39. Kapitel
21. August 1899
Colorado Springs
in derselben Nacht
„Myers ist noch hier?“, fragte Philemon entgeistert.
Herkimer nickte eifrig. „Ich habe gleich zwei Telegramme für den verrückten Doktor verschickt.“
Philemon freute sich heimlich. Nun wollte der Knabe also doch plaudern. Dann mal los!
„In der einen Depesche war die Rede davon, dass Mr. Myers noch hier vor Ort sei“, erklärte Herkimer. „Sie hätten zwar Probleme, ihn zu ‚re-lokalisieren‘, aber auch die Hoffnung, dass es ihnen gelänge. Ein gewisser George Scherff – an ihn war das Telegramm adressiert – solle schnellstmöglich einen neuen Assistenten requirieren, damit der Doktor seine Arbeit hier fortsetzen könne. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann das Röhnfeldt-Experiment von Neuem gelingen würde. Deshalb die dringliche Bitte um einen neuen, spezifisch qualifizierten Assistenten. Das war am fünften Juli gewesen, zwei Wochen bevor Sie hier eintrafen, nehme ich mal an.“
Philemon nickte, wollte den Telegraphisten aber auf keinen Fall unterbrechen.
„Das andere Telegramm“, fuhr Herkimer fort, „ging nach Boston an einen Mr. Albert Myers, 114 Beacon Street. Darin stand nichts Ungewöhnliches, eine Beschreibung des Alltags von Colorado Springs und der Arbeit im Labor. Es war unterzeichnet mit dem Namen Frederick Myers und wurde vier Tage nach Bens Beobachtungen aufgegeben. Das war jedoch nachdem dieser Myers längst verschwunden war!“
In Philemons Hals bildete sich ein Kloß. Betrübt starrte er in den Raum. Er wollte nicht glauben, was er da hörte. Der Doktor hatte ihn belogen! Die beiden Telegramme schienen der unumstößliche Beweis dafür zu sein. Aber stimmte es auch, dass Myers tatsächlich noch hier war? Was bedeutete es, dass sie Probleme damit hatten, ihn zu re-lokalisieren? Und warum erwähnte der Doktor in einer seiner Depeschen das Röhnfeldt-Experiment? Philemon hatte zum ersten Mal davon erfahren, als er unerlaubt in Teslas Notizbuch gelesen hatte. Was war das für ein ominöses Experiment? Und warum tat der Doktor damit so heimlich?
Philemon nahm sich vor, mehr darüber herauszufinden, sobald er die Zeit dafür hatte. Er wandte sich an Herkimer, wollte mehr über die Telegramme wissen. „Und gab es eine Antwort von diesem George Scherff?“
Herkimer schien zu überlegen. „Hm, ja. Sie kam eine Woche später. Darin stand, dass er einen neuen Assistenten gefunden habe. Dann waren da noch Körpermaße und eine Schuhgröße aufgeführt und Ihr Name, Phil.“
Philemon dachte nach. George Scherff war Dr. Teslas Buchhalter und hatte in New York die Bewerbungsgespräche für Colorado Springs geführt. Er hatte ihn auch aus der langen Reihe von Bewerbern ausgewählt. Philemon erinnerte sich an die Fragen, die Mr. Scherff ihm gestellt hatte. Die meisten waren normal gewesen und hatten sich hauptsächlich um sein Studium in Yale gedreht. Dann hatte er noch wissen wollen, wo Philemon lebte, wie es um sein Elternhaus bestellt war und welches seine favorisierten Forschungsbereiche seien. Solche Dinge eben. Sogar die Frage nach seinem gesundheitlichen Befinden und dem Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium vor ein paar Jahren waren Philemon nicht sonderlich merkwürdig erschienen. Erst als Mr. Scherff nach dem Vorfall in seiner Burschenschaft gefragt hatte und ob er wisse, was Prinzipien und echte Loyalität bedeuteten, war Philemons Laune schlagartig in den Keller gerutscht. Auch wenn es kein Geheimnis war, hatte er doch inständig gehofft, dass diese Geschichte mit Chi Psi nicht zur Sprache kommen würde. Nur widerwillig hatte er Mr. Scherff Auskunft erteilt und war nach dem Gespräch schnell nach Hause gefahren. Alle Hoffnungen auf den prestigereichen Job im Labor von Dr. Tesla waren dahin. Umso mehr hatte es ihn erstaunt, als Mr. Scherff ihm wenige Tage später mitteilen ließ, dass er seine Sachen packen und nach Colorado Springs fahren könne.
