55. Kapitel

02. Juni 2011
in der Wüste
am Nachmittag

Ondragon öffnete die Augen und fühlte schlagartig Schmerzen. Die Sicherheitsgurte hatten zwar gehalten, schnitten ihm aber tief ins Fleisch an Brust und Hals. Vorsichtig schnallte er sich ab, drehte seinen Kopf und befühlte den Rest seines Körpers. Es schien noch alles dran zu sein. Er wandte sich zu Achille, der noch immer bewusstlos in seinem Sitz hing, und tastete nach seinem Puls. Das Herz des Franzosen schlug langsam, aber gleichmäßig. Erleichtert beugte Ondragon sich vor und sah nach, ob Achille verletzt war. Bis auf eine stark blutende Platzwunde an der Stirn konnte er keine äußereren Blessuren entdecken und schlug dem Franzosen schließlich mit der flachen Hand auf die Wange.

„He! Aufwachen! Wir sind da!“

Achilles Lider flogen nach oben. Verwirrt blickte er sich um. „Was? Wir sind da? Autsch … putain de merde!“ Er wischte sich mit der Hand über die Stirn und starrte auf das Blut an seinen Fingern.

„Ist nichts Schlimmes“, beruhigte Ondragon ihn. „Wahrscheinlich nur eine leichte Gehirnerschütterung. Sonst alles okay mit dir?“

Achille schnallte sich ab und bewegte Arme und Beine. „Scheint so“, sagte er dann.

„Der Teufel hatte wohl noch keine Lust auf uns“, scherzte Ondragon und wandte sich dem Seitenfenster zu, das zur Hälfte mit Sand bedeckt war. „Hier kommen wir wohl nicht raus.“ Er kletterte nach hinten, öffnete die Schiebetür des Laderaums und sprang nach draußen in den Sand. Achille folgte ihm und stöhnte laut auf, als er das Ausmaß der Zerstörung sah. Die Cessna steckte bis zur Pilotenkanzel in der Düne, das Fahrwerk war eingeknickt und der Motor durch den Aufprall nach hinten gedrückt worden, der Propeller hinüber.

„Oh, mein Baby! Mein geliebtes Baby!“, rief Achille und rang die Hände.

Ondragon hob verdutzt die Brauen. Ihm war gar nicht klar gewesen, wie sehr der Franzose an der Maschine hing. Er legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. „Das bekommen wir schon wieder hin. Und wenn wir Ersatzteile einfliegen lassen müssen. Schlimmer ist im Moment, dass wir vorerst hier festsitzen. Unser Lager ist zu weit weg für einen Fußmarsch. Wir müssen die Nacht wohl hier verbringen.“ Er blickte sich um. Die Spuren ihrer Bruchlandung waren weithin zu erkennen, sie zogen sich von dem flachen Sandstreifen vor den Bergen bis hin zu den ersten Dünen. Er hob den Kopf und sah hinüber zu den Felsrücken. Wahrscheinlich hockte Monsieur Noire jetzt irgendwo dort oben und lachte sich ins Fäustchen.

Ondragon stieß einen leisen Fluch aus und rieb sich den schmerzenden Nacken. Alles in allem hatten sie dennoch Glück gehabt. Sie waren am Leben. Aber seltsam war es schon, dass sämtliche Funktionen der Cessna ausgerechnet über dem Tal ausgefallen waren. Irgendetwas ging dort nicht mit rechten Dingen zu und Ondragon fragte sich, ob es eine Apparatur geben konnte, die Flugzeuge zum Abstürzen brachte.

Nach einer Weile wandte er den Blick von den Bergen ab und sah zu Achille, der sich in den Sand gesetzt und eine Zigarette angezündet hatte. Jetzt mussten sie aus dem Wrack erst mal retten, was zu retten war, und zusehen, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit ein provisorisches Lager errichteten.

Zwei Stunden später saßen sie missmutig an einem kleinen Feuer aus Dromedardung und warteten auf die Nacht. Die Bruchlandung steckte ihnen noch in den Knochen und keinem war nach Reden zumute. Als Zeltersatz hatten sie über den Flügel der Cessna eine Stoffbahn gespannt und mussten so die Nacht wenigstens nicht unter freiem Himmel verbringen. Außerdem hatte sich Ondragons Vorsichtsmaßnahme, die Hälfte des Equipments und der Vorräte für den Notfall in der Maschine zu lassen, als sehr nützlich erwiesen, und sie waren nun einigermaßen mit Essen und Wasser versorgt. Die Cessna jedoch war ein Totalschaden. Mit schmerzenden Gliedern hatten sie die Maschine aus der Düne gegraben und festgestellt, dass der Motor durch den Aufprall irreparable Schäden davongetragen hatte. Zumindest lohnte es sich nicht, das Ding hier in der Wüste zu reparieren. Schade um das zuverlässige Fluggerät, dachte Ondragon, aber wenn sie wieder zurück in Marokko wären, dann würde er für Achille eine neue Maschine kaufen. Zuerst aber mussten sie diesen verdammten Auftrag erledigen! Und das ging hoffentlich auch ohne Flugzeug.

