13. Kapitel

22. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
15.02 Uhr

Es war bereits Nachmittag und Ondragon hockte erneut auf seinem Beobachtungsposten in dem verfallenen Gebäude am Hafen. Mit dem Laptop auf den Knien verfolgte er aufmerksam die Kameraübertagung von Charlizes Spionagebrille. Er musste sich den Weg zum Labor, den Grundriss und die Sicherheitsvorkehrungen auf dem Areal gut einprägen, damit er sich dort später im Einsatz blind zurechtfand. Ritter und Steiner war es derweil gelungen, die Kameraverbindung mit Hilfe eines zwischengeschalteten Verstärkers, den Charlize mit Klebestreifen unauffällig unter einen Tisch im Labor geheftet hatte, wieder herzustellen.

Möglich, dass der Ausfall am Vortag tatsächlich auf eine störende Interferenz zurückzuführen war, dachte Ondragon. Wie auch immer es sich verhielt, wenigstens hatte er jetzt wieder ein Bild. Nebenbei lauschte er der Stimme von Ritter, die Charlize beharrlich Anweisungen erteilte. Die BND-Agentin hatte am Morgen seltsam nervös gewirkt und auf eine schnelle Beendigung der Operation gedrängt. Am liebsten, so schätzte Ondragon, hätte sie die Kiste schon gestern Abend in Empfang genommen. Er sah, wie Charlize ihren Blick noch einmal unauffällig durch das ganze Labor schweifen ließ, damit er alles sehen konnte.

„Gut, ich hab’s“, flüsterte es ins Mikro. „Danke.“

Charlize formte mit den Händen ein Zeichen. Sie hatte verstanden. Danach machte sie sich mit Gummihandschuhen bewaffnet an eine mikroskopische Untersuchung, zu der sie von Dr. Lima eingeteilt worden war. Ein Glasplättchen nach dem anderen legte sie auf den Objekttisch des Mikroskops und notierte etwas auf einem Klemmbrett. Im Hintergrund unterhielten sich die anderen Wissenschaftler derweil angeregt. Leider war Charlizes Mikro zu weit von ihnen entfernt, als dass Ondragon viel verstehen konnte.

„Was quatschen die da?“, fragte er leise.

Da Charlize nicht antworten konnte, schrieb sie etwas auf einen kleinen Zettel und hielt ihn vor die Kamera. Sie überprüfen die Handschrift aus dem Logbuch. Es sind wohl zwei verschiedene.

„Und, zu welchem Schluss kommen sie?“, wollte Ondragon wissen.

„Ich bitte um Ruhe auf dem Kanal! Das Tonband läuft mit!“, funkte Ritter scharf dazwischen.

Charlize schrieb etwas und hielt es hoch.

FUCK U!

„Tanaka! Ich bitte Sie nur noch um einen einzigen Tag Disziplin! Ist das zu viel verlangt? Danach können Sie Ihren reizenden Hintern wieder auf ihren Sekretärinnenstuhl setzen, wenn Sie das wollen!“

Ondragon rollte mit den Augen. Charlize übertrieb es ein wenig mit ihrer Widerborstigkeit. „Charlie-Schätzchen, bitte tu, was Frau Ritter sagt, ja?“

Die Onibaba soll aufhören, mich rumzukommandieren, als sei ich ihre Leibeigene, sonst mach ich gar nichts mehr, schrieb Charlize mit wütender Hand.

„Ich bitte dich, tu es für mich“, flüsterte Ondragon und hoffte, sie würde auf ihn hören.

Charlize zögerte. Er konnte förmlich spüren, wie sie mit ihrem Stolz rang.

Na gut, schrieb sie dann und zerknüllte den Zettel. Danach füllten wieder Objektträger und Klemmbretter das Bild. Die murmelnden Stimmen im Hintergrund setzen ihre Debatte fort. Plötzlich begann es in der Funkverbindung zu knacken und eine Sekunde später klingelte Ondragons Handy in die Stille hinein.

„Verflucht, was ist das?“, fragte Ritter.

