56. Kapitel
13. September 1899
Colorado Springs
am Morgen
Beschwingt machte sich Philemon auf den Weg zum Labor. Er war noch immer ganz beseelt von den Ereignissen des gestrigen Tages. Unbewusst tastete seine Hand in seiner Hosentasche nach dem Zettel von Myers und stellte beruhigt fest, dass er noch da war. Mit einem Lächeln klopfte er auf die Tasche. Danach schaute er prüfend in den Himmel hinauf. Über Nacht war es deutlich kühler geworden, und am Horizont drohten Wolken mit Regenschauern. Eilig marschierte Philemon in die Prärie hinaus, den Blick immer auf das Laborgebäude geheftet. Doch schon von weitem erkannte er, dass da etwas nicht stimmte.
Dort liefen viel zu viele Menschen herum. Philemon beschleunigte seinen Schritt, bis er rannte. Mit pochendem Herzen kam er beim Labor an und sah sich um. Geschäftig eilten fremde Männer hinein und wieder hinaus. Einige davon trugen die Uniform der örtlichen Polizei.
„Was ist hier los?“, fragte er den Nächstbesten, der aus dem Gebäude kam, und hielt nebenbei Ausschau nach Dr. Tesla und den anderen.
„In der Nacht ist ein Feuer ausgebrochen“, entgegnete der Konstabler.
„Ein Feuer?“ Erst jetzt erkannte Philemon die verkohlten Dachbalken. „Aber wie kann das sein?“
Der Konstabler zuckte mit den Schultern. „Bei den ganzen seltsamen Geräten dort drinnen ist das kein Wunder, wenn Sie mich fragen.“
„Ist jemand zu Schaden gekommen?“ Philemons Blick huschte hin und her. Wo war Tesla? War er nicht hier gewesen, als das Feuer ausbrach, in seiner Kammer?
„Nein, soweit wir wissen, ist niemand verletzt worden“, antwortete der Konstabler. „Das Labor war verschlossen, als wir und die Feuerbrigade eintrafen. Niemand war drinnen.“
Philemon strich sich fahrig über den Schnurrbart und schaute erneut zu den schwarzen Dachbalken hinauf. „Danke“, sage er dann und lief rasch in das Gebäude.
„Seien Sie vorsichtig, es könnte einstürzen!“, rief der Konstabler ihm noch hinterher, aber Philemon kümmerte sich nicht darum. Suchend sah er sich im Inneren des Labors um. Sämtliche Apparaturen waren mit Ruß überzogen und die Kabellagen an den Wänden verschmort. Das Feuer musste sich vom Dach her ausgebreitet haben, schien aber rechtzeitig gelöscht worden zu sein, bevor es auf die komplette Einrichtung hatte übergreifen können. Philemon schaute hinauf in den grauen Himmel, der durch die Dachbalken zu sehen war.
„Doktor? Löwenstein? Czito? Wo sind Sie?“ Er lief zu dem kleinen Studierzimmer. Doch auch dort war niemand. Die komplette Einrichtung lag kreuz und quer verstreut. Die Notizbücher des Doktors und seine gesamten Arbeitsmaterialien. Es sah aus, als hätte jemand etwas Bestimmtes gesucht und dabei alles von den Regalen gefegt. Die Kiste mit den Röhren war jedoch noch da. Eine dünne Schicht Asche bedeckte auch hier alles. Philemon roch Rauch und noch etwas anderes. Petroleum? Öl? Rasch machte er auf dem Absatz kehrt und lief zurück in das Labor. Die Schrankapparatur stand offen und sämtliche Glaszylinder lagen in Scherben. Ob sie nun aber im Feuer gesprungen waren oder mit Absicht zerschlagen wurden, vermochte Philemon nicht zu sagen. Er sah durch die Hintertür hinaus und entdeckte dort endlich die drei Wissenschaftler. Sie standen in einiger Entfernung zum Gebäude und blickten mit versteinerten Mienen in die Prärie hinaus.
„Dr. Tesla!“, rief Philemon. „Dr. Tesla! Was ist passiert?“
Als er bei den drei Männern ankam, wandte sich Löwenstein zu ihm um. In seinen Augen lag Resignation. „Ein Feuer“, antwortete er. „Wir vermuten, dass es von jemandem gelegt wurde.“
„Dann war es doch Petroleum, das ich gerochen habe“, bestätigte Philemon aufgeregt. „Damit wollten die Brandstifter bestimmt den Brand beschleunigen. Auch die Röhren sind zerstört worden. Außerdem wurde Ihr Studierzimmer durchwühlt, Dr. Tesla. Jemand hat dort etwas gesucht! Was ist mit Ihrem Notizbuch? Das mit dem goldenen Kreis darauf. Haben Sie es noch?“ Mit einem Mal wurde Philemon ganz übel. Übel von der Schlechtigkeit dieser Welt.
