9
Oliver Rathbone blieb noch eine Weile in seinem Büro sitzen, nachdem Monk und Hester gegangen waren, wohl wissend, dass er eine übereilte Entscheidung getroffen hatte, was ihm gar nicht ähnlich sah. Er war ein Mann, der niemals handelte, ohne nachzudenken, was sicher Teil seines Erfolgs war und ihn zum brillantesten Strafverteidiger Londons gemacht hatte. Und vielleicht war diese Eigenschaft auch daran schuld, dass er zu spät um Hesters Hand angehalten hatte.
Nein, das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er war schon im Begriff gewesen, sie zu fragen, aber sie hatte ihm sehr taktvoll zu verstehen gegeben, dass sie seinen Antrag nicht annehmen würde.
Aber wenn er ehrlich war, konnte der Grund für ihre Ablehnung durchaus darin gelegen haben, dass sie seine Unsicherheit gespürt hatte. Monk hätte niemals zugelassen, dass der Kopf sein Herz beherrschte. Das war eine Eigenschaft, die Rathbone an ihm zugleich bewunderte und verachtete. Es gab ein dunkles Element in Monks Charakter, etwas Ungezügeltes.
Und doch war er mit Hester zu ihm gekommen, um ihn zu überreden, die Verteidigung in einem Fall zu übernehmen, der ziemlich hoffnungslos aussah. Das konnte Monk nicht leicht gefallen sein. Rathbone lehnte sich weit auf seinem Stuhl zurück und lächelte, als er sich an den Ausdruck auf Hesters Gesicht erinnerte, an ihre aufrechte Haltung. Er konnte sich gut vorstellen, was in ihr vorgegangen war. Monk war um Hesters willen zu Rathbone gekommen, und er wusste, dass Rathbone es ebenfalls wusste.
Es überraschte ihn, wie groß der Schmerz war, den das Wiedersehen mit Hester ihm bereitete, wie weh es tat, die Leidenschaft in ihrer Stimme zu hören, als sie von Cleo Anderson und dem alten John Robb sprach. Das war so typisch für sie, Mitleid, Zorn und Mut waren die charakteristischen Eigenschaften dieser Frau. Und immer verschrieb sie sich irgendeiner hoffnungslosen Sache und hörte nicht darauf, wenn jemand sie davon abbringen wollte.
Und er hatte sich einverstanden erklärt, ihr nicht nur mit seinem Rat zur Seite zu stehen, sondern auch die Verteidigung in die Hand zu nehmen. Jetzt, da er eingewilligt hatte, würde sie nicht zulassen, dass er einen Rückzieher machte – ebenso wenig wie er selbst. Und außerdem würde er sich Monk gegenüber niemals die Blöße geben, eine Sache kampflos aufzugeben.
Also hatte er jetzt einen Fall übernommen, den er nicht gewinnen konnte. Er hätte wütend auf sich selbst sein müssen, anstatt dazusitzen und in Gedanken bereits die verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen und sich verschiedene Strategien auszudenken.
Beide Frauen waren der Verschwörung und des Mordes angeklagt. Die Strafe würde zweifellos der Tod sein. Rathbone hatte zu Recht eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten, aber die Hindernisse, die sich ihm bei diesem Fall entgegenstellten, schienen unüberwindlich.
Er rief seinen Angestellten herein und ließ sich seine Termine für die nächsten beiden Tage sagen. Es war nichts dabei, das sich nicht hätte verschieben oder einem anderen übertragen lassen. Er bat darum, dass dies geschehen möge und machte sich dann auf den Heimweg, in Gedanken beschäftigt mit Cleo Anderson, Miriam Gardiner und den Verbrechen, die man ihnen zur Last legte.
Am nächsten Morgen fand Rathbone sich im Polizeirevier von Hampstead ein. Er erklärte dem diensthabenden Sergeant, dass er der Strafverteidiger sei, den Cleo Andersons Rechtsbeistand mit dem Fall betraut habe, und dass er sie unverzüglich zu sprechen wünsche.
»Sir Oliver Rathbone?«, fragte der Sergeant überrascht, als er auf die Karte sah, die Rathbone ihm gereicht hatte.
Rathbone machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten.
