ihm jemals wieder würde vertrauen können, würde ihr Sohn ihn doch niemals akzeptieren.
Wenn er sie nicht zusammen auf dem Parkplatz gesehen hätte, dann vielleicht schon. Wenn sie Josh nicht verraten hätte, dass Andrew auch ein Grund gewesen war, warum ihre Ehe mit seinem Vater nicht funktioniert hatte, dann hätte vielleicht alles anders kommen können.
Aber es war nun einmal, wie es war.
Und daran würde sich auch nichts mehr ändern.
Josh tastete nach der halb leeren Zigarettenschachtel in seiner Hosentasche. Er hatte sie vor ein paar Tagen von dem neuen Spüler geklaut, den seine Mutter eingestellt hatte, und sich eingeredet, der Typ würde es sowieso nicht bemerken, weil es nur noch so wenige waren. Es war lange her, seit er das letzte Mal etwas hatte mitgehen lassen. Mit fünf hatte er im Lebensmittelgeschäft eine Wasserpistole eingesteckt, die ihm seine Mutter nicht kaufen wollte. Auch wenn er damals nicht erwischt worden war, hatte Josh sich hinterher schuldig gefühlt – genau wie jetzt.
Er verließ die Hütte durch die Hintertür und lief in das kleine Wäldchen hinein, bis er zu dem Holzstoß zwischen seinem Grundstück und Poplar Cove kam.
Das Haus, in dem das Arschgesicht aufgewachsen war, das es jetzt mit seiner Mutter trieb.
Es war Josh unerträglich, dass er Schuldgefühle wegen der geklauten Zigaretten hatte. Genauso wie es ihm zuwider war, dass er in letzter Zeit anscheinend immer nur alles falsch machte und nie irgendwo richtig dazugehörte.
Er hatte ein paarmal versucht, Hannah zu erreichen, war aber immer direkt zu ihrer Voicemail weitergeleitet worden. Das Schlimmste daran war, dass es seine eigene Schuld war. Sie fand ihn zum Kotzen, weil er seine Mom so angeschnauzt hatte.
Das war ja genau das Problem – manchmal verstand er das alles, dann wusste er, dass seine Mom ihr Bestes gab und dass er derjenige war, der alles versaute. Aber dann wieder gab es Momente, in denen er seine Wut und seinen Frust einfach nicht im Griff hatte.
Die Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer hüpften beim Laufen in seiner Tasche auf und ab, bis er sie hervorholte und in seiner verschwitzten Hand hielt. Eigentlich hatte er gar keine richtige Lust darauf, aber nur ein Loser würde jetzt wieder gehen, ohne eine geraucht zu haben, oder?
Er klopfte eine Zigarette aus der Packung, so wie er es in Filmen gesehen hatte, entzündete ein Streichholz und hielt es an die Kippe. Hoffentlich hatte er sie am richtigen Ende angezündet, dachte er noch, während er sie sich zwischen die Lippen steckte.
Wie er da so mit glühender Zigarette im Mund mitten im Wald stand, kam er sich ziemlich cool vor. Als ob er endlich Kontrolle über sein Schicksal erlangt hätte.
Dann nahm er einen Zug.
Während ihm die Zigarette aus dem Mund und auf die trockenen Blätter fiel, rang er würgend nach Luft. Mist, das war wirklich das Ekelhafteste, was er jemals geschmeckt hatte. Wie konnte sich das jemand freiwillig antun?
Zu seinen Füßen stieg Rauch auf, das trockene Laub neben den Plastiksohlen seiner Tennisschuhe fing rasend schnell Feuer. Als seine Augen endlich zu tränen aufhörten, sah er, wie sich die Flammen ausbreiteten, und zusammen mit den Blättern gingen auch all seine dämlichen Kindheitsfantasien in Rauch auf.
Während er panisch auf dem Laub herumsprang, kam er sich vor wie der letzte Idiot. Am liebsten wäre er zu seiner Mutter ins Diner gerannt, hätte sich mit einem Comic an den Tresen gesetzt und sich von ihr einen dreifachen Schokomilchshake mixen lassen. Wie sie es in seiner Kindheit gemacht hatte.
Als er das kleine Feuer endlich ganz ausgetreten hatte, ging er nach Hause, vergrub die Zigarettenschachtel und die Streichhölzer tief unten im Küchenabfall und stieg unter die Dusche, um den Rauchgestank loszuwerden.