„Mein Telefon, sorry“, entschuldigte er sich „Ich erwarte einen dringenden Anruf.“ Er sah auf das Display. Es war Strangelove. Ondragon stand auf, legte Mikro und Earpiece ab und ging zum anderen Ende des Raumes. Dann nahm er den Anruf entgegen.

„Mein Ufo-Kollege würde Sie furchtbar gerne anrufen“, sagte Strangelove ohne große Begrüßung. „Er meint, dass Ihr Anliegen äußerst interessant sei und er einiges darüber zu erzählen hätte!“

„Okay, dann gib mir seine Nummer! Wie heißt der Kerl eigentlich?“

Strangelove diktierte ihm Namen und Nummer des Ufologen und verabschiedete sich mit einem scherzhaften „Leben Sie lang und in Frieden“.

Diese geeks!

Ondragon wählte die Nummer. Leichter Unmut überkam ihn. Er war eigentlich nicht bereit, sich das Gefasel eines Ufospinners anzuhören, aber mit wem sollte er sonst über diese Sache sprechen? Diese Kröte musste er wohl schlucken.

„Ja?“, meldete sich nach scheinbar ewigem Klingeln eine Stimme, die so quiekend klang, als befände sie sich im Stimmbruch.

„Hallo? Sind Sie Truthfinder?“ – Was für ein bekloppter Name!

Hey yo, der bin ich!“, antwortete der Typ stolz.

„Strangelove hat mit Ihnen über mich gesprochen. Ich bin Mr. O.“

„Oh, wow! Dass Sie sich tatsächlich melden! Ich dachte schon, Sie würden sich nicht trauen!“ Truthfinder lachte schrill und seine Mickey-Mouse-Stimme überschlug sich dabei. Mit dem Kerl stimmte doch was nicht. Und damit meinte Ondragon nicht nur dessen Hang, sich mit Ufos zu beschäftigen. Der war doch nicht ganz allein zu Haus.

„Ähm, gestatten Sie mir vorweg eine Frage, Truthfinder?“

„Nur zu!“

„Wie alt sind Sie?“

Truthfinder kicherte. „Was schätzen Sie denn?“

„Ganz ehrlich, so wie Sie klingen, vierzehn!“

„Bingo!“

„Was?“, entfuhr es Ondragon entgeistert. „Wollen Sie mich verarschen?“

„Nö, wieso?“

Ondragon bleckte die Zähne. Woher, bei den stählernen Titten von Seven of Nine, sollte ein Vierzehnjähriger Ahnung von Ufos haben, geschweige denn von den Grundlagen der Physik? Was hatte sich Strangelove bloß dabei gedacht, ihn an diesen Schuljungen zu vermitteln? Er wollte gerade auflegen, weil ihm das Ganze zu bescheuert wurde, da sagte Truthfinder etwas, das ihn innehalten ließ.

„Wiederholen Sie das bitte“, sagte Ondragon, denn er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.

„Ich habe einen Master in Elementarteilchenphysik und einen Doktor in Quantenmechanik. Momentan beschäftige ich mich mit der Erforschung der Nullpunktenergie und dem Nachweis einer Verbindung zwischen der Äthertheorie des 17. Jahrhunderts und der Einstein‘schen Relativitätstheorie. Beides verträgt sich nämlich nicht so gut miteinander, müssen Sie wissen. Und was den Chemikalien-Panscher Strangelove angeht, den kenne ich aus der Hochbegabtenförderung von der Stanford University.“

„Ah … ja. Ähm …“ Ondragon war sprachlos, brachte aber kurz darauf doch noch eine Entschuldigung zustande.

Yo, kein Ding, Mann“, verzieh ihm Truthfinder leichthin. „Sie sind nicht der Erste, der denkt, ich wolle ihn auf den Arm nehmen. Als Beweis für meine Befähigung lege ich Ihnen gerne die Grundzüge des Casimir-Effektes auf zwei leitende Platten im Vakuum dar, mit dem man die Nullpunktenergie experimentell nachweisen kann, bisher aber leider nur indirekt, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Nein, nein, nicht nötig. Danke, ich glaube Ihnen auch so. Also gut, dann vergessen wir mal meinen kleinen Fauxpas von eben und fangen noch mal von vorne an.“ Langsam fand Ondragon zu alter Souveränität zurück und heftete den Fehltritt schnell in die spontan neu angelegte Akte „Fettnäpfchen – von der Größe des Lake Superior“ ab.

