12

Am Sonntagabend ging Rathbone in die Fitzroy Street, um mit Monk zu reden. Er konnte die Ungewissheit nicht länger ertragen, und er wollte seine Besorgnis mit jemandem teilen.

»Leichendiebe!«, wiederholte er ungläubig, als Hester ihm berichtete, woher Treadwell ihrer Meinung nach sein zusätzliches Einkommen bezogen hatte.

»Nicht direkt«, korrigierte Monk ihn. »Genau genommen wurden die Leichen nie begraben, sondern direkt vom Bestattungsunternehmer ins Hospital gebracht.« Er saß in dem großen Sessel vor dem Feuer. Der Herbst machte sich an den Abenden langsam bemerkbar. Hester saß vornübergebeugt da, die Arme um den Leib geschlungen, das Gesicht blass. Sie erzählte ihm mit einfachen, schlichten Worten von John Robbs Tod, und er konnte an ihrer Haltung ablesen, dass der Verlust sie tief getroffen hatte.

»Das macht die Sache einfacher«, sagte Monk an Rathbone gewandt. »Warum sollte man sie erst begraben und dann die Mühe und das beträchtliche Risiko auf sich nehmen, sie wieder auszugraben, wenn man einfach von Anfang an stattdessen Ziegelsteine in die Särge legt?«

»Und Treadwell hat sie transportiert?« Rathbone wollte sich versichern, dass er alles richtig verstanden hatte. »Sind Sie davon überzeugt?«

»Ja. Wenn es sein müsste, könnte ich genug Zeugen benennen, um jeden Zweifel zu zerstreuen.«

»Und er hat Fermin Thorpe erpresst?«

Monk zuckte die Achseln. »Das weiß ich eben nicht. Beweise habe ich keine, und so ungern ich es zugebe, es ist eher unwahrscheinlich. Warum sollte er? Er machte bei dem Geschäft einen hübschen Gewinn. Nichts konnte weniger in seinem Interesse liegen, als Thorpe vor Gericht zu sehen.«

Dieser Einwand war überzeugend, und Rathbone akzeptierte ihn. »Haben wir irgendetwas in der Hand, womit sich eine Verteidigung untermauern ließe? Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll…«

Hester sah ihn unglücklich an und schüttelte den Kopf.

»Nein«, antwortete Monk ratlos. »Wir könnten Thorpe wahrscheinlich dazu bringen, dass er die Anklage wegen Diebstahls fallen lässt – aber das würde uns, was den Mord betrifft, nicht weiterbringen. Dabei hilft uns einzig und allein Ihr Geschick.« Er sah Rathbone freimütig an, und in seinen Augen lag ein Respekt, der Rathbone bei anderer Gelegenheit mit Stolz erfüllt hätte.

Um sieben Uhr am Montagmorgen stand Rathbone vor Miriams Gefängnistür. Eine mürrische Wärterin führte ihn hinein.

Die Tür fiel mit einem Klirren hinter ihm ins Schloss. Miriam blickte auf. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Er hatte keine Zeit, um den heißen Brei herumzureden.

»Ich gehe ohne Waffen in den Kampf«, sagte er lediglich.

»Ich akzeptiere, dass Sie lieber Ihr Leben opfern wollen, als mir zu verraten, wer Treadwell und Verona Stourbridge getötet hat – aber sind Sie ganz sicher, dass Sie Cleo Anderson all das Gute, das sie Ihnen erwiesen hat, vergelten wollen, indem Sie auch sie dem Henker ausliefern?«

Miriam sah so aus, als wäre sie einer Ohnmacht nahe. Sie hatte Mühe, zu sprechen.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, Sir Oliver, selbst wenn Sie es wüssten, würde niemand Ihnen glauben. Ich könnte Ihnen alles erzählen, und es würde nur noch mehr Schaden daraus erwachsen. Glauben Sie nicht, ich würde alles Menschenmögliche tun, um Cleo zu retten, wenn ich es könnte? Sie bedeutet mir mehr als sonst ein Mensch auf dieser Welt – außer Lucius. Und ich weiß, wie viel ich ihr schulde. Sie brauchen mich nicht daran zu erinnern, als hätte ich es vergessen. Wenn ich an ihrer Stelle hängen könnte, würde ich es mit Freuden tun! Ich werde sogar zugeben, Treadwell ermordet zu haben, wenn es denn Cleo hilft.«

Er glaubte ihr jedes Wort, das sie gesagt hatte, und es gab für ihn keinen Zweifel, dass sie mit ruhigem Herzen sterben würde, wenn sie wüsste, dass sie Cleo damit retten könnte. Das bedeutete nicht, dass Cleo tatsächlich unschuldig war, nur dass Miriam sie liebte.

»Ich werde tun, was ich kann«, antwortete er leise. »Ich bin mir nicht sicher, ob das viel nutzen wird.«

Sie sagte nichts, schenkte ihm aber ein kleines Lächeln.

Die Verhandlung begann in einem halb leeren Gerichtssaal. Rathbone hatte bereits seinen Platz eingenommen, als er Hester erblickte, wie sie sich mit einigen schnellen Worten an dem Gerichtsdiener vorbeidrängte, der noch immer mit ihr sprach, während sie bereits an ihm vorbeigegangen war und an Rathbones Tisch trat.

»Was gibt es Neues?«, fragte er und sah in ihr blasses, angespanntes Gesicht. »Was ist passiert?«

»Ich war heute Morgen bei Cleo«, flüsterte sie und beugte sich zu ihm vor. »Sie weiß, dass Miriam hängen wird, und es gibt nichts, was Sie tun können, es sei denn, die Wahrheit kommt ans Licht. Cleo kennt nur einen Teil dieser Wahrheit, aber sie kann es nicht ertragen, Miriam zu verlieren, ganz gleich, wer sonst dadurch zu Schaden kommt – selbst wenn es Lucius sein sollte und Miriam ihr das vielleicht niemals verzeihen wird.«

»Was weiß sie?«, fragte Rathbone scharf. »Welchen Teil der Wahrheit kennt sie? Um Gottes willen, Hester, sagen Sie es mir! Ich habe nichts in der Hand!«

»Rufen Sie Cleo in den Zeugenstand. Fragen Sie sie, wie sie Miriam überhaupt kennen gelernt hat. Sie denkt, dass die gegenwärtigen Ereignisse damit zu tun haben – es muss etwas so Furchtbares sein, dass Miriam sich nicht daran erinnern kann oder will. Aber jetzt haben Sie nichts mehr zu verlieren…«

»Danke, vielen Dank…« Spontan beugte er sich vor und küsste sie auf die Wange, und es war ihm gleichgültig, dass der Richter und alle anderen im Saal ihn beobachteten.

Tobias hüstelte vernehmlich und lächelte.

Der Richter schlug mit seinem Hammer auf den Tisch.

Hester lief rot an, kehrte aber mit einem Lächeln zu ihrem Platz zurück.

»Sind Sie so weit, dass Sie fortfahren können, Sir Oliver?«, fragte der Richter höflich.

»Jawohl, Euer Ehren. Ich rufe Mrs. Cleo Anderson in den Zeugenstand.«

Auf der Galerie machte sich ein aufgeregtes Raunen bemerkbar, und mehrere der Geschworenen rutschten unruhig auf ihren Stühlen herum.

Cleo wurde von der Anklagebank zum Zeugenstand geführt. Sie stand sehr aufrecht da, aber es kostete sie offensichtlich große Mühe, und sie sah kein einziges Mal zu Miriam hinüber. Mit unsicherer Stimme legte sie ihren Eid auf die Bibel ab, nannte ihren Namen und ihre Adresse und wartete dann ängstlich darauf, dass Rathbone mit dem Verhör begann.

Es war Rathbone zutiefst zuwider, was er nun tun musste, aber es ließ sich nicht vermeiden.

»Mrs. Anderson, wie lange leben Sie schon in Ihrem gegenwärtigen Haus in Green Man Hill?«

Sie verstand anscheinend sofort, was die Frage bedeutete, obwohl Tobias diesbezüglich im Dunkeln tappte, und seine Unsicherheit trat unverhohlen zu Tage, als er verärgert in die Runde blickte.

»Ungefähr dreißig Jahre«, erwiderte Cleo.

»Sie wohnten also bereits dort, als Sie Mrs. Gardiner das erste Mal begegneten?«, fragte Rathbone.

»Ja.« Es war kaum mehr als ein Flüstern.

