28. Kapitel

19. August 1899
Colorado Springs
am Mittag

Kurz vor zwölf Uhr war alles bereit. Mit vereinten Kräften hatten sie das zweite Terminal, eine übermannshohe Röhre aus Kupfer mit einem kuppelförmigen Dach, nach draußen geschafft und auf einem ebenen Stück Prärieboden aufgestellt. Die Röhre war mit einem isolierten Draht umwickelt, dessen Ende im Prärieboden verankert wurde. Durch ihn sollte die Energie über die Erde in die Spule gelangen und von dort aus an das Terminal auf dem Pikes Peak übertragen werden. Die auf dem Gipfel ankommenden Frequenzen würden von einem kleinen Messapparat aufgezeichnet und später ausgewertet werden können. Bei dem hiesigen Terminal sollte eine an der Röhre befestigte Glühlampe anzeigen, ob der Strom wie vorgesehen floss.

Aufgeregt stand Philemon neben dem kleinen Turm aus Kupfer und sah zum Laborgebäude hinüber. Er trug seine Gummischürze und die Schuhe mit den isolierenden Sohlen, auf denen er ungeduldig hin und her wippte. Er war der leitende Assistent und würde beweisen, dass er das Zeug dafür hatte.

Czito war für diesen Versuch die Bedienung des Hauptstromschalters zugeteilt worden und Löwenstein überwachte die Funktion der Spulen im Innern des Gebäudes. Ob die beiden ihm wegen dieser Einteilung gram waren, konnte Philemon nicht sagen. Er hörte schlagartig auf zu wippen, als Dr. Tesla in der Tür des Labors erschien und mit einem erwartungsvollen Lächeln zu ihm hinausspähte. Wie immer würde das Experiment auf sein Signal hin beginnen.

Da hob der Doktor auch schon eine Hand, und Philemon wusste, dass nicht nur seine Spannung bis ins Unerträgliche stieg, sondern auch die der großen Spule im Labor. Immer lauter wurde das Summen der Transformatoren, während sie immer höhere Spannungen produzierten.

Dann war es soweit. Teslas Hand fiel nach unten und Czito schloss den Schalter. Ein Knallen ertönte und das Summen wurde so stark, dass Philemon es selbst auf diese Entfernung in seinem Bauch spüren konnte. Er hob den Stift und begann mit seinen Notizen auf einem Schreibbrett. Er wollte seine Beobachtungen so präzise wie möglich festhalten, damit die anderen später davon beeindruckt wären. Er hörte, wie die anderen Ausrufe der Begeisterung ausstießen, und bemerkte, dass neben ihm die Lampe an der Röhre zu leuchten begonnen hatte. Sein Stift flog über das Papier und dokumentierte jede Einzelheit.

Der Versuch funktionierte. Wie bei dem Experiment mit den zweihundert Glühbirnen wurde auch jetzt die Energie durch den Boden übertragen. Doch würde es ihnen auch gelingen, sie durch die Luft, oder besser gesagt, durch den Äther zum Terminal auf den Pikes Peak zu senden? Wie würden die Messergebnisse aussehen?

Philemon nahm wahr, wie die Röhre neben ihm zu knistern begann. Kleine Funkenentladungen bildeten sich an dem Kuppeldach. Sie sahen aus wie elektrische Finger, die in der statisch aufgeladenen Luft umhertasteten. Vorsichtshalber trat Philemon ein paar Schritte zurück, damit er nicht von ihnen getroffen wurde. Dabei notierte sein Stift weiter unbeirrt jedes noch so kleine Phänomen. Mit einem Mal löste sich ein mehrere Meter langer Blitz von der Kuppel und schlug mit einem lauten Krachen in der Prärie ein. Erschrocken zog Philemon den Kopf zwischen die Schultern und blinzelte zu der Stelle hinüber, wo ein Grasbüschel Feuer gefangen hatte. Der Knall sauste noch in seinen Ohren, aber er konnte hören, wie Tesla ihm zurief, er solle mehr Abstand nehmen. Philemon überhörte diese Warnung und blieb wagemutig neben dem Terminal stehen, an dessen Kuppel bereits ein neuer ellenlanger Blitz züngelte. Mit einem plötzlichen Funkenregen verstummte das Summen der Transformatoren und der Blitzfühler an der Kuppel kollabierte lautlos. Ein leises Zischen drang aus der Röhre, so als entweiche dort irgendwo heiße Luft, es roch nach Ozon und erhitztem Metall. In der Atmosphäre lag ein deutlich fühlbarer Rest von statischer Energie. Philemon sah zum Labor hinüber. Dr. Tesla war mit langen Schritten zu ihm unterwegs. Er wirkte glücklich und beinahe beschwipst vor Begeisterung.