„Von mir aus, wie Sie wünschen“, stimmte das mäusestimmige Wunderkind zu. „Hey yo, ich bin Truthfinder und Sie sind Mr. O. Nett, Sie kennenzulernen. Und so weiter, und so fort. Machen wir es kurz. Sie hatten eine Frage, die lautete: Kann die Forschung von Nikola Tesla auf dem Gebiet der Wellentechnologie mit Nazi-Flugobjekten in Verbindung gebracht werden? Die Antwort lautet: Ja und nein!“

„Wie soll ich das verstehen?“ Ondragon war irritiert.

That‘s easy“, entgegnete Truthfinder sachlich. „Es gibt Leute, die behaupten, dass 1943 zwei von Hitlers Spionen nach New York kamen und Tesla einen Besuch abstatteten. Klingt abgefahren, ich weiß, aber die Spione sollten die geheimen Notizen stehlen, die er in einem Tresor in seinem Hotelzimmer aufbewahrte. Nach ihrem Besuch war Tesla tot. Sie wissen vielleicht, dass Tesla nach seinem Ableben nicht sofort entdeckt wurde, es dauerte drei Tage, bis das Zimmermädchen ihn fand!“

„Nein, das wusste ich nicht“, entgegnete Ondragon.

„Tesla war zu dieser Zeit ein einsamer Mensch und es ist traurig, dass er niemanden bei sich hatte, als es zu Ende ging. Außer den beiden Spionen, wenn man dem Gerücht glauben mag. Der herbeigerufene Arzt bescheinigte ihm jedenfalls ein natürliches Ableben, verursacht durch einen Herzanfall. Tja, Tesla war immerhin 87 Jahre alt, da stellte niemand Fragen. Nur wenige Stunden später rückte die Kavallerie an. Das FBI krempelte sein gesamtes Hotelzimmer um und beschlagnahmte alles, was es in die Finger kriegen konnte. Aber zwei Dinge fehlten angeblich: ein kleines Notizbuch und Teslas Edison-Medaille. Daraus entstand schließlich das Gerücht, dass die Nazi-Spione beides mit nach Deutschland genommen hätten.“

„Eine recht abenteuerliche Geschichte, wenn Sie mich fragen. Gibt es Beweise dafür?“ Bei der Erwähnung der Medaille war Ondragon hellhörig geworden und seine Zentrifuge lief in dem Modus ‚Kettenkarussell außer Kontrolle‘.

„Keine Beweise, Mr. O. Es gibt aber dubiose Schriftstücke, Berichte eines deutsch-amerikanischen Doppelagenten, die besagen, dass es tatsächlich eine von den Nazis gesteuerte Mission zur Beschaffung von Teslas Forschungsergebnissen gegeben hat. Die Echtheit der Dokumente wird allerdings stank angezweifelt. Tesla hatte in seinen letzten Jahren behauptet, einige sehr bedeutende Erfindungen gemacht zu haben, darunter eine extrem gefährliche Waffe. Mit ihr wollte er jedoch nicht die Welt zerstören, sondern einen endgültigen Frieden zwischen den Nationen schaffen. Tesla war Zeit seines Lebens Pazifist, müssen Sie wissen. Die Nazis könnten also durchaus seine Forschungserkenntnisse für kriegsentscheidend gehalten haben und – wenn man dem Bericht des Doppelagenten glaubt – demensprechend gehandelt haben, um an die Technologie zu gelangen.“

„Um was für eine Waffe ging es da?“

„Eine Art Todesstrahl. Kurz gesagt: eine Strahlenkanone mit unvorstellbarer Zerstörungskraft. Sie sollte von überall auf der Welt errichteten Türmen aus auf beliebig viele Ziele gelenkt werden können. Total krass!“

„Ahem, ja. Waren dabei auch fliegende Untertassen im Spiel? Ich habe gehört, dass die Nazis an einem Flugobjekt namens ‚Die Glocke‘ forschten.“