Der Richter beugte sich vor. »Bitte sprechen Sie lauter, Mrs. Andersen. Die Geschworenen müssen Sie verstehen können.«

»Es tut mir Leid, Sir. Ja, ich wohne da.«

»Wie lange ist das jetzt her?«

Tobias erhob sich. »Das sind doch alles alte Geschichten, Euer Ehren. Wenn es Sir Oliver in irgendeiner Weise weiterhilft, konzediert die Krone, um dem Gericht Zeit zu sparen, an dieser Stelle Folgendes: Mrs. Anderson hat Mrs. Gardiner aufgenommen, als sie noch ein Kind war, und sie hat sich von Stund an mit großer Hingabe um sie gekümmert. Dies ist eine Tatsache, die wir nicht bestreiten, ebenso wenig, wie wir Beweise dafür benötigen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Rathbone mit beinahe übertriebener Freundlichkeit. »Aber darum geht es mir nicht. Wenn Sie so sehr darauf erpicht sind, nur ja nicht die Zeit des Gerichts zu vergeuden, würden Sie dann bitte so freundlich sein, mich nicht zu unterbrechen, solange dafür kein guter Grund vorliegt?«

Auf der Galerie wurde leises, nervöses Lachen laut, und wenigstens zwei der Geschworenen konnten sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Der Zorn trieb Tobias die Röte in die Wangen, aber er hatte sich fast sofort wieder unter Kontrolle.

Rathbone wandte sich erneut an Cleo.

»Mrs. Anderson, würden Sie uns bitte schildern, unter welchen Umständen Sie Mrs. Gardiner das erste Mal begegnet sind?«

Das Sprechen kostete Cleo große Anstrengung. Es war nicht zu übersehen, dass die Erinnerung sie aufwühlte und nur die Verzweiflung sie zu diesem Schritt trieb.

Rathbone hatte praktisch keine Ahnung, warum er ihr diese Frage stellte, nur dass Hester ihn dazu gedrängt hatte und er ansonsten über keinerlei andere Mittel verfügte.

»Es war an einem Abend im September, am zweiundzwanzigsten, glaube ich. Es war windig, aber nicht kalt.« Sie schluckte. Ihre Kehle war trocken, und sie begann zu husten.

Auf Anweisung des Richters brachte der Gerichtsdiener ihr ein Glas Wasser, dann fuhr sie fort.

»Der alte Josh Wetherall, der zwei Türen weiter wohnte, klopfte bei mir, um mir zu sagen, dass ein junges Mädchen, ein Kind, weinend auf der Straße säße. Die Kleine, so sagte er, sei vollkommen hysterisch und über und über mit Blut bedeckt. Er war selbst ganz außer sich vor Sorge und Verwirrung, der arme Mann, und hatte keine Ahnung, wie er der Kleinen helfen sollte.« Sie holte tief Luft.

Niemand bewegte sich oder unterbrach sie. Selbst Tobias schwieg, obwohl sein Gesicht noch immer Ungeduld widerspiegelte.

»Natürlich bin ich hingegangen, um zu sehen, was ich tun konnte«, fuhr Cleo fort. »Jeder hätte so gehandelt, aber da ich Krankenschwester bin, wird er wohl gedacht haben, ich wüsste ein bisschen mehr über solche Dinge.«

»Und das Kind?«, hakte Rathbone nach.

Cleo umfasste mit beiden Händen das Gitter vor sich.

»Josh hatte Recht, sie war in einem furchtbaren Zustand…«

»Würden Sie sie bitte für uns beschreiben?« Rathbone wandte sich direkt an sie und ignorierte Tobias, der zu einem Einspruch ansetzte, vollkommen. »Wir müssen sie so sehen, wie Sie sie damals vorgefunden haben, Mrs. Anderson.«

Sie blickte ihn flehentlich an, und ihr ganzer Körper schien sich gegen diese Aussage zu wehren.

»Es muss sein, Mrs. Anderson. Bitte glauben Sie mir, es ist sehr wichtig.« Er log. Er hatte keine Ahnung, ob das alles zu etwas führen würde oder nicht, aber zumindest hörten die Geschworenen zu und endlich waren sie auch emotional beteiligt.

Cleo saß steif und zitternd da. »Sie war hysterisch«, sagte sie sehr leise.

Der Richter beugte sich vor, um besser hören zu können, aber er verlangte nicht noch einmal von ihr, lauter zu sprechen.

Niemand im Gerichtssaal bewegte sich oder gab auch nur den leisesten Laut von sich.

Rathbone nickte und bedeutete ihr fortzufahren.

»Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden in solcher Angst gesehen«, sagte Cleo nicht zu Rathbone oder zu dem Gericht, sondern als spräche sie laut mit sich selbst. »Sie war voller Blut, ihre Augen starrten ins Leere. Sie taumelte und stieß gegen alle möglichen Dinge und stundenlang war sie überhaupt nicht in der Lage zu sprechen. Sie schnappte nur wieder und wieder nach Luft und zitterte furchtbar. Ihr wäre wohler gewesen, wenn sie hätte weinen können.« Wieder hielt sie inne, und das Schweigen zog sich in die Länge, aber niemand gab einen Laut von sich. Selbst Tobias war klug genug, nicht zu unterbrechen.

»Welcher Natur waren ihre Verletzungen?«, fragte Rathbone schließlich.

Cleo schien in die Gegenwart zurückzukehren und sah ihn an, als hätte sie ihn schon fast vergessen.

»Welcher Natur waren ihre Verletzungen?«, wiederholte Rathbone. »Sie sagten, sie sei voller Blut gewesen, und offensichtlich hatte sie ein grauenvolles Erlebnis hinter sich.«

Cleo blickte verlegen drein. »Wir wissen nicht, wie es geschah, jedenfalls nicht wirklich. Tagelang konnte sie nicht einen einzigen vernünftigen Satz hervorbringen, und das arme Kind war so verängstigt, dass niemand in sie drang. Sie lag lediglich mit angezogenen Beinen in meinem Bett, beide Arme um den Leib geschlungen, und ab und zu weinte sie, als sei ihr Herz gebrochen, und sie hatte vor jedem Mann, der sich ihr näherte, solche Angst, dass wir nicht einmal nach einem Arzt schicken wollten.«

»Aber die Verletzungen?«, fragte Rathbone noch einmal.

»Wie war das mit dem Blut?«

Cleo sah an ihm vorbei. »Sie trug nur ein langes baumwollenes Nachthemd. Es war von oben bis unten voller Blut und ihr Körper war übersät mit Prellungen und Schnittwunden…«

»Ja?«

Cleo sah zum ersten Mal zu Miriam hinüber, und die Tränen rannen ihr übers Gesicht.

Verzweifelt formte Miriam mit den Lippen das Wort »Nein«.

»Mrs. Andersen!«, sagte Rathbone scharf. »Woher kam das Blut? Wenn Sie wirklich unschuldig sind, und wenn Sie glauben, dass auch Miriam Gardiner unschuldig ist, kann nur die Wahrheit Sie noch retten. Das ist Ihre letzte Chance, uns diese Wahrheit zu sagen. Wenn das Urteil erst verkündet ist, bleiben Ihnen nichts als die kurzen Tage und Nächte bis zu Ihrer Hinrichtung.«

Tobias erhob sich.

Rathbone drehte sich zu ihm um. »Bestreiten Sie die Richtigkeit meiner Ausführungen, Mr. Tobias?«, wollte er wissen.

Tobias starrte ihn mit kaum verhohlenem Ärger an.

»Mr. Tobias?«, hakte der Richter nach.

»Nein, natürlich nicht«, räumte Tobias ein und nahm wieder Platz.

Rathbone wandte sich abermals zu Cleo um. »Ich wiederhole, Mrs. Anderson, woher kam das Blut? Sie sind Krankenschwester. Sie müssen über rudimentäre Kenntnisse der Anatomie verfügen. Erzählen Sie uns nicht, Sie hätten nichts unternommen, um diesem blutüberströmten, zu Tode verängstigten Kind zu helfen, nichts, außer ihm ein sauberes Nachthemd zu geben!«

»Natürlich habe ich ihr geholfen!«, schluchzte Cleo. »Das arme kleine Ding hatte gerade ein Kind geboren – und dabei war sie selbst noch ein Kind. Eine Fehlgeburt, das vermutete ich jedenfalls.«

»Hat sie selbst Ihnen das gesagt?«

»Sie redete wirr. Ihre Worte ergaben kaum Sinn. Manchmal war sie kurz bei Verstand, dann wieder nicht. Sie bekam ein furchtbares Fieber, und wir waren nicht einmal sicher, ob wir sie überhaupt würden retten können. Es kommt sehr häufig vor, dass Frauen nach einer Geburt am Fieber sterben, vor allem wenn es eine schlimme Geburt war. Und sie war so jung – viel zu jung, das arme kleine Ding.«

Rathbone versuchte es mit einer gewagten Vermutung. Bisher war das alles zwar sehr tragisch, hatte aber weder mit den Morden an Treadwell noch an Verona Stourbridge etwas zu tun. Es sei denn, Treadwell hätte Miriam wegen des Kindes erpresst? Aber würde das Lucius so viel ausmachen? Würde eine solche Tragödie genügen, um ihn davon abzuhalten, sie zu heiraten? Oder seine Familie diese Heirat zuzulassen?