„Ist das nicht phantastisch?“, sagte er, als er bei ihm ankam. „Ich bin sicher, dass das Messgerät auf dem Pikes Peak Ausschläge aufgezeichnet hat!“

„Hoffentlich, ich kann es gar nicht erwarten, die Ergebnisse zu sehen.“

„Czito wird morgen früh mit Ihnen hochfahren. Jetzt aber wollen wir das Experiment noch einmal wiederholen.“

Fragend sah Philemon den Doktor an.

„Uns fehlen noch die Beobachtungen aus dem Inneren der Röhre“, erklärte Tesla.

„Aus dem … Inneren?“

Tesla nickte. „Es ist essenziell für uns zu erfahren, was dort drinnen während der Transmission vor sich geht. Würden Sie uns die Ehre erweisen, diese Beobachtungen für uns festzuhalten?“

„Sie meinen, ich soll da reingehen, während der Versuch läuft?“, fragte Philemon entgeistert.

„So ist es. Aber falls Sie es nicht wollen, dann können Sie gerne den Platz von Löwenstein übernehmen und er wird in das Terminal steigen. Das täte er nicht zum ersten Mal“

Die handgeschriebenen Zeilen aus Teslas Tagebuch erschienen vor Philemons geistigem Auge. Myers war im Terminal, als wir die Spannung auf dreißig Millionen Volt erhöhten, doch dann gab es einen Kurzschluss …

„Und was passiert, wenn es einen Kurzschluss gibt?“

„Der kann Ihnen hier draußen nichts anhaben. Außerdem haben wir für solche Fälle einen zweiten Stromkreis und einen Ersatzkondensator eingerichtet.“

Philemon war immer noch nicht überzeugt. „Was ist mit den Blitzen an der Kuppel?“

„Die treten nur äußerlich auf. Im Innern wird alles ruhig sein. Die Röhre ist schließlich ein Faradayscher Käfig.“

Philemon war hin- und hergerissen. Er hatte schreckliche Bedenken, in die Röhre zu steigen, nach alldem, was er über Myers gehört hatte, anderseits wollte er jetzt, da er den Posten als erster Assistent übertragen bekommen hatte, vor den anderen nicht als Drückeberger dastehen. Gleißenden Blitzen gleich zuckten die Gedanken durch seinen Kopf. Eigentlich wusste er ja nicht genau, was mit Myers geschehen war oder ob es überhaupt in der Röhre passiert war. Und möglicherweise hatte das auch nichts mit seinem Verschwinden zu tun. Philemon atmete tief ein. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. „Gut“, willigte er kurzerhand ein, „ich werde da reingehen. Aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass mir nichts geschieht.“

Tesla sah ihn ernst an. „Es wird Ihnen nichts zustoßen, dafür verbürge ich mich. Sie müssen nur Ihre restliche Schutzkleidung anziehen und zusehen, dass sie die Wände der Röhre nicht berühren, dann werden Sie das Spektakel gesund und munter überstehen. Warten Sie es ab, außer einem belebenden Kribbeln werden sie nichts spüren, das wette ich. Ich würde es ja selber tun, so begierig bin ich auf die Erfahrung, aber als Vater der Idee ist es meine Pflicht, das Experiment zu überwachen.“ Der Doktor hakte die Daumen in die Taschen seiner Weste und warf einen versonnenen Blick in die Ferne. „Ich hoffe, dass es mir bald vergönnt sein wird, mich selbst in das Terminal zu begeben. Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf Ihren Bericht, Mr. Ailey.“