Truthfinder stieß amüsiert Luft aus. „‚Die Glocke‘ ist ein Ammenmärchen. Es gibt keinen einzigen Beweis für ihre Existenz. Ich bezweifle, dass es derartige Forschungen in Nazi-Deutschland gegeben hat. Das ist postnationalsozialistisches Propagandagequatsche, oder wie man das nennt. Wahr ist dagegen, dass die Forschungen Teslas auf dem Gebiet der Strahlen- und Wellentechnologie als bahnbrechend galten. Nur weiß man bis heute nicht, wie weit sie gediehen waren. Leider gibt es kaum jemanden, der seine Arbeit komplett versteht.“

„So wie bei Einstein?“

Yo, Mann! So ist es. Weltweit existieren nur ein paar Typen, die seine Relativitätstheorie nachvollziehen können.“

„Und Sie gehören dazu?“, hakte Ondragon spaßeshalber nach.

Truthfinder schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Ich gebe mein Bestes. Aber manchmal gibt es Menschen, die für etwas berührt wurden, das niemand je begreifen wird. Nikola Tesla war für mich solch ein Genie, genau wie Einstein. Wer von den beiden Gorillas der größere im Ring war, werden wir vermutlich nie erfahren. Dafür fehlt selbst mir der Grips. Aber eines ist klar, Tesla war ein zu früh geborener Geist der Moderne, ein Visionär. Er hat sogar das Handy vorhergesehen, und das war 1907! Damals in seiner Autobiografie schrieb er: ‚Ein kleiner handlicher Apparat, mit dem in Zukunft jeder Mensch in der Lage sein wird, rund um den Globus Nachrichten, Töne, Bilder und Energie zu empfangen.‘ Ist das nicht cool? Stellen Sie sich vor, Tesla würde heute leben, anstatt vor hundert Jahren. Wohin hätten seine Fähigkeiten ihn mit Hilfe der modernen Technik gebracht? Wohin hätte er uns gebracht?“

Ondragon schwieg, weil er sich das nicht vorstellen konnte.

„Sehen Sie! Es ist zu groß für den menschlichen Verstand. Aber kehren wir zurück zu Ihrer Frage. Soeben haben wir über die Möglichkeit gesprochen, wie Teslas Technologie zu den Nazis gelangt sein könnte. Kommen wir jetzt zu der zweiten Variante, und diese steht ganz klar für das Nein, das ich Ihnen am Anfang unseres Gesprächs genannt habe. Ich persönlich glaube eher an die zweite Version, in der nämlich das Zimmermädchen zuerst Teslas Neffen benachrichtigte, bevor sie den Arzt informierte. Die drei Personen, die kurz darauf herbeieilten, öffneten den Tresor. Dem FBI-Bericht zufolge sahen sie sich den Inhalt des Safes im Beisein von drei Hotelangestellten an und entnahmen als Andenken nichts weiter als einen Packen Glückwunschkarten zum 75. Geburtstag Teslas sowie ein paar Fotos. Das besagte Notizbuch und die Edison-Medaille ließen sie aber angeblich im Tresor, den sie wieder verschlossen. Erst als das FBI Teslas Besitz Jahre später an den Neffen zurückgab, öffnete dieser den Tresor erneut. Das Notizbuch und die Medaille waren verschwunden. Natürlich beschuldigte der Neffe das FBI, es hätte beides einbehalten, aber das Bureau wies diesen Vorwurf zurück. Sie hätten alles wieder ordnungsgemäß zurückgegeben. Die meisten Dinge aus Teslas Besitz befinden sich heute in einem Museum in Belgrad, das der Neffe zu Ehren seines Onkels eingerichtet hat. Wo sich das Notizbuch und die Medaille befinden, weiß allerdings niemand.“

Ich weiß, wo die Medaille ist, dachte Ondragon. Ob ich ihm davon erzählen soll? Er blickte auf das Display seines Handys. Noch immer wartete er auf die Antwort von seinem FBI-Freund. Der Bericht über die Beschlagnahmung von Teslas Besitztümern interessierte ihn brennender denn je. Aber der gute George Hurley hüllte sich in Schweigen. Also doch Truthfinder hinzuziehen? Konnte er es wagen? Der Wunderknabe machte ja entgegen aller Befürchtungen einen anständigen Eindruck.