Rathbone hatte ihr bisher noch keinen großen Dienst erwiesen und nichts zu verlieren, wenn er diese Geschichte so weit wie nur möglich aufdeckte.

»Sie müssen sie doch gefragt haben, was geschehen ist?«, sagte er schroff. »Was hat sie gesagt? Das Gesetz zumindest hatte doch eine gewisse Erklärung gefordert. Was war mit ihrer eigenen Familie? Was haben ihre Leute getan, Mrs. Anderson, mit diesem verletzten und hysterischen Kind, dessen Geschichte für Sie keinen Sinn ergab?«

Cleos Gesicht verkrampfte sich, und sie sah Rathbone trotzig an.

»Ich habe die Polizei nicht verständigt. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich habe sie natürlich nach ihrem Namen gefragt und ob sie eine Familie hätte, die nach ihr suchen würde. Sie sagte, es gebe keine Familie und wer ich denn sei, das zu bestreiten? Sie sei eins von acht Kindern, und ihre Familie habe sie in Dienst gegeben, in ein gutes Haus.«

»Und das Kind?« Rathbone musste die Frage einfach stellen.

»Was für ein Mann ist das, der eine Zwölfjährige schwängert? Sie muss zwölf Jahre alt gewesen sein, als sie das Kind empfing. Hat der Vater sie sitzen lassen?«

Cleos Gesicht war aschfahl. Rathbone wagte es nicht, Miriam anzusehen. Er konnte nicht einmal erahnen, was sie im Augenblick durchmachte, während sie auf der Anklagebank saß und sich all das anhören musste. Er fragte sich, ob sie Harry oder Lucius Stourbridge ansehen würde oder Aiden Campbell, der bei den beiden Stourbridges in der ersten Reihe des Gerichtssaals saß. Vielleicht war dies hier schlimmer als alles, was sie bisher hatte ertragen müssen. Aber wenn sie, wenn Cleo überleben sollte, dann war es unabdingbar.

»Mrs. Anderson?«

»Sie hat ihm nie etwas bedeutet«, sagte Cleo sehr leise. »Sie sagte, er habe sie vergewaltigt, mehrmals. So ist sie zu dem Kind gekommen.«

Einer der Geschworenen sog scharf die Luft ein. Ein anderer ballte die Faust und schlug kurz und hart auf das Geländer vor sich.

Lucius wollte sich erheben, besann sich dann aber anders, hilflos und unentschlossen. Er wusste nicht, was er tun sollte.

»Aber das Kind kam tot zur Welt«, sagte Rathbone in die Stille hinein.

»So hatte ich mir das auch gedacht«, pflichtete Cleo ihm bei.

»Und was hatte Miriam in diesem Zustand allein in der Heide zu suchen?«

Cleo schüttelte den Kopf, als wolle sie die Wahrheit loswerden, als wolle sie sie in alle Winde zerstreuen.

Tobias starrte sie an.

Als sei sie sich seines Blickes bewusst, sah sie Rathbone noch einmal flehentlich an. Aber ihr Flehen galt Miriam, nicht ihr selbst. Davon war er absolut überzeugt.

»Was hat sie gesagt?«, fragte er.

Cleo senkte den Blick. Als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

»Dass sie mit einer anderen Frau aus dem Haus geflohen sei und dass diese versucht habe, sie zu schützen, und die Frau sei ermordet worden… da draußen auf der Heide.«

Rathbone war sprachlos. In seiner Phantasie hatte er viele Möglichkeiten durchgespielt, aber nicht diese. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu fassen. Er wollte Miriam eigentlich nicht ansehen, aber er konnte nicht verhindern, dass sein Blick in ihre Richtung wanderte.

Sie saß mit kalkweißem Gesicht und geschlossenen Augen auf der Anklagebank. Es muss ihr bewusst gewesen sein, dass jeder Mann und jede Frau im Raum sie anstarrten und dass sie sich nur in sich selbst zurückziehen konnte. Er sah den Schmerz in ihrem Gesicht, einen Schmerz, der unerträglich war – aber keine Überraschung. Sie hatte gewusst, was Cleo sagen würde. Mehr als alles andere, gab das ihm absolute Gewissheit. Er glaubte ihr. Ob es geschehen war oder nicht, ob es eine solche Frau gegeben hatte, ob sie die Ausgeburt der Phantasie eines gequälten und hysterischen Mädchens im Fieberdelirium war, Miriam glaubte, dass es die Wahrheit war.

Rathbone warf Hester einen raschen Blick zu und sah auch in ihrem Gesicht fassungsloses Staunen. Sie hatte gewusst, dass es da ein Geheimnis gab – aber das hier überraschte selbst sie.

Er stellte die Frage, auf die das ganze Gericht wartete.

»Und wurde der Leichnam dieser Frau gefunden, Mrs. Anderson?«

»Nein…«

»Sie haben nach ihr gesucht?«

»Natürlich haben wir das. Wir haben alle gesucht. Jeder einzelne Mann in unserer Straße.«

»Aber Sie haben sie nie gefunden?«

»Nein.«

»Und Miriam konnte Sie nicht zu der Stelle führen? Noch einmal – ich darf doch davon ausgehen, dass Sie sie gefragt haben? Das war schließlich kaum ein Thema, das Sie einfach fallen lassen konnten!«

Sie sah ihn wütend an. »Natürlich haben wir das Thema nicht fallen lassen! Sie sagte, es sei bei einer Eiche geschehen, aber die Heide ist voller Eichen. Als wir nach einer ganzen Woche des Suchens noch immer nichts fanden, gingen wir davon aus, dass sie vorübergehend den Verstand verloren haben muss, sehr verständlich, nach allem, was passiert war. Die Menschen sehen alle möglichen Dinge, wenn sie krank sind, ganz zu schweigen von dem Kummer um ein totes Kind – und das, wo sie doch selbst noch ein Kind war!« Ihre Verachtung für ihn schwang in ihren Worten deutlich mit, obwohl er nur tat, was er tun musste.

Tobias saß an seinem Pult und schüttelte den Kopf.

»Sie haben also daraus den Schluss gezogen, dass sie sich zumindest diesen Teil ihrer Geschichte – ihres Alptraums – eingebildet hatte, und Sie haben die Geschichte einfach vergessen?«, hakte er nach.

»Natürlich haben wir das. Sie brauchte Monate, um sich zu erholen, und als es ihr endlich besser ging, waren wir alle so glücklich darüber, dass wir nie wieder von diesen Dingen sprachen. Warum sollten wir auch? Niemand sonst hat es je getan. Niemand kam, um jemanden zu suchen. Die Polizei wurde gefragt, ob jemand vermisst gemeldet worden sei.«

»Und was war mit Miriam? Hatten Sie der Polizei gesagt, dass Sie sie gefunden haben? Immerhin war sie damals doch selbst erst dreizehn Jahre alt.«

»Natürlich haben wir der Polizei das alles gesagt. Sie war nirgendwo vermisst gemeldet worden, und die Polizei war mehr als zufrieden, dass jemand sich um das Kind kümmerte.«

»Und sie ist in der Folge bei Ihnen geblieben?«

»Ja. Sie wuchs zu einem sehr hübschen Mädchen heran.« In ihren Worten lag unverkennbarer Stolz. Ihre Liebe zu Miriam war so deutlich in ihrer Miene zu lesen und in ihrer Stimme zu hören, dass keine Worte beredter davon hätten Zeugnis ablegen können. »Als sie neunzehn war, begann Mr. Gardiner, sie zu umwerben. Sehr vorsichtig, sehr sanft machte er seine ersten Annäherungsversuche. Wir wussten, dass er ein Gutteil älter war als sie, aber es machte ihr nichts aus und das war alles, was zählte. Wenn er sie glücklich machte, dann war das für mich das einzig Wichtige.«

»Und die beiden haben geheiratet?«

»Ja, eine Weile später. Und er war ihr ein sehr guter Ehemann, jawohl.«

»Und als er starb?«

»Ja. Das war sehr traurig. Er starb jung, obwohl er natürlich älter war als sie. Er bekam einen Herzanfall, und wenige Tage später war er tot. Sie hat ihn wirklich vermisst.«

»Bis sie Lucius Stourbridge begegnete?«

»Ja – aber das war drei Jahre später.«

»Aber sie hatte keine Kinder von Mr. Gardiner?«

»Nein.« Ihre Stimme klang, als sei sie zwischen zwei sich widerstreitenden Gefühlen hin und her gerissen. »Diese Gnade blieb ihr verwehrt. Nur Gott allein weiß, warum. So etwas geschieht und häufiger als Sie vielleicht denken.«

Tobias erhob sich mit entnervter Miene.