Ein entferntes Geräusch ließ beide Männer aus ihrer Lethargie aufhorchen. Ondragon legte einen Finger an die Lippen und reckte den Hals. Es war eindeutig wieder ein Flugzeugmotor. Kontinuierlich wurde das Brummen lauter. War es Monsieur Noire, der von seinem geheimen Landeplatz aus wieder in die Luft ging?

Ondragon gab Achille zu verstehen, dass er beim Flugzeug bleiben sollte und rannte die Düne hinauf. Ihm blieb fast das Herz stehen, als ein Flugzeug im Tiefflug über ihn hinwegdonnerte. Augenblicklich ging er in die Knie, zog seine Pistole und zielte auf die Maschine.

Wollte Monsieur Noire sie aufschrecken und herausfinden, was sie vorhatten? Oder wollte er sie jetzt erledigen? Ondragon schirmte seine Augen gegen die tiefstehende Sonne ab und versuchte, die Kennung der Maschine zu entziffern. Doch das Flugzeug war inzwischen zu weit weg und das Fernglas lag bei Achille. Er sah, wie die Maschine eine Kurve flog und wieder Kurs auf ihn nahm. Was, wenn die Insassen auf ihn feuerten? Ondragon nahm die Beine in die Hand und stürmte zurück zum Wrack der Cessna. In seinem Rücken raste das fremde Flugzeug heran, tief über den Dünen. Der Motor dröhnte in der Stille wie ein wütendes Raketentriebwerk. Ondragon duckte sich im Laufen, und der Schatten der Maschine huschte über ihn hinweg. Jetzt wusste er, wie sich eine Feldmaus fühlte, wenn der Bussard über ihr kreiste. Schnell rannte er in den Schutz der Flugzeugflügel, wo auch Achille sich verbarg.

„Wer ist das?“, fragte der Franzose.

Ondragon zuckte mit den Schultern und äugte unter dem Flügel hervor in den Himmel. Das Motorengeräusch wurde schwächer, aber nur um gleich darauf wieder anzuschwellen, und wenig später schoss die Maschine mit brüllendem Motor über die Düne. Danach drehte sie ab und endlich konnte Ondragon die Kennung lesen.

SE–MAX.

Das war doch …

Unvermittelt sprang er unter dem Flügel hervor und stieß ein freudiges Lachen aus.

„He! Bist du verrückt?“, schrie der Franzose ihm hinterher. „Geh wieder in Deckung, Chef!“

Aber Ondragon lachte nur noch herzhafter und begann, der Maschine zuzuwinken, die unterdessen mit den Flügeln wippte und einen weiteren Bogen zog. „Das ist Luke Skywalker!“, rief er.

„Wer?“, fragte Achille.

„Na, Luke!“

Achille schüttelte den Kopf, während die Maschine langsamer wurde und nicht weit entfernt von ihnen zum Landeanflug ansetzte. Es war eine große Cessna Grand Caravan, ein geräumiger Lastenflieger.

Ein versonnenes Lächeln legte sich auf Ondragons Lippen. Nun würden sie sich doch noch ein weiteres Mal begegnen. Ein kurzer Zweifel befiel ihn. Vielleicht wollte die Jägerin ihn ja gar nicht sehen. Möglicherweise hatte sie ihn auch gar nicht erkannt, schließlich wusste sie nicht, dass er hier war. Ondragon kratzte sich am Kinn und stellte dabei fest, dass er mit seinem Dreitagebart reichlich verwildert aussah. Aber was noch viel dringlicher war: Er würde sich schnell eine Erklärung einfallen lassen müssen, was er als Unternehmensberater hier in der Wüste verloren hatte.

Egal. Ob sie ihn nun sehen wollte oder nicht, auf jeden Fall bekamen er und Achille jetzt unverhofft Hilfe. Ondragon kniff die Augen zusammen und spähte in die Ferne, wo der schwedische Flieger allmählich zum Stehen kam.

„Und wer, bitte schön, ist nun dieser Luke?“, fragte Achille, der neben ihn getreten war und gleichfalls auf das Flugzeug blickte.

„Unsere Rettung“, antwortete Ondragon schlicht. Er sah, wie sich an der Grand Caravan die Türen öffneten und zwei Gestalten heraussprangen. Sie setzten sich ihre Hüte auf und winkten zu ihnen herüber. Ondragon winkte zurück und roch anschließend unter seiner Achsel. Schaudernd verzog er das Gesicht. Hoffentlich stand Malin auch auf animalische Düfte.