Warum ausgerechnet er?, fragte Philemon sich plötzlich. Und was hieß überhaupt ‚spezifisch qualifiziert‘? Das klang reichlich merkwürdig. Aber damals hatte er sich nichts dabei gedacht. Dr. Tesla war eben als ein überaus ungewöhnlicher Mann bekannt. Warum sollte er dann seine Leute nicht auch auf solch ungewöhnliche Weise rekrutieren? Heute wusste er, dass der Doktor ihn ausgewählt hatte, weil er ‚spezifisch qualifiziert‘ war. Was immer das auch heißen mochte.
„Und was meinten Sie damit, dass Myers noch hier wäre?“, erkundigte er sich beim Telegraphisten.
Herkimer blickte ihn ernst an. „Myers ist gesehen worden. Und zwar nachdem der alte Ben erzählt hatte, dass er vom Blitz getroffen wurde!“
„Wo soll das denn gewesen sein?“, frage Philemon ungläubig.
„Oben auf dem Pikes Peak.“
„Auf dem Gipfel? Und wer will ihn bitteschön dort gesehen haben?“
„Hm, die Namen der Leute kenne ich nicht, aber sie erzählen unabhängig voneinander ähnliche Geschichten. Zwei Männer zum Beispiel haben einen jungen, rothaarigen Burschen zwischen den Felsen herumwandern sehen. Er hat orientierungslos gewirkt und sie haben ihn angesprochen, doch er hat nicht darauf reagiert. Vier Tage später hat eine Dame, ein Kurgast aus Colorado Springs, ihn bei einem Ausflug auf den Berg gesehen. Er war ihr aufgefallen, weil er regungslos dastand und in die Ferne starrte.“
Philemon war skeptisch. „Woher wollen Sie denn überhaupt wissen, dass das Myers war? Es könnte genauso gut auch jemand anderes sein.“
„Es ist Myers. Ganz sicher! Ich kannte ihn schließlich. Bin ihm selbst einige Male begegnet. Daher weiß ich auch, dass er rote Haare hat!“
Aha, das hatte Philemon nicht gewusst. Doch die Sache wollte ihm trotzdem noch nicht ganz einleuchten. „Ich frage mich, warum niemand ihn mit nach unten genommen hat, wenn er doch offensichtlich verwirrt war? Er könnte dort oben erfroren sein. In den Nächten wird es verdammt kalt. Oder er hat an der Höhenkrankheit gelitten.“
„Ich kann nur wiedergeben, was ich gehört habe, Phil. Keiner hat erzählt, dass sie ihn mit runtergenommen haben. Aber erfroren ist er anscheinend auch nicht, denn erst vorgestern ist er wieder gesichtet worden. Er stand neben diesem komischen Röhrendings, das Sie dort aufgebaut haben.“
„Das Röhrendings ist ein Empfangsterminal.“
„Was auch immer. Jedenfalls soll er dort gestanden und unentwegt auf das Ding gestarrt haben. Die Leute nennen ihn schon den ‚Geist vom Pikes Peak‘. Echt gruselig, das kann ich Ihnen sagen!“
Das war es in der Tat, dachte Philemon. Er konnte sich jedoch nicht daran erinnern, dergleichen bemerkt zu haben, als er mit den anderen oben auf dem Berg gewesen war. „Und wurde er auch mal unten in der Stadt gesichtet?“
Herkimer schüttelte den Kopf.
„Wissen Dr. Tesla und seine Assistenten davon?“
Diesmal kam nur ein Schulterzucken von Seiten des Telegraphisten.
Philemon spürte, wie sich das Unbehagen tiefer bei ihm einnistete. Sie mussten es wissen, Denn warum sollten Tesla und die beiden anderen sonst in den Nächten nach Myers gerufen haben? Angeblich war er vorgestern zum letzten Mal gesichtet worden. Das war dann doch während des Experiments gewesen!
„Danke für die Informationen“, sagte er und erhob sich kurz darauf. „Ich muss jetzt gehen.“
Herkimer blinzelte zu ihm hinauf. „Ich sage die Wahrheit.“
„Das glaube ich Ihnen, Joe, und ich schulde Ihnen was dafür. Aber zuerst muss ich darüber nachdenken. Adieu, wir sehen uns.“ Er tippte sich an seinen Hut und verließ den verrauchten Kellerraum.
Draußen strich Philemon seine Kleidung glatt. Er schnaubte in sein Taschentuch, um den Opiumgeruch aus seiner Nase zu bekommen, und atmete er ein paar Mal tief durch. Er musste das Gehörte erst mal verdauen, bevor er sich ins Bett legen und Schlaf finden konnte. Also ging er zurück auf die Pikes Peak Avenue und spazierte ziellos durch die Nacht.