Der Sergeant räusperte sich. »Jawohl, Sir. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, dann bringe ich Sie zu den Zellen… Sir.« Er führte Rathbone durch den engen Korridor und die Treppe hinunter, bis sie schließlich vor dem eisernen Tor mit dem großen Schloss standen. Der Schlüssel quietschte, als der Sergeant ihn umdrehte, dann schwang die Tür auf.
»Hier ist Ihr Verteidiger«, sagte er, und sein Tonfall verriet Erstaunen und Ungläubigkeit.
Rathbone bedankte sich bei ihm und wartete, bis er die Tür geschlossen hatte und gegangen war.
Cleo Anderson war eine gut aussehende Frau mit ausdrucksvollen Augen und sanften Gesichtszügen, die jetzt jedoch von Gram gezeichnet waren. Sie musterte Rathbone verständnislos und – was ihn mehr bekümmerte – ohne Interesse.
»Mein Name ist Oliver Rathbone«, stellte er sich vor. »Ich bin hergekommen, um herauszufinden, ob ich Ihnen in Ihrer schwierigen Lage behilflich sein kann. Alles, was Sie mir mitteilen, wird absolut vertraulich behandelt, aber Sie müssen mir die Wahrheit sagen, sonst kann ich Ihnen nicht beistehen.« Ihre Miene drückte Ablehnung aus. Er setzte sich ihr gegenüber auf den einzigen, harten Stuhl in der Zelle. »Ich komme im Auftrag von Miss Hester Latterly.« Zu spät fiel ihm ein, dass er »Mrs. Monk« hätte sagen müssen.
»Das hätte sie nicht tun sollen«, sagte Cleo traurig. Ihre Stimme klang rau und verriet ihre aufgewühlten Gefühle. »Sie ist eine hilfsbereite Frau, aber sie hat nicht die Mittel, um jemanden wie Sie zu bezahlen. Es tut mir Leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben, aber hier ist kein Auftrag für Sie zu holen.«
Diese Antwort hatte er erwartet.
»Sie sagte mir, dass Sie gewisse Medikamente aus dem Krankenhaus entwendet hätten, um damit Patienten zu versorgen, die sie dringend benötigten, dafür aber nicht zahlen konnten.«
Cleo schwieg.
Er hatte kein Geständnis erwartet. »Wenn dem so war, wäre es natürlich Diebstahl gewesen und gesetzwidrig«, fuhr er fort.
»Aber es wäre gleichzeitig auch eine Tat, die viele Menschen bewundern würden.«
»Mag sein«, stimmte sie ihm mit einem kleinen Lächeln zu.
»Aber es ist und bleibt Diebstahl, ganz wie Sie sagten. Wollen Sie, dass ich es zugebe? Würde es Miriam helfen, wenn ich es täte?«
»Das war nicht Sinn und Zweck meiner Frage, Mrs. Anderson«, sagte er, ohne ihrem Blick auszuweichen. »Aber jemand, der etwas Derartiges tut, stellt offensichtlich das Wohlergehen anderer Menschen über sein eigenes. So weit ich sehen kann, handelt es sich um eine Tat beziehungsweise um eine ganze Reihe von Taten, aus denen der Täter keinen Profit gezogen hat. Profitiert haben nur diejenigen, deren Wohlergehen dem Täter am Herzen lag. Sehr wahrscheinlich glaubte der Betreffende fest an die Gerechtigkeit seiner Sache.«
Sie runzelte die Stirn. »Warum sagen Sie das alles? Was wollen Sie von mir?«
Er musste unwillkürlich lächeln. »Dass Sie die Tatsache akzeptieren, dass Menschen gelegentlich Dinge tun, ohne eine Bezahlung zu erwarten, einfach weil ihnen die Sache selbst wichtig ist. Und es sind nicht nur Menschen wie Sie – manchmal sind es auch Menschen wie ich.«
Eine verlegene Röte stieg ihr ins Gesicht, und die Linie ihres Mundes wurde weicher. »Ich entschuldige mich, Mr. Rathbone, ich wollte Sie nicht beleidigen. Aber Sie können mich mit dem besten Willen nicht von der Anschuldigung befreien, dass ich diese Medikamente gestohlen habe, es sei denn, Sie fänden eine Möglichkeit, die Schuld auf eine andere arme Seele abzuwälzen, auf einen Unschuldigen – und wenn Sie das täten, wie sollte ich da in Frieden vor meinen Schöpf er treten?«