Philemon straffte seinen Rücken und zog sich entschlossen die Gummihaube über den Kopf. Er rückte sie so zurecht, dass nur noch Mund, Nase und Augen herauslugten und schlüpfte in die Handschuhe. Dann gab er Tesla ein Zeichen, dass er bereit war, und der Doktor öffnete die hüfthohe Tür in der Röhre. Philemon bückte sich, krabbelte hinein und richtete sich drinnen wieder auf. Er sah zu, wie Tesla die Tür schloss, und augenblicklich umfing ihn beklemmende Dunkelheit. Nur durch den Schlitz an der Tür fiel so viel Licht, dass er gerade noch seine Hand erkennen konnte. Das reichte aber nicht zum Schreiben, dachte er unwohl und wandte den Kopf. Schließlich entdeckte er die Glühbirne über seinem Kopf. Ah, daran hatten sie also doch gedacht. Die Lampe würde leuchten, wenn der Strom durch die Erde zu fließen begann. Für Philemon ein Zeichen, dass der Versuch lief. Gespannt wartete er ab.

„Sind Sie bereit, Mr. Ailey?“, hörte er Dr. Tesla alsbald aus der Ferne rufen.

„Jawohl! Frisch, fromm, fröhlich, frei“, rief er zurück und zitierte den guten Fritz Löwenstein. Dabei hallte seine Stimme dumpf von den gebogenen Wänden der Röhre wider. In der folgenden Stille brach ihm unter der Haube der Schweiß aus. Verdammt, dachte Philemon und schabte mit dem Stift über die Gummihaut, um das Jucken zu unterbinden. Reiß dich zusammen!

Im nächsten Moment wurde sein gesamter Körper von einem Schauer überzogen. Es fühlte sich an, als schrumpfe seine Haut. Die Lampe über seinem Kopf blendete ihn grell, und ein hohes Sirren legte sich in seine Ohren. Philemon versuchte, das alles durchdringende Geräusch zu ignorieren und besann sich auf seine Aufgabe als Protokollant.

„Anhaltende Gänsehaut“, schrieb er. „Spannen der Haut, besonders am Kopf. Verstärkter Speichelfluss und Schwindelgefühl. Unkontrolliertes Zittern der Muskulatur. Zuerst in den Beinen und dann in den Armen. Druck auf den Ohren.“

Er hielt inne, weil er kaum noch in der Lage war, den Stift zu halten. Was geschah hier? Waren das die Auswirkungen der Elektrizität auf seinen Körper? Plötzlich ging ein Ruck durch den Boden und beißende Kälte drang auf ihn ein. Die Luft im Innern der Röhre kühlte sich schlagartig ab, und ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte, begannen Philemons Zähne zu klappern. Er sah seinen Atem kondensieren und wollte dieses Phänomen notieren, doch der Stift fiel ihm aus der steifgewordenen Hand. Schwerfällig ging er in die Knie und spähte dabei unbewusst durch den Schlitz an der Tür. Erschrocken bleib er hocken und starrte auf den Spalt. Täuschte er sich? Hatten die Millionen von Volt, die durch den Boden jagten, ihm das Gehirn vernebelt? Er näherte sich dem Spalt. Im selben Augenblick wurde es wieder wärmer und der Druck auf seinen Ohren ließ nach. Die Lampe über seinem Kopf erlosch, und durch den Schlitz konnte er das trockene Gras der Prärie erkennen wie auch die Schuhe von Dr. Tesla! Ruckartig wurde die Tür geöffnet und frische Luft schwappte zu ihm herein.