„Kann ich Ihnen vertrauen?“, fragte er schließlich.

„In welcher Hinsicht?“

„Dass Sie das, was ich Ihnen gleich sagen werde, nicht in Ihrem Forum posten oder sonst jemanden erzählen?“

„Sie haben mein Wort, Mr. O. Ich schwöre bei der Heisenberg‘schen Unschärferelation, dass ich es für mich behalte!“

Was das zählte, konnte Ondragon nur vermuten. Es war ein Risiko, aber er entschloss sich, es einzugehen. „Ich habe die Edison-Medaille gesehen!“, sagte er schließlich. „Ich weiß, wo sie ist.“

„Krass, Mann! Wirklich?“, rief Truthfinder begeistert aus. „Und welches der beiden Gerüchte stimmt nun?“

„Das erste, so leid es mir tut. Das mit den Nazi-Spionen.“

Stille folgte. Dann: „Oh, shit!

„Aber ich kann Ihnen noch etwas anderes verraten, Truthfinder“, fügte Ondragon hinzu. „Die Medaille wurde in einem Flugzeug gefunden, einer Junkers 390 von 1943. Die Maschine ist vor der Küste Brasiliens ins Meer gestürzt, Teile davon wurden kürzlich geborgen.“

Immer noch herrschte Funkstille am anderen Ende. War Truthfinder schockiert oder verarbeitete er im Geiste gerade das Einstürzen seiner favorisierten Theorie, in dem das FBI der Buhmann war?

„Was sagen Sie dazu?“, drängte Ondragon. Das Gespräch dauerte jetzt schon ziemlich lange und er musste dringend zurück auf seinen Posten, um zu schauen, was Charlize machte.

„Ich weiß nicht, Mann. Wissen Sie vielleicht auch, wo das Notizbuch ist?“

Ondragon zögerte, entschied sich dann aber für eine Gegenfrage. „Warum ist das Buch so wichtig? Was könnte darin stehen?“

„Nun, die einen sagen, das Notizbuch beinhalte Teslas Aufzeichnungen zum Todesstrahl, die anderen behaupten, dabei handele es sich um seine Forschungsunterlagen zu Flugobjekten mit Antigravitationsantrieb.“ Truthfinder seufzte hörbar. „Mr. O, ist das wirklich wahr, was Sie mir da erzählen? Ist das kein Scherz? Die Medaille befand sich tatsächlich in den Händen der Nazis?“

„Es ist wahr!“, bestätigte Ondragon. „Ich kann Ihnen gerne ein Foto der Medaille schicken, wenn Sie das wollen.“

Fuck! … Das wirft alles über den Haufen, was ich bisher über die Geheimnisse um Tesla zu wissen geglaubt habe! Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich unser Gespräch an dieser Stelle beende, aber diese unerwartete Wendung bedarf einer gründlichen Neubewertung der Fakten.“

„Nichts für ungut, Truthfinder. Sie haben mir bereits mehr geholfen, als ich mir erhofft habe. Und entschuldigen Sie nochmals meine anfängliche Skepsis.“

„Sie sind in Ordnung, Mr. O. Sie können mich jederzeit wieder anrufen.“

„Das Angebot nehme ich gerne an, Vielen Dank“, sagte Ondragon und verabschiedete sich von dem sonderbarsten Menschen, mit dem er je telefoniert hatte. Danach eilte er zum Laptop und steckte sich das Earpiece ins Ohr.

„… verdammt noch mal, lassen Sie mich ich Ruhe, Sie Xanthippe!“ Das war Charlizes Stimme und sie klang sehr erregt.