»Euer Ehren, wir haben mit großer Geduld Miriam Gardiners Lebensgeschichte über uns ergehen lassen, und auch wenn wir selbstverständlich großes Mitgefühl für ihre frühen Erfahrungen aufbringen, wie auch immer die Wahrheit diesbezüglich aussehen mag, so hat das alles doch nicht das Geringste mit dem Tod von James Treadwell und Verona Stourbridge zu tun – es sei denn, es hätte Treadwell mit neuerlichem Material für seine erpresserischen Versuche versehen. Wenn er von diesem ersten Kind von Mrs. Gardiner wusste, glaubte er vielleicht, die Familie Stourbridge würde sie weniger freudig aufnehmen – das Opfer einer Vergewaltigung oder was auch immer sonst dahinter gesteckt haben mochte.«

Der Richter machte keinen Hehl aus dem Abscheu, den er bei diesen Worten empfand, aber Tobias’ Argument war stichhaltig, und er wusste es.

»Sir Oliver?«, sagte er fragend. »So wie es aussieht, haben Sie mehr Mr. Tobias’ Sache vorangetrieben als Ihre eigene.

Haben Sie noch weitere Punkte, die Sie mit Ihren Mandanten besprechen möchten?«

Rathbone hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er war verzweifelt.

»Ja, Euer Ehren, wenn Sie so freundlich sein wollen.«

»Dann fahren Sie fort, aber sorgen Sie bitte dafür, dass es mit den Ereignissen in Zusammenhang steht, die zu beurteilen wir uns hier zusammengefunden haben.«

»Sehr wohl, Euer Ehren.« Er drehte sich zu Cleo um.

»Glauben Sie, dass sie vergewaltigt wurde, Mrs. Anderson? Oder denken Sie vielleicht, dass sie eben nicht besser war, als man es von solchen Mädchen erwarten darf, und…«

»Sie war dreizehn!«, sagte Cleo wütend. »Zwölf, als es geschah! Natürlich glaubte ich, dass sie vergewaltigt worden war! Sie war ja halb von Sinnen vor Angst!«

»Vor wem hatte sie Angst? Vor dem Mann, der sie vergewaltigt hatte – selbst da noch, neun Monate danach? Warum?«

»Weil er versucht hat, sie umzubringen!«, schrie Cleo. Rathbone heuchelte Überraschung. »Das hat sie Ihnen erzählt?«

»Ja!«

»Und was haben Sie deswegen unternommen? Da war also irgendwo in der Nähe der Heide ein Mann, der das Mädchen vergewaltigt hatte, das Sie bei sich aufnahmen und wie Ihre eigene Tochter großzogen, und er hatte sie nicht nur vergewaltigt, sondern in der Folge auch noch versucht, sie zu ermorden – und Sie haben ihn nie gefunden? In Gottes Namen, warum nicht?«

Cleo zitterte und rang nach Atem, und Rathbone fürchtete, dass er zu weit gegangen war.

»Ich glaubte, dass sie vergewaltigt worden war oder verführt«, wisperte Cleo. »Aber Gott verzeih mir, ich dachte, was den Angriff auf ihr Leben betraf, da habe sich in ihrem Kopf alles vermischt, weil sie doch ein totes Baby geboren hatte, das arme kleine Ding.«

»Bis wann dachten Sie das?«, fragte Rathbone eindringlich und mit erhobener Stimme. »Bis sie wieder einmal zu Ihnen gelaufen kam, fast hysterisch und zu Tode verängstigt! Und diesmal fand sich auf der Heide tatsächlich eine Leiche – die von James Treadwell! Vor wem ist sie davongelaufen, Mrs. Andersen?«

Die Stille war vollkommen.

Ein Geschworener hustete, und es klang wie eine Explosion.

»War es James Treadwell?« Rathbone ließ seine Worte wie eine Herausforderung klingen.

»Nein!«

»Wer dann?« Schweigen.

Der Richter beugte sich vor. »Wenn wir Ihnen glauben sollen, dass es nicht James Treadwell war, Mrs. Anderson, dann müssen Sie uns sagen, wer es war.«

Cleo schluckte krampfhaft. »Aiden Campbell.«

Wenn eine Bombe explodiert wäre, hätte die Wirkung nicht gewaltiger sein können.

Rathbone war einen Moment wie gelähmt. Von der Galerie kam ein Brüllen.

Die Geschworenen wandten sich einander zu, rangen nach Luft oder gaben ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck.

Der Richter klopfte mit seinem Hammer auf den Tisch und rief zur Ordnung.

»Euer Ehren!« Rathbone hob die Stimme. »Dürfte ich darum bitten, dass das Gericht sich jetzt für die Mittagspause zurückzieht, damit ich mit meiner Mandantin sprechen kann?«

»Stattgegeben«, stimmte der Richter ihm zu und ließ abermals seinen Hammer niedersausen. »Das Gericht wird um zwei Uhr wieder zusammentreten.«

Rathbone verließ benommen den Gerichtssaal und ging in den Raum hinunter, in dem es Miriam Gardiner gestattet war, mit ihm zu sprechen.

Sie drehte nicht einmal den Kopf, als er die Tür öffnete und eintrat. Der Wärter blieb draußen stehen.

»War es Aiden Campbell, vor dem Sie geflohen sind?«, fragte er.

Sie sagte nichts, sondern saß nur reglos und mit abgewandtem Kopf da.

»Warum?«, hakte er nach. »Was hatte er Ihnen angetan?« Schweigen.

»War er derjenige, der Sie damals vergewaltigt hat?« In seiner Verzweiflung wurde seine Stimme immer lauter und schriller.

»Um Himmels willen, antworten Sie mir! Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie nicht mit mir reden?« Er beugte sich über den kleinen Tisch, aber sie wandte sich noch immer nicht zu ihm um. »Sie werden hängen!«, sagte er sehr deutlich.

»Ich weiß«, antwortete sie endlich.

»Und Cleo Andersen ebenfalls!«, fügte er hinzu.

»Nein – ich werde sagen, ich hätte auch Treadwell getötet. Ich werde es auf dem Zeugenstand beschwören. Sie werden mir glauben, weil sie mir glauben wollen. Keiner von ihnen möchte Cleo verurteilen.«

Das war die Wahrheit, und er wusste es ebenso gut wie sie.

»Sie werden das im Zeugenstand beschwören?«

»Ja.«

»Aber es ist nicht wahr!«

Diesmal drehte sie sich um und sah ihm direkt in die Augen.

»Das können Sie nicht wissen, Sir Oliver. Sie wissen nicht, was geschehen ist. Wenn ich sage, es ist so, wollen Sie dann Ihrer eigenen Mandantin widersprechen? Sie müssen ein Narr sein – es ist das, was die Leute hören wollen. Sie werden es glauben.« Er starrte sie an, für den Augenblick geschlagen. Er hatte das Gefühl, dass sie, wäre nur noch ein Fünkchen Leben in ihr gewesen, jetzt gelächelt hätte. Er wusste, wenn er sie nicht in den Zeugenstand rief, dann würde sie den Richter von der Anklagebank aus um die Erlaubnis bitten zu sprechen, und er würde dieser Bitte entsprechen. Es gab nichts mehr zu sagen.

Er ging und nahm ohne Appetit sein Mittagessen ein.

Rathbone hatte keine andere Wahl, als Aiden Campbell in den Zeugenstand zu rufen. Wenn er es nicht getan hätte, so hätte Tobias keinen Augenblick damit gezögert. Auf diese Weise würde ihm das Ganze vielleicht nicht vollständig aus den Händen gleiten.

Im Gerichtssaal herrschte knisternde Spannung. Während der Mittagspause musste sich herumgesprochen haben, welche Entwicklung die Verhandlung genommen hatte, denn jetzt war jeder Platz besetzt und die Gerichtsdiener mussten andere Neugierige zurückhalten, die in den Raum drängten.

Der Richter rief sie zur Ordnung und Rathbone erhob sich.

»Ich rufe Aiden Campbell in den Zeugenstand, Euer Ehren.« Campbell war bleich, aber gefasst. Er musste gewusst haben, dass dies unvermeidlich war, und hatte fast zwei Stunden Zeit gehabt, um sich vorzubereiten. Jetzt stand er vor Rathbone, eine hoch gewachsene, aufrechte Gestalt. Er glich auf tragische Weise sowohl seiner toten Schwester als auch seinem Neffen Lucius, der blass neben seinem Vater saß und mehr einem Geist als einem lebenden Wesen ähnelte. Immer wieder starrte er zu Miriam hinauf, aber Rathbone hatte nicht ein einziges Mal gesehen, dass sie seinen Blick erwiderte.

»Mr. Campbell«, begann Rathbone, nachdem man Campbell daran erinnert hatte, dass er noch immer unter Eid aussagte, »die letzte Zeugin hat eine ungewöhnliche Anklage gegen Sie erhoben. Sind Sie bereit, dazu Stellung zu nehmen…?«

»Das bin ich!« Campbell unterbrach ihn in seinem Eifer zu antworten. »Ich hatte von Herzen gehofft, dass dies niemals notwendig werden würde. Tatsächlich habe ich beträchtliche Anstrengungen unternommen, um es zu verhindern – um meiner Familie willen und aus einem gewissen Gefühl von Anstand heraus. Ich wollte alte Geschichten begraben und dafür sorgen, dass sie sich nicht in die Gegenwart hineindrängen, wo sie nur unschuldigen Menschen weh tun konnten.« Er sah zu Lucius hinüber und wandte dann den Blick wieder ab. Die Bedeutung seiner Worte war klar.