Dr. Tesla blinzelte. Er wirkte traurig. Mit einer behandschuhten Hand strich er sich über den schwarzen Cutaway, den er heute trug. „Es ist hier“, sagte er leise und klopfte auf eine Ausbeulung in Höhe seiner Brust, „bei mir. Ich habe es immer bei mir. Das sagte ich bereits. Ich …“, seine Stimme geriet ins Stocken, „… ich glaube, ich muss mich jetzt etwas ausruhen … Ja, ein wenig Schlaf könnte mir guttun.“ Er schluckte und schwankte leicht. Löwenstein trat einen raschen Schritt auf ihn zu und bot ihm seine Hand als Stütze an, doch Tesla lehnte mit einem dankenden Nicken ab.
Philemon schmerzte es, den Doktor so zu sehen. Zu sehen, wie er daran litt, dass die Menschen dort draußen seine unvoreingenommene Liebe nicht erwiderten. Und es schmerzte mitzuerleben, wie seine Großzügigkeit mit nichts als Missgunst und Abscheu vergolten wurde.
„Das waren bestimmt diese Pinkertons!“, sagte er wütend. „Diese heimlichen Hunde! Diese verfluchten Schnüffler! Ihre Abreise war vermutlich nur ein Täuschungsmanöver.“ Er würgte den Kloß in seinem Hals herunter und fühlte sich hilflos und erfüllt von Scham, während der Doktor mit gebeugtem Rücken dastand, von Erschöpfung und Enttäuschung gezeichnet.
Dann wandte er traurig den Blick ab. Es war die Unvernunft der Menschen, die Engstirnigkeit und Dummheit in dieser Welt, die verhinderten, dass wunderbare Dinge geschehen konnten. „Ich bringe den Doktor jetzt ins Hotel“, sagte Löwenstein in seine Gedanken hinein. „Dort kann er sich ausruhen. Sie und Czito bleiben hier und schauen, was von dem Labor noch zu retten ist. Unsere Arbeit hier ist noch nicht zu Ende!“ Er wies Tesla den Weg, den dieser bereitwillig einschlug.
Lange sah Philemon den beiden hinterher, wie sie langsam nebeneinander her über die Prärie zur Stadt gingen, bevor er Czito in das zerstörte Gebäude folgte.
„Wo war der Doktor, als das Feuer ausbrach?“, fragte er den Serben, der begonnen hatte, mit einem Tuch die Asche von den Apparaturen zu wischen. „War er denn heute Nacht nicht in seiner Kammer?“
Philemon warf einen Blick zu dem kleinen Studierzimmer hinüber und ließ ihn danach durch das Labor gleiten. Dabei bemerkte er, dass auch das Terminal fort war. Suchend ging er durch den Raum. „Wo ist das Terminal?“
„Draußen“, brummte Czito, ohne aufzusehen.
„Draußen? Warum war es bei dem Brand denn nicht drinnen?“
Czito zuckte mit den Schultern.
„Aber wir hatten es doch gestern nach dem Experiment hereingebracht. Das weiß ich ganz sicher.“
„Dann hat es eben jemand wieder nach draußen geschafft. Vielleicht die Feuerwehr.“
Philemon runzelte die Stirn. Er ging zur Hintertür und sah hinaus. Dort stand es, das Terminal. Einsam und allein in der Prärie. Er hatte es zuvor wohl nicht bemerkt. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. Warum sollte die Feuerwehr ausgerechnet diesen Apparat nach draußen schaffen? Die Kupferröhre sah nicht mal wertvoll aus.
„Könnte der Doktor das Terminal dorthin gebracht haben?“, fragte Philemon Czito.
Der kleine Serbe sah von seiner Arbeit auf. „Der Doktor? Ganz alleine?“ Er grunzte vergnügt. „Niemals!“
Philemon sah es ein. Löwenstein und er hatten schon zu zweit Probleme gehabt, das Ding zu bewegen. „Das ist wirklich seltsam“, murmelte er und ging zurück in das Labor. „Finden Sie das nicht auch?“
Czito rollte mit den Augen. „Mr. Ailey, es dürfte Ihnen doch längst aufgefallen sein, dass hier allerhand seltsame Dinge vorgehen.“
Philemon musste grinsen. Das stimmte!
„Kommen Sie“, sagte Czito schließlich. „Wir haben einiges zu tun. Es sieht so aus, als seien die meisten Geräte noch einsatzbereit. Dr. Tesla wird seine Arbeit so schnell wie möglich fortsetzen wollen und wir sollten das Dach abdecken, bevor der erste Regen kommt.“
Philemon folgte dem kugelbäuchigen Serben und machte sich an die Arbeit. Sein Zorn hatte einem weit besseren Gefühl Platz gemacht. Trotz.
Wenn der Doktor die Kraft besaß, hier weiterzumachen, dann würde er sie auch haben!