„Kehren Sie sofort wieder an Ihren Einsatzort zurück, Tanaka. Das ist ein Befehl!“ Das kam von Ritter. „Sie arbeiten für uns und unterstehen unserer Weisung! Alles andere ist Insubordination und wird geahndet!“

„Insubordination! Am Arsch! Sie –“

Plötzlich herrschte nur noch Stille. Irritiert klopfte Ondragon auf das Earpiece. Hatte jemand die Übertragung unterbrochen? Er blickte auf den Bildschirm. Oh-oh! Dort wackelte das Bild der Kamera heftig hin und her. Er erkannte die Außenwand des verwahrlosten Gebäudes, in dem er sich gerade aufhielt, und die eingetretene Tür. Dann hörte er unten Schritte. Rasch stand er auf und ging zur Treppe, an deren Fuß wenig später seine Assistentin erschien. Fluchend kam sie zu ihm hinaufgestapft, riss sich die Brille von der Nase und drückte sie ihm in die Hand. Danach schob sie sich wie ein Bulldozer an ihm vorbei und zog wütende Kreise durch den Raum.

„Diese Hexe! Diese Agenten-Schlampe!“

„He! Jetzt komm mal runter, Charlize!“, rief Ondragon sie zurecht. „Du lässt uns noch komplett auffliegen!“

Charlize hielt inne und starrte ihn an. „Hältst du jetzt etwa auch noch zu dieser blonden Harpyie?“

„Nein, natürlich nicht! Aber das Ganze hier sollte auf einem gesitteten Level ablaufen.“ Ondragon nahm erneut unten Schritte wahr und griff nach seiner Waffe, obwohl er bereits ahnte, wer da kam. „Ich weiß, dass du Ritter nicht magst“, flüsterte er Charlize zu, „aber übertreib es bitte nicht!“

Charlize atmete lautstark aus, ihr Samurai-Blick schnitt wild durch den Raum. Dann nickte sie widerstrebend. Keinen Augenblick zu früh, denn da tauchte Ritter auch schon an der Treppe auf. Mit ärgerlicher Miene kam sie auf sie zu. Steiner folgte ihr wie ein treuer Dackel.

„Verdammt noch mal, Tanaka, was sollte das?“ Ritter packte Charlize an der Schulter und wirbelte sie herum. „Steiner! Filzen!“

Der Agent befolgte den Befehl und durchsuchte Charlize.

„He, nicht tatschen, verstanden?“, keifte Charlize und schlug Steiners Hand weg.

„Sie halten die Schnauze, Tanaka, und lassen die Durchsuchung gefälligst über sich ergehen! Derweil wechsele ich ein Wörtchen mit ihrem ‚Chef‘!“ Ritter wandte den Kopf und trat dicht vor Ondragon. Ihre grellblauen Augen stachen tief in die seinen. Sie war ihm so nahe, dass er die Sommersprossen auf ihrer vor Aufregung bebenden Nase zählen konnte. Halbwegs gelassen schaute er zurück. Die unmittelbare Nähe dieser Frau war ihm keineswegs unangenehm. Im Gegenteil. Ihre vor Zorn geröteten Lippen, die Myriaden von Sommersprossen auf ihrem Gesicht! Einfach wundervoll! Mit Wonne kostete er diesen unverhofften Anblick aus.

„Ihre Assistentin ist suspendiert!“, zischte Ritter in hartem Deutsch.

„Das tut mir leid“, entgegnete Ondragon höflich. „Ich entschuldige mich hiermit für das ungebührliche Verhalten von Miss Tanaka. Sie ist sonst sehr zuverlässig.“

Spöttisch verzog Ritter ihre Lippen. „Daheim am Schreibtisch vielleicht.“

„Nein, sie ist eine exzellente Mitarbeiterin, besonders im Außendienst. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist. Aber wenn wir schon bei gegenseitigen Vorwürfen sind: Warum haben Sie vorhin einfach so die Übertragung unterbrochen? Wie soll ich mit Ihnen Kontakt halten, wenn Sie während einer laufenden Operation die Verbindung kappen?“

Ritters Augen sprühten blaues Feuer, als sie antwortete. „Die Operation wurde auf meinen Befehl hin abgebrochen, weil ich sie durch das stümperhafte Verhalten von Miss Tanaka gefährdet sah. Außerdem lasse ich mich nicht gern beschimpfen. Erst recht nicht von einer Amateurin!“

„Sie ist sauber!“, erklang Steiners Stimme aus dem Hintergrund.