„Mr. Ailey? Sind Sie da? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Lag da etwa eine leichte Besorgnis in der Stimme des Doktors?

Philemon war es einerlei. Er wollte nur noch raus aus der engen Röhre. Auf wackeligen Beinen kroch er ins Freie, zerrte sich die Gummihaube von Kopf und atmete mehrmals tief durch. Als er die nachmittägliche Sonne auf seinem Scheitel und den Wind in seinem Gesicht spürte, beruhigte er sich allmählich und lächelte den Doktor zaghaft an. Scheinbar wissend blickte Tesla zurück.

Am Abend spazierte Philemon zufrieden zurück in die Stadt, wieder einmal allein. Aber das war ihm diesmal egal. Er war erfüllt von Stolz, dass er die Herausforderung des heutigen Tages angenommen und mit Bravour gemeistert hatte, und freute sich jetzt auf ein ausgiebiges Abendessen. Heute wollte er sich zur Belohnung für seinen Mut etwas gönnen. Vielleicht ein schönes Steak. Ja, das war gut, ein saftiges Stück Fleisch würde ihn wieder zu Kräften bringen. Denn auch wenn er bester Laune war, merkte er doch, welchen Strapazen sein Körper bei diesem Experiment ausgesetzt gewesen war. Noch immer meinte er, die Schwäche spüren zu können, die seinen ganzen Körper in der Röhre überfallen hatte, und die seltsame Kälte. Aber er erinnerte sich auch an das begeisterte Schulterklopfen von Czito und Löwenstein, als er zurück ins Labor gekommen war und von einem Ohr zum anderen gegrinst hatte. Die Brüderlichkeit der beiden Assistenten und der anerkennende Blick Teslas hatten ihn die Schrecken der Röhre sofort vergessen lassen.

Philemon trat einen Kieselstein vom Weg und schlenderte mit den Händen in der Tasche durch die Straßen von Colorado Springs. Aufmerksam beobachtete er die Menschen bei ihrem abendlichen Treiben vor den Restaurants und anderen Lokalitäten. Sie schienen ihn überhaupt nicht wahrzunehmen. Umso mehr fühlte er sich wie ein stiller Beobachter. Wenn die Menschen wüssten, was sie draußen in der Prärie trieben! Wenn sie wüssten, dass sie dort gerade die Zukunft schrieben. Aber das taten sie nicht! Zum Glück, denn vielleicht würde ihnen dabei angst und bange werden, so wie ihm heute in der Röhre. Mit einem wohligen Schaudern ging Philemon weiter und erreichte wenig später das Hotel. Im Speisesalon bestellte er sich das kolossalste Steak, das die Hotelküche zu bieten hatte, und verschlang es mit großem Appetit.

Eine Stunde später lag er erschöpft auf seinem Bett und blickte, noch immer ganz beseelt von den Ereignissen des Tages, an die Zimmerdecke. Schließlich nahm er die Taschenuhr seines Vaters vom Nachttisch und wollte sie für den nächsten Tag neu aufziehen, da bemerkte er das Datum. Seltsam, heute war doch erst der neunzehnte August und nicht schon der zwanzigste. Er schüttelte die Uhr und hielt sie an sein Ohr. Sie tickte leise, aber gleichmäßig. Musste wohl ein Defekt an der Datumsanzeige sein. Philemon stellte das Datum zurück auf den Neunzehnten und zog die Uhr auf. Mal sehen, ob sie morgen wieder falsch ging. Er legte sie zurück auf den Nachttisch und bettete seinen Kopf auf das Kissen. Mit auf dem Bauch gefalteten Händen sann er noch einmal über das nach, was er während des Experiments durch den Schlitz der Tür gesehen hatte. Es musste Einbildung gewesen sein oder die Auswirkung von zu hohen Stromfrequenzen auf Körper und Geist. Denn anders konnte er sich nicht erklären, dass er geglaubt hatte, mit der Röhre auf dem zugigen Gipfel des Pikes Peak zu stehen …