Bewaffnet mit einer Werkzeugtasche fuhr Philemon am folgenden Sonntag mit einer Kutsche nach Manitou Springs und ließ sich an der Talstation der Zahnradbahn absetzen. Zusammen mit einer Schar aufgeregt schnatternder Kurgäste aus Colorado Springs wartete er auf die Ankunft des Zuges. Immer wieder sah er sich um, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgte.
Dr. Tesla hatte sich am gestrigen Abend äußerst wohlwollend darüber geäußert, dass Philemon sich erboten hatte, das Terminal auf dem Gipfel zu inspizieren, und hatte ihm sogar Geld für eine Fahrkarte gegeben. Er solle jedoch darauf achten, am Tag des Herrn nicht zu lange zu arbeiten. Für sich als Sohn eines Priesters könne der Doktor es zwar vertreten, wenn er am Sonntag arbeite, doch er wolle keinesfalls seinen Assistenten den Gang in die Kirche verwehren. Denn Religion sei wichtig. Sie gebe dem Menschen Ideale und gutes Gebaren.
Philemon verzog das Gesicht. Zwar pflichtete er Tesla in seiner Ansicht über die Religion bei, aber hier in Colorado Springs zur Kirche gehen? Nein, danke! Keine zehn Pferde würden ihn hier in ein Gotteshaus bringen. Auf dem Empfang des nächsten Abendmahls würde er wohl warten müssen, bis er wieder in New York wäre.
Die Zahnradbahn kam und es entstand Gedränge. Die Leute, die vom Gipfel kamen, stiegen aus und die, die hinauf wollten, stiegen ein. Philemon beeilte sich und ergatterte einen Platz am Fenster auf der windzugewandten Seite. So konnte er während der Fahrt die Aussicht und die frische Luft genießen, ohne dass der Qualm der Lok ihn störte.
Keuchend und rußende Wolken ausspeiend quälte sich die Bahn die etwa fünfzehn Kilometer lange Strecke hinauf; an den steilsten Kehren lediglich im Schritttempo, so dass man hätte nebenherlaufen können. Nach einer halben Stunde erreichten sie die Baumgrenze und die Landschaft wurde von grünen Magerwiesen und Geröllfeldern bestimmt. Der Himmel war leicht bewölkt, die Aussicht dennoch atemberaubend. Philemon konnte über Colorado Springs hinwegschauen bis zu der Stelle in der Prärie, an der das Laborgebäude stand; ein winziger dunkler Fleck auf der verdorrten gelben Fläche.
Auf der Hälfte der Strecke begann die Luft, dünner zu werden, und Philemon hoffte, nicht wieder Kopfschmerzen zu bekommen wie beim ersten Mal, als sie das Terminal aufgebaut hatten. Gegen die Höhenkrankheit half nur viel Trinken und nötigenfalls der Abstieg, wenn es allzu schlimm wurde. Er öffnete die Feldflasche, die er mitgenommen hatte, und trank vorsorglich einige große Schlucke. Gleich mehrmals musste er den Druck auf seinen Ohren ausgleichen und es wurde zusehends kälter. Kurz vor dem Gipfel tauchte die Bahn in die Wolken ein und die Fahrgäste gaben enttäuschte Laute von sich, da ihnen nun die Aussicht verwehrt blieb. Philemon hingegen machte es nichts aus, schließlich war er nicht wegen des Panoramas hier.
An der Gipfelstation stieg er mit den anderen Fahrtgästen aus und lief durch den Dunst zuerst zum Summit House. Dort genehmigte er sich eine kleine Mahlzeit und noch ein paar Schlucke Wasser. Anschließend schlug er seinen Kragen gegen die Kälte hoch und stieg am südöstlichen Hang hinab zu dem Terminal, das sie zum Schutz gegen Neugierige mit einem Stacheldrahtzaun und einem Schild versehen hatten. „Achtung! Lebensgefahr! Betreten verboten!“, stand darauf in eindringlichem Rot.
Philemon legte die schwere Werkzeugtasche ab und setzte sich neben das Terminal auf einen Felsen. Während er seinem eigenen Atem und dem Pfeifen des Windes lauschte, beobachtet er das Gelände. Kein Besucher hatte sich bis hierhin verirrt. Nirgendwo war eine Bewegung zwischen den Felsen auszumachen. Philemon fröstelte. Er wandte seinen Kopf und blickte auf die mannshohe Kupferröhre hinter dem Stacheldraht. Hier hatte Frederick Myers also gestanden – falls die gute Dame, von der Herkimer erzählt hatte, nicht an Halluzinationen gelitten hatte, was empfindlichen Leuten bei dieser Höhe durchaus schon mal passieren konnte.