»Mrs. Anderson hat beschworen, Miriam Gardiner habe behauptet, Sie seien es gewesen, vor dem sie geflohen ist, als sie das Gartenfest am Cleveland Square verließ. Ist das wahr?«, fragte Rathbone.

Campbell wirkte zutiefst bekümmert. »Ja«, sagte er leise. Dann schüttelte er fast unmerklich den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich gehofft hatte, dies nicht sagen zu müssen. Ich kannte Miriam Gardiner – Miriam Speake, wie sie damals hieß, als sie zwölf Jahre alt war. Sie war Dienstmädchen in meinem Haus, als ich noch in der Nähe von Hampstead wohnte.«

Im Saal verbreitete sich Unruhe, und viele der Zuschauer schnappten hörbar nach Luft.

Campbell sah zu Harry Stourbridge und Lucius hinüber.

»Es tut mir Leid«, sagte er leidenschaftlich. »Ich kann diese Dinge nicht länger für mich behalten. Miriam lebte etwa achtzehn Monate in meinem Haus, ungefähr. Natürlich erkannte sie mich auf dem Gartenfest und muss befürchtet haben, dass ich sie ebenfalls wieder erkennen und es euch sagen würde.« Er sprach noch immer mit Harry Stourbridge, als sei dies eine Privatangelegenheit, die nur sie drei anging.

»Aber offensichtlich haben Sie es ihnen nicht gesagt«, bemerkte Rathbone und lenkte Campbeils Aufmerksamkeit damit wieder auf die Vorgänge bei Gericht. »Warum sollte diese Entdeckung sie so sehr entsetzen, dass sie fluchtartig das Haus verließ, nicht nur verlegen, sondern zu Tode erschreckt? Die Familie Stourbridge hatte doch gewiss bereits von Mrs. Gardiner erfahren, dass sie aus einer anderen Gesellschaftsschicht stammte? Warum war diese Enthüllung so furchtbar?«

Campbell seufzte und zögerte, bevor er antwortete. Rathbone wartete.

Im Gerichtssaal herrschte absolute Stille.

»Mr. Campbell…«, drängte der Richter.

Campbell biss sich auf die Lippen. »Ja, Euer Ehren. Es tut mir in der Seele weh, das sagen zu müssen, aber Miriam Speake war ein loses Frauenzimmer. Schon im Alter von zwölf Jahren besaß sie keine Spur von Moral.«

Von Harry Stourbridge war ein Aufstöhnen zu vernehmen. Lucius erhob sich halb von seinem Stuhl, aber seine Beine schienen unter ihm nachzugeben.

»Es tut mir Leid!«, sagte Campbell noch einmal. »Sie war sehr hübsch – sehr wohlgestaltet für eine so junge Frau… und so widerwärtig es mir ist, das sagen zu müssen, aber sie war auch sehr erfahren…«

Wieder hörte man ein Ächzen von der Galerie.

Mehrere Geschworene schüttelten den Kopf. Zwei von ihnen blickten enttäuscht zur Anklagebank. Rathbone wusste, dass sie jedes Wort glaubten. Er beobachtete, wie Miriam den Kopf senkte und mit den Händen ihr Gesicht bedeckte, als könne sie nicht ertragen, was sie da hörte.

Indem er Aiden Campbell in den Zeugenstand gerufen hatte, hatte Rathbone sich auch noch um den letzten winzigen Rest einer Verteidigung gebracht. Es war ihm, als habe er sich in sein eigenes Schwert gestürzt. Alle Anwesenden im Raum starrten ihn an und warteten darauf, dass er fortfuhr. Hester musste außer sich über dieses Ergebnis sein und ihn für seine Inkompetenz bedauern.

Tobias schüttelte mitfühlend den Kopf, und sein Mitleid galt einem Berufskollegen, der sich soeben sein eigenes Grab geschaufelt hatte.

Campbell wartete. Rathbone musste noch etwas sagen. Es gab nichts, womit sich die Sache noch verschlimmern ließe. Zumindest hatte er jetzt nichts mehr zu verlieren und daher auch nichts zu befürchten.

»Das ist Ihre Auffassung, Mr. Campbell? Und Sie glauben, dass Mrs. Gardiner, die inzwischen eine angesehene Witwe von über dreißig war, solche Angst hatte, Sie könnten das, was Sie über ihre traurige Kindheit wüssten, äußern und damit das zukünftige Glück ihres Neffen zerstören…«

»Das war wohl eine vernünftige Einschätzung«, unterbrach ihn Tobias. »Welcher Mann würde seiner Schwester, die er liebt, nicht sagen, dass ihr einziger Sohn sich mit einer Dienstmagd verlobt hatte, die nicht besser war als eine Hure?«

»Aber genau das hat er nicht getan!«, rief Rathbone. »Er hat es niemandem gesagt! Sie haben doch gerade erst gehört, dass er sich bei seinem Schwager dafür entschuldigt hat, hier und jetzt davon gesprochen zu haben!« Er fuhr herum. »Woran lag das, Mr. Campbell? Wenn sie eine solche Frau war, wie Sie sie beschreiben – oder ich sollte wohl sagen, ein solches Kind –, warum haben Sie Ihre Familie dann nicht gewarnt, statt zuzulassen, dass diese Frau Ihren Neffen heiratet? Wenn es wahr ist, was Sie sagen…«

»Es ist wahr«, erwiderte Campbell ernst. »Der Zustand, in dem sie war und den Mrs. Anderson beschrieben hat, passt bedauerlicherweise genau zu dem, was ich über sie weiß.« Er umfasste mit beiden Händen das Geländer des Zeugenstands. Er schien sich daran festzuhalten, als wolle er ein Zittern verbergen. Er hatte Mühe, seine Stimme zu finden. »Sie hat einen meiner Diener verführt, einen bis dahin anständigen Mann, der einer Versuchung erlag, die zu stark für ihn war. Ich habe es erwogen, ihn zu entlassen, aber seine Arbeit war über jeden Tadel erhaben, und sein Abweichen vom Pfad der Tugend erfüllte ihn mit Scham. Es hätte bedeutet, dass ich sein Leben ruinierte, bevor es richtig begonnen hatte.« Er hielt einen Moment inne.

Rathbone wartete.

»Ich wusste es damals nicht«, fuhr Campbell mit offenkundiger Mühe fort. »Aber sie war schwanger. Sie ließ es abtreiben.«

Jemand im Saal schrie auf, eine Frau kreischte. Es gab einige Unruhe im Saal, da anscheinend jemand ohnmächtig geworden war.

Der Richter klopfte mit seinem Hammer auf den Tisch, aber diese Geste machte kaum Eindruck.

Miriam schien sich erheben zu wollen, aber die Wärter, die zu ihren beiden Seiten postiert waren, zogen sie zurück.

Rathbone warf einen Blick auf die Geschworenen. Ihre Gesichter spiegelten tiefes Entsetzen und Verachtung wider.

Der Richter ermahnte abermals mit seinem Hammer zur Ruhe. »Ich verlange Ordnung!«, sagte er ärgerlich. »Ansonsten werden die Gerichtsdiener den Saal räumen!«

Tobias sah zu Rathbone hinüber und schüttelte den Kopf.

Als der Lärm verebbte und bevor Rathbone das Wort ergreifen konnte, sprach Campbell weiter: »Das muss der Grund gewesen sein, warum sie blutete, als Mrs. Andersen sie fand, wie sie durch die Heide irrte.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er leugnen, was er nun sagen würde, als wolle er die Abscheulichkeit all dessen ein wenig abmildern. »Zuerst wollte ich auch sie nicht aus dem Haus werfen. Sie war so jung. Ich dachte – ein einziger Fehler – und es war eine barbarische Abtreibung – sie war immer noch…« Er zuckte mit den Schultern. Dann hob er den Kopf und sah Rathbone an. »Aber sie machte weiter, forderte ständig die Männer heraus, hetzte sie gegeneinander auf. Sie genoss die Macht, die sie über sie hatte. Ich hatte keine andere Wahl, als sie auf die Straße zu setzen.«

Ein mitfühlendes Raunen ging durch den Saal, und eine Woge der Empörung folgte darauf. Ein oder zwei Männer fluchten leise. Zwei Geschworene sprachen miteinander. Sie blickten zur Anklagebank. Ihre Entscheidung stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben.

Ein Journalist machte sich hektisch Notizen.

Tobias musterte Rathbone und lächelte mitfühlend, aber ohne sein eigenes Gefühl des Triumphes zu verhehlen. Er erwartete keine Schonung, wenn er verlor, genauso wenig wie er einen anderen schonte.