Ondragon blickte zu ihm hinüber. Charlizes Gesichtsausdruck hätte sämtlichen Dämonen der Hölle Angst eingejagt.

„Okay“, sagte Ritter zu Steiner. „Schicken Sie Miss Tanaka weg!“ Sie wandte sich an Ondragon. „Sie werden erst wieder mit Ihrer Assistentin Kontakt aufnehmen, wenn die Mission abgeschlossen ist, vorher nicht! Verstanden? Und ich warne Sie, wir werden Sie beide überwachen. Versuchen Sie also keine Tricks!“

„Klar“, sagte Ondragon und dachte: Mist! Er fing Charlizes Höllenblick auf und sagte beschwichtigend: „Schon gut, Charlize. Geht jetzt. Wir sehen uns, wenn alles vorbei ist bei mir im Hotel.“

Charlize nickte, strich sich die Wangen glatt, als würde sie damit ihren Zorn besänftigen können, und ging erhobenen Hauptes die Treppe hinab. Prüfend sah Ondragon ihr hinterher. Ob sie die versteckte Botschaft verstanden hatte?

Als seine Assistentin verschwunden war, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Agentin, die immer noch ungerührt vor ihm stand.

„Zufrieden?“, fragte er.

Ritter starrte furchtlos zurück. Dann nickte sie, jedoch ohne ihn aus ihrem Blick zu entlassen. Ondragon war beeindruckt. Solchen Blickduellen hielten normalerweise nicht viele Menschen stand. Fräulein Ritter war tatsächlich eine Eiskönigin. Aber eine, die ihre Gefühle nicht einfror, sondern in einem wütenden Schneesturm freisetzte. Ausnahmsweise würde Ondragon ihr diesen Sieg schenken. Sollte sie sich daran erfreuen.

Scheinbar beiläufig beendete er den Blickkontakt und richtete seinen Fokus auf die verschimmelte Wand hinter ihr, dabei fragte er mit falscher Unterwürfigkeit: „Was ist mit Pandora? Wird die Mission fortgesetzt?“

Er bemerkte, wie Ritters Blick etwas nachgiebiger wurde, und auch ihre Stimme bekam wieder einen wärmeren Klang. „Sind Sie sicher, dass Sie das schaffen, jetzt, wo sie allein operieren müssen? Wir dürfen kein Risiko eingehen.“

„Ich habe alles, was ich brauche, um Ihnen die Kiste zu beschaffen. Heute Nacht gehört Pandora Ihnen!“

Ritter entspannte sich. Der Blizzard hatte sich gelegt und die Sonne war wieder auf ihrem Gesicht erschienen. „Das kling gut“, sagte sie. „Immerhin hat Tanaka es geschafft, sämtliche Bilder und Daten auf dem Rechner im Labor zu löschen, bevor sie ihren unrühmlichen Abgang hatte. Zum Glück scheint sie bei den Kollegen im Labor keinen Verdacht erregt zu haben, sonst hätten wir jetzt einpacken und uns etwas Neues einfallen lassen müssen.“ Sie lächelte tiefgründig. „Die Operation läuft heute Nacht wie besprochen. Wenn der Inhalt der Kiste verifiziert wurde, setzen wir uns mit Ihnen in Verbindung zwecks des vereinbarten Honorars. Und seien Sie beruhigt, Mr. Ondragon, wir halten unser Wort!“

„In Ordnung. Sonst noch was?“

„Nein, das wär’s. Sie können jetzt gehen und sich auf Ihre Aufgabe vorbereiten.“ Ritter trat einen Schritt zurück und entließ ihn aus ihrer alles gefrierenden Aura.

Ondragon widerstand dem Drang, seine Gänsehaut abzuschütteln, die diese Frau bei ihm verursachte, und ging etwas steifbeinig zum Netbook hinüber. Dort packte er alles in seinen Rucksack und händigte Ritter Charlizes Kamerabrille aus, die er die ganze Zeit über in den Händen gehalten hatte. Mit einem knappen Nicken verabschiedete er sich von den beiden BND-Agenten und verließ das verfallene Gebäude. Als er außer Sichtweite war, breitete sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht aus. Das Ablenkungsmanöver von Charlize hatte perfekt funktioniert.