59. Kapitel
02. Juni 2011
in der Wüste
nachts
Nachdem sie mithilfe der Leuchtfeuer zielsicher auf der Piste gelandet waren, eilte Ondragon unverzüglich zu Achille und berichtete ihm, was sie gefunden hatten.
„Wenigstens etwas“, sagte der Franzose und strich sich über das Kinn. „Wollen wir gleich hin?“
„Wenn es tatsächlich der Turm ist, sollten wir uns so schnell wie möglich auf den Weg machen, bevor uns noch jemand dazwischenfunkt.“
„Meinst du mit jemand Monsieur Noire oder die da?“
Ondragon sah zu Malin und Pelle hinüber, die vor ihrem Zelt ein Feuer entfacht hatten. „Nein, die beiden haben, was sie wollen. Die werden uns nicht weiter behelligen und erst morgen früh die Zelte abbrechen, um ihr weißes Dromedar zu fangen. Komm mit.“ Er zog Achille in den Schatten der verunglückten Cessna, damit sie ungestört ihre Exkursion besprechen konnten. Neben einem möglichen Widersacher gab es noch ein weiteres Argument für einen raschen Aufbruch. Den Vorteil der Nacht. Denn solange es dunkel war, wären sie vor neugierigen Blicken geschützt.
„Ich hoffe, dass wir mit unseren beschränkten Ausgrabungsmitteln bis zu dem Turm vordringen können“, sagte Ondragon. Er stieg in den Laderaum der Cessna und sah das Equipment durch. „Wie’s aussieht, haben wir nur eine Schaufel und eine Spitzhacke.“
„Bah! Ich hab noch was viel Besseres! Zur Not sprengen wir uns den Weg mit meinen kleinen Freunden hier frei!“ Grinsend jonglierte Achille mit drei Handgranaten.
„Ich denke, wir sollten vorerst keinen unnötigen Lärm verursachen“, beschied Ondragon mit strenger Miene. Er wusste, dass der Franzose auch diesmal nicht scherzte. „Leg die Dinger weg!“
„Und was ist, wenn das dort im Sand nicht der Turm ist?“, fragte Achille.
„Dann benutze ich die Handgranaten!“ Ondragon grinste, wurde aber schnell wieder ernst. „So, und jetzt pack schnell alles zusammen und vergiss die Lampen nicht.“
„Alles klar, Chef. Aber sag mal, hast du was dagegen, wenn ich später, nachdem wir die Tour hinter uns gebracht haben, mal zu den beiden Süßen rübergehe? Ich hab da so eine Ahnung, dass die Frau mich anhimmelt. Vielleicht lässt sie mich ja mal ran.“
Ondragon warf Achille einen bösen Blick zu. „Du behältst deine illegalen Finger schön bei dir, verstanden?“
Achille hob empört die Brauen, dann machte sich ein unverfrorenes Lächeln auf seinem bärtigen Gesicht breit und er zeigte mit einem Finger auf Ondragon. „Hab ich‘s mir doch gedacht. Die Mademoiselle ist deine Perle! Wegen ihr wolltest du den Tipp mit dem romantischen Restaurant in Casablanca haben. Und, hat‘s funktioniert?“ Lachend winkte er ab. „Ach, natürlich hat es das. Das tut es immer.“ Er kicherte wie ein kleines Kind, und Ondragon wandte sich genervt ab. Der verrückte Franzose ging ihm manchmal echt auf den Keks.
Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, suchte er mit gezielten Handgriffen alles zusammen, was sie für ihre Ausgrabung noch brauchen würden. Viel konnten sie eh nicht mitnehmen, da sie zu Fuß gehen mussten.
Wenig später waren sie bereit und traten hinter der Cessna hervor. Es war kühl geworden und der Feuerschein aus dem anderen Camp leuchtete einladend. Auch wenn er sonst keine sentimentale Ader hatte, wollte Ondragon sich doch von Malin verabschieden. Schließlich wusste er nicht, ob sie bis zum Morgengrauen wieder hier sein würden.
Die Ausrüstung auf den Rücken geschnallt, ging er mit Achille zu ihr und Pelle hinüber. Als sie in den Lichtschein des Lagerfeuers traten, sah Malin auf. Ein Lächeln erschien auf ihrem gebräunten Gesicht und ihre Augen leuchteten. Sie erhob sich und kam mit einer einladenden Geste auf sie zu. „Hallo, ihr zwei, kommt und nehmt Platz! Wir reden gerade darüber, wie sehr du uns geholfen hast, Paul.“
Ondragon lächelte verlegen. „Sorry, aber wir brechen jetzt auf.“
Ihre Augen weiteten sich. „Jetzt? Mitten in der Nacht?“
„Nur der frühe Vogel fängt den Wurm“, sagte er mit einem schiefen Grinsen.