»Ich wünschte, ich hätte das nicht aussprechen müssen«, sagte Campbell an Rathbone gewandt. »Ich habe bisher gezögert, es Harry zu erzählen, weil ich mir zuerst nicht ganz sicher war, ob es sich um dieselbe Person handelte. Es schien undenkbar, und natürlich war sie in dreiundzwanzig Jahren sehr gealtert. Ich wollte einfach nicht glauben, dass sie es war… das verstehen Sie doch? Ich nehme an, ich habe es mir dann endlich doch eingestanden, als ich sah, dass auch sie mich wieder erkannte.«

Es blieb Rathbone nichts mehr zu sagen, keine Frage mehr zu stellen. Es war das Letzte, was er hatte vorhersehen können, und wahrscheinlich würde Hester sich jetzt genauso niedergeschlagen fühlen wie er. Er nahm wieder Platz.

Tobias erhob sich und ging ein wenig breitbeinig durch den Saal. Oliver Rathbone zu schlagen, das war ein Sieg, der ausgekostet werden wollte, selbst wenn es lächerlich einfach gewesen war.

»Mr. Campbell, mir bleibt nur noch sehr wenig zu fragen. Sie haben uns weit mehr gesagt, als wir uns hätten vorstellen können.« Er sah zu Rathbone hinüber. »Ich denke, das gilt für meinen gelehrten Freund ebenso wie für mich! Trotzdem, ich habe den Wunsch, einige Dinge klar zu stellen… für den Fall, dass Mrs. Gardiner beschließt, selbst in den Zeugenstand zu treten und Anschuldigungen gegen Sie vorzubringen, wie Mrs. Andersen es angedeutet hat – die möglicherweise von Mrs. Gardiners jugendlichen Heldentaten genauso wenig wusste wie wir übrigen.«

Campbell erwiderte nichts, sondern wartete darauf, dass Tobias weitersprach.

»Mrs. Gardiner floh, als ihr klar wurde, dass Sie sie erkannt hatten – das zumindest ist Ihre Auffassung?«

»Ja.«

»Sind Sie ihr gefolgt?«

»Nein, natürlich nicht. Dafür gab es keinen Grund.«

»Sie sind auf dem Gartenfest geblieben?«

»Nicht direkt auf dem Gartenfest. Ich bin am Cleveland Square geblieben. Die Angelegenheit hat mich sehr erregt. Ich habe mich ein wenig weiter in den Garten zurückgezogen, um allein zu sein und darüber nachzudenken, was ich tun sollte… und was ich sagen könnte, wenn der Rest der Familie bemerken würde, dass sie verschwunden war.«

»Und zu welchem Entschluss sind Sie gekommen, Mr. Campbell?«

»Zu schweigen«, antwortete Campbell. »Ich wusste, dass diese Geschichte sie alle tief verletzen würde. Sie hatten Miriam sehr gern. Lucius liebte sie, wie nur ein junger und idealistischer Mann lieben kann. Ich glaube, sie war seine erste Liebe…« Er ließ den Satz unvollendet, sodass jeder Mann Zeit hatte, sich an seine eigene erste Liebe – und vielleicht auch Enttäuschungen – zu erinnern.

»Ich verstehe«, sagte Tobias leise. »Nur Gott kann wissen, ob diese Entscheidung die richtige war, aber ich verstehe nur zu gut, was Sie dazu bewegen hat. Ich fürchte, ich muss Ihnen noch weitere Fragen stellen, aber nur zu einem einzigen Punkt.«

»Ja?«

»Der Kutscher, James Treadwell. Was glauben Sie, warum Mrs. Gardiner mit ihm weggefahren ist?«

»Er war der Diener im Haus, den sie am besten kannte«, erwiderte Campbell. »Wenn ich recht informiert bin, hatte er sie häufig von Hampstead abgeholt. Ich will nicht spekulieren, dass da mehr dahintersteckte…«

»Das ist sehr taktvoll von Ihnen«, bemerkte Tobias, »wenn man bedenkt, was Sie über Mrs. Gardiners früheres Verhalten männlichen Dienstboten gegenüber wissen!«

Campbell presste die Lippen zusammen, aber er antwortete nicht.

»Erzählen Sie mir«, sprach Tobias weiter, »woher wusste dieser Kutscher, dass Mrs. Anderson Medikamente entwendete?«

»Ich habe keine Ahnung!« Campbell klang überrascht, dann machte er ein resigniertes Gesicht. Er schüttelte den Kopf.

»Nein – ich glaube nicht, dass Miriam es ihm erzählt hat! Sie war eine Intrigantin, immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht und habgierig – aber, nein. Es sei denn, es war ein Versehen, und ihr war nicht klar, was er mit der Information anfangen würde…«

»Wäre es nicht die perfekte Rache gewesen?«, fragte Tobias glattzüngig. »Ihre Heirat mit Lucius Stourbridge ist jetzt nicht mehr möglich, weil sie weiß, dass Sie es niemals zulassen werden. Treadwell ruiniert ihre Freundin und Gönnerin, zu der sie nun zurückkehren muss. Sie ist wütend, ja sogar verzweifelt – und sie schlägt auf ihn ein! Was könnte natürlicher sein?«

»Ja, das wäre vorstellbar«, räumte Campbell ein.

Tobias wandte sich an den Richter. »Euer Ehren, das dürfte für heute genug der Tragödie sein. Wenn das Gericht einverstanden ist, möchte ich vorschlagen, dass wir die Verhandlung bis morgen vertagen. Vielleicht hat Sir Oliver dann weitere Beweise vorzulegen, von denen er glaubt, dass sie seinen Fall noch retten. Ich persönlich habe nicht mehr viel hinzuzufügen.«

Der Richter sah Rathbone fragend an, aber er hielt bereits seinen Hammer in der Hand.

Rathbone gab sich geschlagen.

»Gewiss, Euer Ehren«, sagte er leise. »Natürlich.«

Rathbone hatte kaum den Saal verlassen, als der Gerichtsdiener an ihn herantrat.

Er wollte mit niemandem sprechen. Er spürte die Bitterkeit der Niederlage, von der er wusste, dass er sie sich selbst zuzuschreiben hatte. Am meisten fürchtete er sich davor, Hester gegenüberzutreten und ihre Enttäuschung zu sehen.

»Was gibt es?«, fragte er schroff.

»Entschuldigung, Sir Oliver«, erwiderte der Gerichtsdiener höflich. »Mrs. Andersen hat darum gebeten, dass Sie sie aufsuchen, Sir. Sie sagte, es sei äußerst wichtig.«

Es gab doch etwas, was schlimmer war, als Hester gegenüberzutreten: Cleo Anderson sagen zu müssen, dass er nichts mehr für sie tun konnte. Er atmete tief durch. Es ließ sich nicht vermeiden. Wenn man einen Sieg annehmen und feiern konnte, dann musste man auch eine Niederlage mit Fassung tragen.

»Natürlich«, erwiderte er. »Ich danke Ihnen, Morris.« Er drehte sich um und war bereits ein Stück den Korridor entlanggegangen, als Hester ihn einholte. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Es gab keinen Trost, den er ihr anbieten konnte, keine neue Verteidigungsstrategie.

Sie passte sich seinem Schritt an und ging schweigend neben ihm her.

Cleo wartete in dem kleinen Raum, vor dem der Wärter postiert war, bereits auf Rathbone und trat auf ihn und Hester zu, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

»Er lügt«, sagte sie und blickte dabei von einem zum anderen. Rathbone war verlegen und schüttelte den Kopf. »Es ist nur zu verständlich, dass Sie glauben wollen…«

»Es hat nichts mit Glauben zu tun!«, sagte sie verächtlich.

»Ich habe sie doch damals gesehen! Sie hatte keine Abtreibung. Sie hatte das Kind voll ausgetragen.« Cleo war wütend, weil er sie nicht verstand. »Ich bin Krankenschwester. Ich kenne den Unterschied zwischen einer Frau, die entbunden hat, und einer, die ihr Kind in den ersten paar Monaten verloren oder es abgetrieben hat. Dieses Kind wurde geboren – tot oder lebendig. Ihr Leib war geschwollen – und sie hatte Milch, das arme kleine Ding.« Sie schluckte. »Und wie sie um ihr Kind geweint hat…«

»Dann lügt Campbell also!«, stellte Hester fest und trat einen Schritt näher an Cleo heran. »Aber warum?«

»Um zu vertuschen, was er ihr angetan hat!«, sagte Cleo zornig. »Er muss sie vergewaltigt haben, und als sie ein Kind erwartete, warf er sie hinaus!« Sie sah erst zu Hester, dann zu Rathbone. »Obwohl er ihren Zustand nicht einmal bemerkt hat! Wer sieht sich schon Hausmädchen genauer an, vor allem solche, die selbst kaum mehr als Kinder sind? Vielleicht war er ihrer bereits müde geworden – und hatte sich etwas Neues gesucht? Oder weil er dachte, sie habe abtreiben lassen, und dann feststellen musste, sie hatte es nicht getan! Um den Skandal zu vermeiden…«

»Es wäre kein großer Skandal gewesen«, sagte Hester traurig.

