64. Kapitel

08. Juni 2011
Berlin
10.30 Uhr

Der Verkehr an diesem sonnigen Berliner Morgen war mäßig. Ondragon bog mit dem Mietwagen von der Viktoriastraße auf die Einfahrt der BND-Zentrale ab und zeigte am Kontrollposten seinen Ausweis vor. Der Sicherheitsmann öffnete ihm den Schlagbaum, und Ondragon fuhr weiter zum Parkplatz, wo er das Auto abstellte und zum Hauptgebäude hinüberging. Allmählich fühlte er sich wieder ganz hergestellt. Nachdem er Achille in Marrakesch abgesetzt hatte, war er weiter nach Casablanca geflogen und hatte sich dort in einem Krankenhaus gründlich durchchecken lassen. Die giftigen Phosphorgase hatten ihm einfach keine Ruhe gelassen. Doch als sich herausgestellt hatte, dass seine Lunge nur leicht verätzt worden war und er keine weiteren Schäden davontragen würde, war er sehr erleichtert gewesen. Er hatte viel Glück gehabt. Wieder einmal.

Mit einem leichten Lächeln betrat Ondragon den Eingangsbereich der BND-Zentrale. Dort musste er seinen Pass ein weiteres Mal vorzeigen und sein Anliegen äußern. Nachdem er die Sicherheitsschleuse passiert hatte, wurde er von einem Mann in Empfang genommen, der dort auf ihn gewartet hatte.

„Guten Tag, mein Name ist Schröder. Herr Kubicki hat mich über alles informiert. Bitte folgen Sie mir, Herr Ondragon.“ Er reichte ihm weder die Hand noch lächelte er. Dafür hatte er seinen Namen richtig ausgesprochen, was Ondragon wohlwollend quittierte. Doch da war etwas in seinen Augen gewesen, ein abschätzender Blick, der ihn irgendwie irritierte. Kubicki hatte dem Mann bestimmt erzählt, wer er war und was er tat, da war ein gewisses Misstrauen nicht ungewöhnlich.

Ondragon folgte dem Mann, der mit beinahe militärischem Schritt die Gänge durchmaß. Sie stiegen eine Treppe in den ersten Stock empor und marschierten durch einen weiteren trostlosen Korridor, bis sie vor einer unscheinbaren Tür Halt machten.

Ondragon straffte seinen Körper. Dahinter war sie also, dachte er und wurde von jäher Aufregung gepackt. Die Akte, seine Akte. Was würde er daraus erfahren? Dinge über sich und seine Familie? Über seinen Bruder? Kurz dachte er daran, dass er seinen Eltern einen Besuch abstatten könnte, wenn er schon mal in Berlin war, verwarf diesen Gedanken aber rasch wieder. Er hatte keine Lust, seinem Vater zu begegnen.

Der Mann namens Schröder hob eine Hand und sah ihn auffordernd an. Ondragon nickte. Er umfasste die Klinke, drückte sie herunter und öffnete die Tür. Der Raum dahinter war groß. In der Mitte stand ein Tisch, an dem ein grauhaariger Mann saß. Er wandte ihm den Rücken zu. Auf dem Tisch vor ihm lag ein Dokument.

„Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie fertig sind, Herr Ondragon“, sagte Schröder und schloss die Tür.

Unschlüssig stand Ondragon da. Wer war der Kerl dort drüben am Tisch? Nur ein weiterer Aufpasser? Plötzlich hob der Mann die Hand, und Ondragon konnte den Ring an dessen kleinem Finger erkennen. Es war ein Siegelring mit einem eingravierten Drachenkopf.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und schleuderte ihn förmlich zurück. Auf zittrigen Beinen stand er da, stützte sich an der Wand ab und starrte unentwegt auf den Rücken des Mannes, der sich noch immer nicht rührte.

Ich weiß, wer du bist! Ich weiß, wer du bist! Aber ich will nicht, dass du hier bist!

Schließlich gelang es Ondragon, sich aus seiner Starre zu lösen, und näherte sich dem Mann mit vorsichtigen Schritten. Er konnte ihn atmen hören, so still war es.

„Schön, dass du gekommen bist … Paul“, sagte der Mann ruhig und drehte sich um. Mit wässrigblauen Augen sah er ihn an. Verachtung und Kälte lagen darin.

Ondragon glotzte auf ihn hinab. Er spürte, wie ihn sämtliche Empfindungen auf einmal packten: Hass, Zorn und die Tatsache, überrumpelt worden zu sein, doch dazu kam noch etwas, dass er nicht einzuordnen vermochte. Ohnmacht? Oder einfach nur Wahnsinn?

Ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen, pirschte er um den Tisch herum und blieb hinter dem Stuhl stehen.

„Setz dich doch bitte“, sagte sein Vater und wies auf den Stuhl ihm gegenüber.

Nur ungern kam Ondragon dieser Bitte nach. Alles in ihm sträubte sich, doch schließlich gewann er die Überhand über seine brodelnden Gefühle und setzte sich an den Tisch. Er zeigte auf die Akte, die ganz in rosa gehalten war und vollkommen unscheinbar wirkte. ‚Ondragon/Gemini‘ stand auf dem Deckel.