„Aber die zweite Maus bekommt den Käse!“, ergänzte Malin. „Wir werden uns erst kurz vor Sonnenaufgang aus dem Staub machen. Wir wollen die Dromedare aus der Luft orten und uns dann einen nähergelegenen Landeplatz suchen. Wenn es mir gelingt, ein Tier einzufangen, dann können wir diese trostlose Gegend schon morgen wieder verlassen.“
„Und wo geht’s dann mit der teuren Fracht hin? Direkt in die Emirate?“, erkundigte sich Ondragon höflicherweise.
„Nein, erst mal zurück nach Casablanca, wo das Tier in Quarantäne kommt. Ein paar Wochen später geht es dann weiter. Den Transport übernehmen allerdings andere. Aber wahrscheinlich wird mein Auftraggeber es sich nicht nehmen lassen und das Tier in Casablanca schon mal in Augenschein nehmen wollen. Drück mir die Daumen, dass alles klappt.“
„Das tue ich.“ Unschlüssig stand Ondragon da. „Okay, dann wollen wir mal …“, sagte er dann und wollte sich umwenden, doch Malin hielt ihn am Arm fest. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, und Ondragon dachte schon erschrocken, sie würde ihn wie in einer schnulzigen Abschiedsszene küssen, doch sie beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein leiser Ausdruck des Erstaunens legte sich auf sein Gesicht. Und als Malin wieder zurück trat, war er froh, dass er doch noch einmal zu ihr ans Lagerfeuer gekommen war.
„Ich glaube, ich könnte öfter mit dir zusammenarbeiten“, sagte sie und streckte eine Hand mit in die Luft.
Ondragon gab ihr High five. „Die Freude war ganz auf meiner Seite.“
„Na dann, hej do, Paul.“
„Hej do, Malin.“ Er warf der schwedischen Jägerin einen letzten Blick zu und ging dann mit Achille davon.
„Was hat sie gesagt?“, fragte der Franzose auf dem Weg hinaus in die nächtliche Wüste.
Ondragon wandte den Kopf. „Ach, nichts Besonderes. Nur dass sie uns nach Schweden eingeladen hat zu einem Gangbang in ihrer Hütte am See.“
„Wirklich?“
Ondragon verzog spöttisch die Mundwinkel. „Natürlich nicht!“
„Quel dommage! Wie schade. Aber ‘ne Granate ist sie schon, gib‘s zu.“
„Darüber werde ich ganz bestimmt nicht mit dir reden.“ Mit einem wissenden Lächeln stapfte Ondragon voran durch den Sand. Sie hatten ein paar Kilometer anstrengenden Fußmarsches vor sich und Ondragon konnte das Jagdfieber schon deutlich in seinen Adern pulsieren fühlen.
Auf direkter Linie steuerten sie auf die Zielkoordinaten zu, die das GPS-Gerät anzeigte. Sie gingen hintereinander und folgten abwechselnd in den Fußstapfen des anderen, um Kraft zu sparen. Der Mond war bereits aufgegangen, und in der bläulich schwarzen Nacht wirkten die Sandberge wie hohe Wellen, die mitten in der Bewegung erstarrt waren. Ondragon bemühte sich, im Schatten der Dünen zu bleiben, damit man sie von den Bergen aus nicht so leicht sehen konnte.
Eine Stunde später erreichten sie schnaufend die Stelle, an der laut GPS ihr lang ersehnter Schatz schlummerte. Ondragon legte den Kopf in den Nacken. Die Düne war an die 50 Meter hoch und verlief parallel zu den Bergrücken, die weniger als einen Kilometer entfernt lagen. Erschöpft ließ er die Ausrüstung von seinem Rücken in den Sand fallen und holte die Trinkflasche hervor. Nach ein paar ausgiebigen Schlucken warf er Achille die Spitzhacke zu.
„Wir haben nicht viel Zeit für eine Pause. Am besten wir fangen mit der Graberei gleich hier auf Rückseite an“, beschied er. „Aber Vorsicht, der Sand ist locker und rutscht leicht nach.“
Sie begannen mit der schweißtreibenden Arbeit und buddelten sich mehrere Meter unterhalb des Kammes in die Düne hinein. Immer wieder sackte der Sand nach und es grenzte an Sisyphus-Arbeit, ein Loch von mindestens einem Meter Durchmesser aufrechtzuerhalten.
Nach einer halben Stunde der Plackerei richtete Ondragon sich auf. Das brachte doch nichts, dachte er. An dieser Stelle würden sie nie etwas finden. Sie hatten viel zu tief gegraben. Der Turm musste an einer viel flacheren Stelle verborgen sein.