»Wenn sie dumm genug gewesen wäre zu sagen, dass das Kind von ihm war, hätte er es einfach geleugnet. Es ist unwahrscheinlich, dass jemand ihr geglaubt… oder sich besonders darum geschert hätte, selbst wenn er ihr glaubte. Das ist kein Grund, jemanden zu ermorden.«

Cleo weigerte sich aufzugeben. »Was ist mit der Leiche?«

»Mit welcher Leiche?«, Rathbone war verwirrt. »Das Kind?«

»Nein – nein, die Frau!«

»Welche Frau?«

»Die Frau, deren Ermordung Miriam miterlebt hat, in der Nacht, als ihr Kind geboren wurde! Die Frau in der Heide!« Rathbone fand das alles immer verwirrender. »Wer war diese Frau?«

Cleo schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht! Miriam sagte, sie sei ermordet worden. Sie hat es mit angesehen – das war es, wovor sie weggelaufen ist!«

»Aber wer war die Frau?«

»Ich weiß es nicht!«

»Wurde denn je eine Leiche gefunden? Was ist passiert? Hat die Polizei denn keine Fragen gestellt?«

Cleo hob abwehrend die Hände, und in ihren Augen stand tiefe Verzweiflung. »Nein – es wurde nie eine Leiche gefunden. Er muss sie versteckt haben.«

Es war alles sinnlos. Rathbone hatte das Gefühl, kaum mehr Luft zu bekommen, so als ertrinke er.

»Sie sagten selbst, dass sie damals hysterisch war.« Er versuchte, vernünftig zu klingen und nicht herablassend oder kränkend. Ihr stand eine Schande bevor, die sie nicht verdient hatte, und ein Tod, vor dem er sie nicht retten konnte. »Glauben Sie nicht, dass sie dabei in Wirklichkeit an den Verlust ihres Kindes dachte? War es ein Mädchen?«

»Ich weiß es nicht. Sie hat es nicht gesagt.« Cleo schien seine Verzweiflung zu spüren. »Sie schien so – so sicher zu sein, dass es eine Frau war… jemand, den sie sehr gern hatte… eine Frau, die ihr geholfen, die sie sogar geliebt hatte… ich…« Sie hielt inne, zu müde und erschöpft, um weiterzusprechen.

»Es tut mir Leid«, sagte Rathbone sanft. »Sie haben Recht daran getan, mir von dem Kind zu erzählen. Wenn Campbell gelogen hat, können wir daraus vielleicht noch etwas machen. Selbst wenn wir nicht mehr tun können, als Miriams guten Ruf zu retten, so bin ich davon überzeugt, dass ihr das nicht unwichtig wäre.« Er machte Versprechungen und redete Unsinn. Würde Miriam sich im Angesicht des Todes noch für solche Dinge interessieren?

Er klopfte an die Tür, um herausgelassen zu werden, und als sie wieder im Korridor standen, wandte er sich an Hester.

Aber bevor er etwas sagen konnte, ergriff sie das Wort.

»Wenn diese Frau wirklich getötet wurde, dann muss ihre Leiche immer noch da sein…«

»Hester – sie delirierte, wahrscheinlich war sie geschwächt von dem Blutverlust und aufgewühlt von dem schrecklichen Erlebnis, ein totes Kind geboren zu haben.«

»Vielleicht! Aber möglicherweise hat sie wirklich mit angesehen, wie eine Frau ermordet wurde«, beharrte Hester.

»Wenn die Leiche nie gefunden wurde, dann muss sie noch immer da draußen in der Heide liegen…«

»Nach zweiundzwanzig Jahren!«, rief er ungläubig. »In der Heide von Hampstead! Um Himmels willen…«

»Natürlich nicht im Freien, für alle Augen sichtbar! Begraben – irgendwo versteckt!«

»Nun, wenn er sie vergraben hat, wird sie heute niemand mehr finden!«

»Vielleicht hat er sie nicht vergraben.« Sie weigerte sich aufzugeben. »Vielleicht hat er sie nur irgendwo gut versteckt.«

»Hester…«

»Ich gehe jetzt zu Sergeant Robb und frage ihn, ob er mir bei der Suche helfen will.«

»Das können Sie nicht tun! Nach all dieser Zeit wird man nichts mehr finden…«

»Ich muss es versuchen! Was, wenn tatsächlich eine Frau ermordet wurde? Was, wenn Miriam die ganze Zeit über die Wahrheit gesagt hat?«

»Das hat sie nicht!«

»Aber was, wenn doch? Sie ist Ihre Mandantin, Oliver! Solange es Zweifel gibt, müssen Sie zumindest an die Möglichkeit ihrer Unschuld glauben. Sie müssen davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sagt, bis endgültig bewiesen ist, dass es nicht so ist.«

»Sie war dreizehn, sie hatte gerade ein totes Kind zur Welt gebracht, sie war allein und außer sich…«

»Ich gehe jetzt zu Sergeant Robb. Er wird mir bei der Suche helfen, ganz egal, was er glaubt, und er wird es um Cleos willen tun. Er ist ihr etwas schuldig, und es ist eine Schuld, die er niemals wird begleichen können. Das weiß er.«

»Und falls er es vergessen sollte, werden Sie ihn zweifellos daran erinnern!«

»Selbstverständlich!«, pflichtete sie ihm bei. »Aber er wird es nicht vergessen.«

»Was ist mit Monk?«, fragte er sie streitlustig, als sie sich abwandte, um zu gehen.

»Er ist immer noch damit beschäftigt, mehr über Treadwell und die Leichen in Erfahrung zu bringen«, sagte sie über die Schulter.

»Leichen! Was für Leichen, Hester?«

Aber sie war bereits zu weit entfernt und beschleunigte jetzt ihren Schritt. Und wenn er nicht hinter ihr herjagen wollte, konnte er nichts tun, als sich zu überlegen, wie er morgen früh dem Gericht gegenübertreten wollte.

Michael Robb saß allein in dem Raum, den er bis vor kurzem noch mit seinem Großvater geteilt hatte. Der wuchtige Sessel stand an seinem Platz, als würde der alte Mann eines Tages vielleicht zu ihm zurückkehren. Das Zimmer wirkte seltsam leer.

»Mrs. Monk!«, sagte Robb überrascht. »Was ist passiert? Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nichts ist in Ordnung«, antwortete sie und blieb stehen, obwohl er ihr angeboten hatte, Platz zu nehmen. »Cleo wird verurteilt werden, wenn wir nicht irgendeinen Beweis dafür finden, dass auch Miriam unschuldig ist, und unsere einzige Chance besteht darin, die Leiche der Frau zu finden…«

»Welcher Frau? Einen Moment mal!« Er hob die Hand. »Was ist bei Gericht geschehen? Ich war nicht da.«

Mit hastigen Worten berichtete sie ihm von Cleos Zeugenaussage, von ihrer Geschichte, wie sie Miriam das erste Mal gesehen hatte, wie dann Aiden Campbell in den Zeugenstand getreten war und alles abgestritten und eine andere Erklärung für den Ablauf des damaligen Geschehens gegeben hatte.

»Wir müssen die Frau finden, von der Miriam sagte, dass sie damals ermordet wurde!«, kam sie mit verzweifelter Miene zum Ende. »Das würde beweisen, dass sie die Wahrheit gesagt hat! Zumindest würde die Polizei dann der Sache auf den Grund gehen müssen!«

»Sie hat zweiundzwanzig Jahre da draußen gelegen!«, protestierte er. »Es ist fraglich, ob überhaupt noch etwas von ihr übrig geblieben ist!«

»Fällt Ihnen vielleicht etwas Besseres ein?«, fragte sie scharf.

»Nein, aber…«

»Dann helfen Sie mir! Wir müssen nach ihr suchen!«

Er zögerte nur einen Augenblick. Sie konnte an seiner Miene ablesen, dass er das Unterfangen für hoffnungslos hielt. Aber er hatte das Gefühl, Cleo etwas schuldig zu sein. Schweigend griff er nach seiner Laterne und folgte Hester nach draußen in die hereinbrechende Dunkelheit.

Seite an Seite gingen sie Richtung Green Man Hill und zu den Cottages, wo Cleo Anderson bis zu ihrer Verhaftung gelebt hatte. Sie blieben vor dem Haus stehen, das Gesicht der Heide zugewandt. Es war jetzt fast dunkel; nur die massigen Umrisse der Bäume zeichneten sich schwarz vor dem klaren Herbsthimmel ab.

»Was meinen Sie, wo wir anfangen sollen?«, fragte Robb.

Sie war ihm dankbar für das »Wir«, dankbar, dass er das Ganze nicht als ihre, Hesters, Idee abtat, an der er nur am Rande beteiligt war.