Nach einer Weile erhob Philemon sich und stieg vorsichtig über den Zaun. Er spürte einen leichten Druck hinter seiner Stirn. Der Beginn von Kopfschmerzen. Er hatte also nicht mehr viel Zeit, die Umgebung zu untersuchen. Er ging zu der Kupferröhre mit dem pilzförmigen Kuppeldach und klopfte mit den Fingern gegen das kalte Metall. Es klang hohl. Dann kontrollierte er die Isolierung der Drahtwindungen um die Röhre und bückte sich schließlich, um die kleine Tür zu öffnen. Ein plötzliches Déjà-vu erfasste ihn und er sah sich selbst, wie er in der Röhre kauerte und durch den Schlitz nach draußen spähte.
Er schaute auf seine Schuhe, die auf weißem Kalkstein standen. Konnte das sein? Schnell griff er nach dem Haken an der Tür und zog sie auf. Das Innere der Röhre war dunkel. Philemon zog den Kopf ein und stieg in das Terminal. Als er die Tür schloss, erfasste ihn augenblicklich das vertraute Gefühl der Beklemmung und er musste abwarten, bis sich sein Herzschlag wieder beruhigte. Derweil drang von draußen das hohe Klagen des Windes an sein Ohr, der sich in den Streben der Antenne fing. Entschlossen schüttelte Philemon die Beklemmung ab, beugte die Knie und blickte durch den Türschlitz.
Hatte er diese hellen Steine dort gesehen? Hatte er dieses Sausen in den Ohren gehabt und diese Kälte auf seiner Haut gespürt? Eine Gänsehaut überzog Philemons Arme, auch der Druck von innen gegen seine Schädeldecke war stärker geworden. Stöhnend rieb er sich die Schläfen.
Plötzlich hörte er draußen ein Geräusch. Das Rieseln von Steinen. Schlagartig ließ er die Hände sinken und erstarrte.
War dort jemand? Ein Gipfelbesucher? Oder war es Myers? Erneut spähte Philemon durch den Schlitz, konnte aber nichts erkennen. Verdammt, er würde die Röhre schon verlassen müssen, wenn er mehr erfahren wollte. Also gab er sich einen Ruck, öffnete leise die Tür und krabbelte ins Freie. Sofort zerrte der Wind an seinem Hut und drohte, ihn von seinem Kopf zu wehen, doch Philemon konnte ihn gerade noch festhalten und drückte ihn zurück auf seinen Platz. Mit einer Hand am Hut und der anderen am Kragen seiner Jacke richtete er sich auf und drehte sich einmal um sich selbst. Niemand war zu sehen, nur neblige Wolkenfetzen, die über den Kamm fegten und wie Gestalten aus dem Feenreich durch den Felsengarten tanzten. Wenn hier jemand gewesen war, so war er entweder fort oder versteckte sich hinter einem der unzähligen Felsen.
Ein Pfeifen ertönte aus der Ferne. Es war das Signal der Bahn, die in wenigen Minuten wieder ins Tal fahren würde.
Da sich der Druck in seinem Hirn mittlerweile in ein schmerzhaftes Pochen verwandelt hatte, beschloss Philemon, seine Mission zu beenden und in die Bahn zu steigen. Er sammelte seine Sachen ein und ging zurück zur Bergstation.
Auf der Fahrt nach unten stützte er seinen dröhnenden Kopf in eine Hand und schielte unter der Krempe seines Hutes hervor auf die vorbeiziehende Landschaft. Um sich von den Schmerzen abzulenken, betrachtete er die Farben, die es hier oben gab. Geröll, so hell und ausgeblichen wie Knochen, wechselte sich ab mit grünlich kargen Grasflächen. Hier und da waren die kräftigen Farbtupfer von Gebirgsblumen zu erkennen. Ein zartes Rosa, ein kräftiges Gelb und ein feuriges Rostrot.
Rostrot? Philemon schreckte aus seiner Betrachtung auf. Waren das nicht auch die Haare von Myers? Hastig suchte er die Umgebung ab. War dort drüben nicht eine Bewegung zu sehen? Dort im Dickicht aus verkrüppelten Weißkiefern?
Nur wenig später konnte Philemon es sehen. Es war aus dem Dickicht getreten und sah sich schreckhaft um.
Ein Dickhornschaf mit seinem Jungen.