Oder es gibt gar keinen Turm!, hänselte die kleine Stimme in seinem Ohr. Vielleicht hat Malin recht, und es ist nur anderer Sand!
Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon zwei Uhr morgens! Bis zum Sonnenaufgang blieb ihnen also nicht mehr viel Zeit. Ondragon atmete eine Weile tief durch und horchte in die Wüste hinaus. In der Stille waren nur Achilles Hiebe mit der Spitzhacke und sein angestrengtes Keuchen zu hören.
„He, Achille! Hör auf“, rief er schließlich zu ihm hinüber. „Lass es uns an einer anderen Stelle versuchen!“
Der Franzose sah auf und streckte seinen Rücken. „Mann, Chef! Ich komme mir vor wie bei einer Strafarbeit!“
Ondragon lachte. So etwas Ähnliches war es ja auch! Er entfernte sich zwanzig Meter von der ersten Stelle und stieß seine Schaufel erneut in den Sand. Der war hier noch lockerer und rieselte unentwegt in das Loch, das kaum größer werden wollte. Fluchend grub Ondragon schneller und plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch. So als wäre er auf einen Hohlkörper gestoßen.
„Mon Dieu, du hast was!“, rief Achille und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Ondragon spürte, wie sein Puls schlagartig in die Höhe schnellte, und schaufelte eilig weiter. Als er den Sand von der Stelle entfernt hatte, blickte er auf eine dunkle, leicht gewölbte Oberfläche mit kopfgroßen Ausbuchtungen. Hastig holte er seinen Notizblock hervor und blätterte im Licht der Stirnlampe darin herum. Als er das Bild gefunden hatte, zeigte er es Achille. Es war die grobe Zeichnung von Teslas Wardenclyffe Tower. Die pockenartige Beschaffenheit der Kupferkuppel war unverkennbar die gleiche wie die hier zu ihren Füßen!
Achille hob einen Daumen in die Höhe und Ondragon grinste breit. Sie hatten tatsächlich den Turm gefunden! Jetzt mussten sie nur noch versuchen hineinzugelangen. Ondragon griff nach der Spitzhacke. Das Kupferblech der Kuppel konnte nicht allzu dick sein. Obwohl es ihm leid tat, die gleichmäßig modellierte Oberfläche zu zerstören, schlug er schließlich zu. Es gab ein splitterndes Knirschen, als die Spitze der Hacke in das weiche Buntmetall eindrang. Das Kupfer quietschte, als er das Werkzeug wieder heraushebelte und an anderer Stelle erneut hineintrieb. Auf diese Weise entstand nach einer Weile ein Kreis aus aneinandergereihten Löchern, den sie am Ende wie einen Schild nach innen drücken konnten. Dahinter gähnte ihnen Schwärze entgegen. Ondragon leuchtete in die Kuppel und stieß einen überraschten Laut aus.
„Wahnsinn! Sieh dir das an!“, sagte er zu Achille und zeigte mit der Lampe in die Öffnung. Myriaden von kleinen Lichtern leuchteten zurück wie bei einer riesigen Discokugel! Es waren kleine konkave Spiegelflächen aus Glas, die das Licht von Ondragons Lampe reflektierten und den Eindruck eines unendlichen Sternengewölbes vermittelten. Aus einem Loch im Boden der Kuppel ragten unzählige Drähte, die sich wie das Geäst eines Baumes in alle Richtungen erstreckten.
Wie erstarrte Blitze, dachte Ondragon und drehte sich zu Achille um. „Ich gehe allein rein. Du wartest hier und hältst Wache. Wir benutzen die Funkgeräte, um in Kontakt zu bleiben. Ich schaue mich da drinnen mal ein wenig um und komme dann zurück. Mal sehen, was Schuch und Kammler hier zurückgelassen haben!“ Ondragon überprüfte seine Ausrüstung und kroch mit den Beinen voran durch die scharfkantige Öffnung.
Drinnen hangelte er sich langsam auf den durchscheinenden Boden hinab und ging gebückt einmal um das Loch in der Mitte herum, aus dem der mächtige Drahtbaum ragte. Die einzelnen Fasern führten zu den spiegelnden Flächen im Kuppeldach. Beeindruckt wandte Ondragon den Kopf. Das war tatsächlich Teslas Wunderapparat!
Das Kribbeln in seinen Nervenbahnen verstärkte sich und in seiner Blutbahn warf die Euphorie regelrecht Blasen. Sie hatten den Schatz gefunden! Über sechzig Jahre hatte er hier in der Wüste gelegen und niemand hatte ihn entdeckt. Und nun stand er hier! Das Gefühl war so überragend, das es Ondragon fast aus den Schuhen warf. In diesen Moment wusste er, warum er seinen Job liebte.