Sie hatte darüber nachgedacht, während sie schweigend nebeneinander hergegangen waren.

»Es kann nicht sehr weit sein«, sagte sie und blickte über die Grasfläche. »Miriam war nicht in der Verfassung, eine große Strecke zu laufen. Wenn die arme Frau wirklich ermordet wurde, zu Tode geprügelt, wie Miriam anscheinend sagte, dann wird der Täter dies sicherlich nicht allzu nah an der Straße getan haben.« Sie schob den Gedanken beiseite und weigerte sich, die Bilder an sich heranzulassen. »Selbst wenn es nur ein einzelner Schlag war – und beten wir zu Gott, dass es so war –, kann die Tat nicht vollkommen lautlos geschehen sein. Es muss einen Streit gegeben haben, eine Anschuldigung oder irgendetwas! Miriam war dabei, sie hat es mit angesehen. Sie zumindest muss geschrien haben – und dann geflohen sein.«

Er musterte sie eindringlich, und im Schein der Laterne sah sie, wie er nickte. Sein Gesicht verriet seinen Abscheu über das, was sie gerade beschrieben hatte.

»Wer es auch war, er konnte ihr nicht folgen«, fuhr sie unbarmherzig fort. »Weil er Angst hatte, erwischt zu werden. Zuerst musste er sich der Leiche der Frau entledigen…«

»Mrs. Monk… glauben Sie wirklich, was Sie da schildern?«, unterbrach er sie.

Sie bekam langsam selbst Zweifel daran, aber sie würde auf keinen Fall aufgeben.

»Natürlich!«, sagte sie scharf. »Wir werden es beweisen! Wenn Sie jemanden getötet hätten und Sie wüssten, dass ein junges Mädchen Sie dabei beobachtet hat, und dieses Mädchen wäre davongelaufen, schreiend vielleicht, was würden Sie tun? Wie würden Sie vorgehen, um eine Leiche so schnell wie möglich zu beseitigen, sodass jemand, der vorbeikommt, um nach der Ursache des Lärms zu forschen, nichts bemerken würde?«

Seine Augen weiteten sich. Er wollte schon Einwände erheben, überlegte es sich aber doch anders und begann nachzudenken. Er ging durch das Gras zu den ersten Bäumen hinüber und sah sich um.

»Hm, ich würde keine Zeit haben, ein Grab zu schaufeln«, sagte er langsam. »Der Boden ist hart und voller Wurzeln. Und außerdem würde umgegrabene Erde auffallen.«

Er ging ein wenig weiter, und sie folgte ihm rasch.

Über ihnen kreiste etwas in der Dunkelheit. Unwillkürlich stieß Hester einen leisen Schrei aus.

»Es ist nur eine Eule!«, beruhigte er sie.

Sie fuhr herum. »Wo ist sie denn geblieben?«

»Auf einem der Bäume«, antwortete er. Er hob die Laterne und lenkte ihr Licht in die Äste. Sie sahen blassgrau aus vor dem Hintergrund des dunklen Himmels, und die Schatten schienen sich zu bewegen.

Sie war froh, dass sie nicht allein hergekommen war. Sie stellte sich vor, wie Miriam sich gefühlt haben musste: Sie hatte ihr Kind verloren, eine Frau, die sie liebte, war vor ihren Augen getötet worden und sie selbst wurde verfolgt und gejagt, sie blutete und stand Todesängste aus. Kein Wunder, dass sie so verwirrt war, als Cleo sie fand.

»Wir müssen weitersuchen!«, sagte sie entschlossen. »Wir müssen jede Möglichkeit ins Auge fassen. Wenn die Leiche hier ist, werden wir sie finden!« Sie ging mit langen Schritten voran, wobei sie ihre Röcke raffte, um nicht darüber zu stolpern. »Sie sagten, er kann sie nicht vergraben haben. Er kann sie aber auch nicht für alle sichtbar liegen gelassen haben. Und sie wurde nicht gefunden! Also hat er sie so gut versteckt, dass niemand vor uns sie entdeckt hat! Wo könnte das sein?«

»In einem Baum«, antwortete er. »So muss es gewesen sein. Eine andere Möglichkeit gibt es hier nicht!«

»Auf einem Baum? Aber jemand hätte die Leiche doch sicher nach einiger Zeit gefunden!«, wandte sie ein. »Sie würde verwesen! Sie…«

»Ich weiß!«, sagte er hastig und schüttelte dann den Kopf, wie um das Bild wieder loszuwerden. Er bewegte die Laterne auf und ab, um das Unterholz und weitere Bäume anzuleuchten. Ein Wiesel rannte über den Weg und sein magerer Leib leuchtete kurz in dem Lichtstrahl auf, bevor es wieder verschwand.

»Die Tiere hätten die Leiche mit der Zeit aufgefressen, nicht wahr?«

»Mit der Zeit, ja.«

»Nun, es ist über zwanzig Jahre her! Was wäre jetzt noch übrig? Knochen? Zähne?«

»Haare«, sagte er. »Vielleicht Kleider, Schmuck, Knöpfe.

Möglicherweise Stiefel.« Hester schauderte.

Er sah sie an und hielt das Licht ein wenig tiefer, um sie nicht zu blenden.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mrs. Monk?«, erkundigte er sich sanft. »Ich kann das allein übernehmen, wenn Sie wollen? Ich bringe Sie zurück und komme dann wieder hierher. Ich verspreche, ich werde…«

Sie lächelte über seinen Ernst. »Ich weiß, dass Sie das tun würden, aber mir geht es sehr gut, vielen Dank. Lassen Sie uns weitermachen.«

Er zögerte einen Moment, immer noch unsicher, aber als sie in ihrem Entschluss nicht wankend wurde, richtete er die Laterne auf den Weg vor ihnen und setzte sich in Bewegung.

Sie gingen etwa vierzig oder fünfzig Meter weit und suchten auf beiden Seiten nach einer Stelle, die sich als Versteck eignen würde. Hester hatte mehr und mehr das Gefühl, ihre und auch Robbs Zeit zu verschwenden. Sie hatte Miriams Geschichte geglaubt, weil sie sie glauben wollte, um Cleos willen, nicht weil sie wirklich glaubwürdig klang.

»Sergeant Robb«, hob sie an.

Er drehte sich um, und der Lichtstrahl wanderte über die beiden Bäume zu ihrer Rechten. Er verfing sich für einen Moment im Gestrüpp der unteren Zweige.

»Was ist das?«, fragte er schnell.

»Ein altes Vogelnest«, erwiderte sie. »Vom letzten Jahr, so wie es aussieht.«

Er ließ das Licht darüber gleiten, dann trat er näher heran.

»Was?«, fragte sie mit mehr Neugier als Hoffnung.

»Geschickt, wie sie ihre Nester bauen, nicht wahr, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie keine Hände haben.«

Er reichte ihr die Laterne. »Halten Sie sie bitte so, dass ich es mir genauer ansehen kann.«

»Ein Vogelnest?« Aber sie tat wie geheißen und hielt die Laterne.

Nachdem er nun beide Hände frei hatte, war es nicht weiter schwierig für ihn, den Baum hinaufzuklettern, bis er auf gleicher Höhe mit dem Nest war und die Stelle untersuchen konnte, wo es in einer Astgabel dicht am Baumstamm befestigt war.

»Was ist das?«, rief sie hinauf.

»Haare!«, antwortete er ihr von oben. »Lange Haare, Unmengen davon. Das ganze Nest besteht aus Haaren.« Seine Stimme zitterte. »Ich werde nach einem hohlen Baum suchen. Sie brauchen nur die Laterne festzuhalten und wegzusehen.«

Sie spürte, wie ihr Magen sich vor Aufregung zusammenkrampfte. Sie hatte nicht mehr daran geglaubt, und jetzt waren sie ihrem Ziel ganz nahe.

»Ja«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ja, natürlich.« Am Ende brauchte er nur fünfzehn Minuten, um den Baum mit dem ausgehöhlten Stamm zu finden, der vor sehr langer Zeit von einem Blitz getroffen worden und inzwischen verfault war. Er befand sich näher an der Straße als das Nest, aber die Zweige verbargen das Loch, solange man nicht eigens danach suchte. Vielleicht war das Versteck vor zweiundzwanzig Jahren augenfälliger gewesen. Der ganze Baum war hohl.

»Sie ist da drin«, sagte Robb mit belegter Stimme. Dann kletterte er wieder hinunter, die Laterne an seinem Gürtel befestigt. Seine Beine zitterten, als er wieder am Boden stand.

»Es ist nur ein Skelett, aber es ist noch Stoff da…« Er blinzelte, und sein Gesicht wirkte gelb im Licht der Lampe. »Nach der Verletzung am Schädelknochen zu schließen, ist sie durch einen einzigen Schlag getötet worden… genau wie Treadwell… und Mrs. Stourbridge.«