„Bist du hier, um mir das vorzulesen?“, fragte Ondragon eisig. „Oder willst du mich bloß ärgern?“ Und überhaupt, woher weißt du, dass ich hier bin?, durchzuckte es sein Hirn.

Siegfried Ondragons Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. Aber es war alles andere als herzlich, sondern das kalte Drachenlächeln, das Ondragon noch gut aus seiner Kindheit kannte. Angewidert wandte er den Blick ab und zog die Akte zu sich heran.

Ich werde diesen Mistkerl einfach ignorieren und nichts anderes tun, als diese Akte zu lesen! Auch wenn ich es kaum ertrage, mit ihm im selben Raum zu sein. Aber es wäre immerhin eine gute Übung für meine Selbstbeherrschung. Er setzte eine unbekümmerte Miene auf und öffnete den Aktendeckel. Seine Augen weiteten sich in ungewollter Überraschung.

Wieder überkam ihn das Gefühl der Überrumpellung. Hier lief gerade etwas ganz und gar nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte!

„Was soll das?“, blaffte er seinen Vater an. „Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten? Warum ist die Akte leer?“ Er sprang auf und hätte dem alten Ondragon beinahe die Mappe ins Gesicht geschlagen. Doch im letzten Moment besann er sich und schleuderte sie stattdessen in den Raum. Leise flatternd segelte die leere Hülle zu Boden.

Wütend funkelte Ondragon seinen Vater an.

Das Lächeln auf dessen Gesicht verschwand schlagartig. Jetzt war da nur noch diese verhasste, wässrige Verachtung. „Es ist ganz einfach“, sagte Siegfried Ondragon mit unverhohlenem Spott. „Der BND suchte einen Spezialisten für die Beschaffung eines gewissen Gegenstandes, der dir unter dem Namen Pandora bekannt sein dürfte. Zufällig kannte ich jemanden, der für so etwas geeignet ist. Glaube mir, es hat mir nicht gefallen, dass du derjenige warst, aber ich wusste, du würdest nicht nur Pandora finden, sondern auch die verschollene Forschungsstation in der Wüste. Deshalb habe ich dich dem BND empfohlen. Und da ich dich nun einmal sehr gut kenne, habe ich Herrn Kubicki auch gleich noch dazu geraten, dir einen besonders schmackhaften Anreiz zu bieten. Die Akte.“

„Die es gar nicht gibt!“

„Genau, die Akte war nur ein Köder. Und du hast ihn geschluckt.“ Scheinbar mitleidig schüttelte Siegfried Ondragon den Kopf.

Vor Ondragons Augen legte sich ein roter Schleier. Sein eigener Vater hatte ihn reingelegt. Siegfried Ondragon hatte ihn instrumentalisiert und riskiert, dass sein Sohn bei diesem Auftrag draufging!

Eine Bombe aus Feuer und Zorn explodierte in Ondragons Magen. Und plötzlich wusste er, welches Gefühl es gewesen war, das er vorhin nicht hatte einordnen können. Es besaß eine unwiderstehliche Kraft und erfüllte ihn mit einem mächtigen Verlangen. Mordlust!

Was war schon dabei? Er könnte seinen Vater umbringen, hier und jetzt. Dann wäre er ihn ein für alle Mal los. Problem gelöst! Der Gedanke war verlockend und in seinen Händen zuckte es. Sein Blick wanderte zu dem dürren Hals. Er konnte die Vene unter der fahlen Haut förmlich pochen sehen. Es wäre so einfach.

Doch dann war der Moment vorüber. Ondragon musste blinzeln und der rote Schleier verschwand. Er hatte sich wieder im Griff. Nicht anderes zählte. Da bemerkte er seine verkrampften Hände und schüttelte sie.

„Du bist so jämmerlich, Paul! Man kann dir zu jeder Zeit ansehen, was du denkst“, sagte sein Vater abfällig. „Und jetzt denkst du, du hättest dich wieder unter Kontrolle, nachdem du mich eben noch umbringen wolltest. Nicht war?“

Ondragon warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Ja, genieße nur deinen kleinen Sieg, alter Mann, aber pass auf, dass er sich nicht am Ende noch gegen dich richtet!

„Weiß Mutter, dass du hier bist? Weiß sie, was für ein schmutziges Spiel du treibst?“, fragte er mit dem Geschmack von bitterer Galle auf der Zunge. Es war an der Zeit, alle Lügen seiner Familie aufzudecken.

Sein Vater warf ihm einen überheblichen Blick zu. „Aber ja, natürlich. Ava wartet unten. Du kannst sie sehen, wenn du möchtest. Sie würde sich freuen.“

Ondragons Gesichtsmuskeln gefroren und eisige Kälte floss seinen Rücken hinunter, doch er zwang sich zu einer letzten Frage: „Und wie lange geht das schon? Mit dir und dem BND?“

Siegfried Ondragon schürzte die Lippen. Dann lehnte er sich gemächlich vor und setzte eine mitleidige Miene auf. „Ach, Paul“, sagte er leise, „wenn du wüsstest …“