Getragen von einer Woge aus Glückseligkeit ging er den gewölbten Boden ab, bis er eine Luke fand. Mit beiden Händen zog er sie auf und spähte nach unten. Wie in einem mittelalterlichen Wehrturm führte eine Wendeltreppe aus Stahl in die undurchdringliche Finsternis hinab. Ondragon trat probeweise auf die erste Stufe, beugte sich über das wackelige Geländer und leuchtete in das düstere Zentrum. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als der Lichtschein auf ein hohes, mit etlichen Drahtwindungen umwickeltes Kupferrohr fiel. Es ragte in der Mitte des Turmes auf und aus seiner Spitze wuchs der dicke Drahtstrang, der oben durch das Loch in der Kuppel verschwand. Das musste eine gigantische Spule sein, dachte Ondragon fasziniert und streckte eine Hand aus, weil er meinte, Wärme spüren zu können. Ging sie von dem riesigen Rohr aus? Merkwürdig. Die Spule konnte doch wohl kaum in Betrieb gewesen sein. Vielleicht war es auch nur eine Sinnestäuschung. Hier drinnen war es eh viel wärmer als draußen. Er bückte sich und hob eine Schraube von der Treppe auf. Lauschend ließ er sie in die Tiefe fallen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis das Metallstück aufschlug und ein helles Klirren von sich gab. Dort unten befand sich noch mehr Metall. Und vielleicht auch die geheime Fracht der Junkers!
Vorsichtig nahm Ondragon eine rostige Stufe nach der anderen, die sich spiralförmig nach unten bewegten. Dabei stellte er fest, dass die Wände des Turmes achteckig waren wie auf der Zeichnung von Teslas Architekten. Je tiefer er kam, desto höher ragte die riesenhafte Spule neben ihm auf. Gänsehaut überkam ihm. Er war dabei, etwas zu betreten, das er nur von einem hundert Jahre alten Bild kannte. Etwas, das es eigentlich gar nicht geben durfte. Aber der Turm war da. Auch wenn er nicht von Tesla selbst gebaut worden war, sondern von Nazi-Wissenschaftlern. Aber er war Realität. Ob er auch funktioniert hatte?
Ondragon erreichte die unterste Stufe und ließ das Licht der Stirnlampe umherschweifen. Leichte Enttäuschung machte sich breit. Hier unten befand sich nichts Besonderes außer dem Betonfundament des Turmes, dem hölzernen Sockel der Spule und einigen Apparaten, die über dicke Kabel mit der Spule verbunden waren. Nichts lag unordentlich herum, alles sah so aus, als stünde es an seinem vorgesehenen Platz. Nirgendwo waren hastig aufeinandergestapelte Kisten oder sonstiges Material zu sehen. Ondragon ging um die Apparate herum und suchte sie ab, es waren große Kästen mit Schaltern und Relais. Aber auch hier fand er keinen Hinweis auf eine mögliche Fracht der Junkers.
Sein Funkgerät knackte. „He, Klapperschlange? Ist alles in Ordnung bei dir?“, hörte er Achille fragen.
„Ja, alles OK“, antwortete er.
„Was hast du gefunden?“
„Eine riesige Spule und etwas, das wie die Steuerungskästen aussieht, jedoch nichts, was in dem Flugzeug der Nazis gewesen sein könnte. Ich suche noch ein wenig weiter. Over.“ Er leuchtete erneut den Raum ab und blieb an einer Nische hängen. Da war doch was! Geduckt ging er darauf zu und erkannte eine Tür. Prüfend legte er eine Hand auf den Knauf und zog daran. Die Tür war nicht verschlossen. Doch bevor er sie ganz öffnen und dahinter sehen konnte, ging im Turm plötzlich das Licht an! Ruckartig hob Ondragon den Kopf und blickte nach oben. Dort hingen an die zwanzig altmodische Glühbirnen an Kabeln und leuchteten so grell, dass er die Augen zusammenkneifen musste.
Was zum Teufel …? Warum gab es hier Strom? Und wo war der Schalter? Er hatte doch nichts außer der Tür angefasst.
„Klapperschlange, bist du das?“, fragte Achille aus dem Funkgerät. „Ich sehe Licht. Kommst du wieder nach oben?“
Ondragon wollte Achille antworten, doch etwas bohrte sich mit einem Mal sehr nachdringlich in seinen Nacken. Kaltes Metall. Er erstarrte und hob langsam seine Hände. Und als er kurz darauf eine ihm wohlbekannte Stimme vernahm, wusste er, dass jemand anderes ihm zuvorgekommen war.