»Das ist nicht die Art und Weise, wie ich arbeite, Mrs. Anderson.« Er machte sich nicht die Mühe, ihre Anrede zu korrigieren und sie auf seinen Titel hinzuweisen. Solche Dinge schienen im Augenblick bedeutungslos zu sein. »Wenn Sie die Medikamente entwendet haben, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir plädieren auf mildernde Umstände und bauen darauf, dass man bei Ihrer Verurteilung Ihre gute Absicht anerkennt, statt nur den Gesetzesverstoß in Ihrer Tat zu sehen, – oder aber ich versuche, das Gericht ganz von dem Diebstahl abzulenken, und hoffe, dass die Richter sich auf andere Dinge konzentrieren.«
»Auf andere Dinge?« Sie schüttelte den Kopf. »Man behauptet, ich hätte Treadwell getötet, weil er mich wegen der Medikamente erpresste. Von dieser Anklage werden Sie wohl nicht ablenken können!«
»Und, hat er es getan?«
Sie zögerte. Dann holte sie tief Luft und stieß einen leisen Seufzer aus. »Ja.«
Er wartete darauf, dass sie noch etwas hinzufügte, aber sie schwieg.
»Wie hat er das mit den Medikamenten herausgefunden«, fragte er.
»Das war wohl nicht weiter schwierig.« Sie starrte vor sich hin. »Viele Leute hätten das herausfinden können, wenn sie darüber nachgedacht und genau hingesehen hätten. Ich habe etwa zwanzig alten Leuten, die wirklich sehr krank waren, Sachen gebracht. Ich weiß nicht, warum ich in der Vergangenheit über sie rede – sie sind immer noch sehr krank, und ich sitze nutzlos hier rum!« Sie blickte zu ihm auf. »Es gibt nichts, was Sie tun können, Mr. Rathbone. Alle Fragen der Welt werden daran nichts ändern. Ich habe die Medikamente gestohlen, und es wird nicht schwer sein, das zu beweisen. Treadwell hat es in Erfahrung gebracht. Ich weiß nicht, wie, aber es ist ihm gelungen.«
Dagegen gab es nichts einzuwenden. Er hörte Schritte im Korridor, aber der Wärter ging an ihrer Tür vorüber, und niemand störte sie.
Cleo Anderson sah ihn ernst und mit ängstlichem Blick an.
»Mr. Rathbone – lassen Sie nicht zu, dass die Polizei zu all den Leuten geht, denen ich Medikamente gebracht habe. Es ist schlimm genug, dass ihnen jetzt niemand mehr hilft. Ich möchte nicht, dass sie erfahren, dass sie in ein Verbrechen verwickelt waren – selbst wenn sie nichts davon wussten.«
Er wünschte, er könnte dies verhindern, aber die Diebstähle würden nur allzu bald bekannt werden. Die Zeitungen würden über die Verhandlung berichten und an jeder Straßenecke würden die Leute darüber schwatzen. Was sollte er ihr sagen?
Sie wartete auf seine Antwort, und in ihrer Miene schien Hoffnung auf.
Er musterte sie, so als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, als hätte er nicht während der vergangenen zehn Minuten mit ihr gesprochen und sich ein Urteil gebildet. Sie hatte ihre eigene Freiheit aufs Spiel gesetzt, hatte selbstständig einen Entschluss gefasst, um alten und kranken Menschen zu helfen. Sie verdiente es nicht, dass man sie belog, und sie würde die Wahrheit am Ende ohnehin erfahren.
»Ich kann die Polizei nicht daran hindern, Mrs. Anderson«, sagte er sanft und selbst überrascht von der Hochachtung, die in seiner Stimme lag. »Und wenn es zur Verhandlung kommt, wird ohnehin alles an die Öffentlichkeit kommen. Das ist vielleicht das einzig Gute an dieser Sache. Ganz London wird von der Notlage unserer Alten erfahren, denen wir so viel schulden. Wir können sogar hoffen, dass ein paar Menschen den Kampf aufnehmen werden, um die Dinge zu ändern.«
Als sie ihn ansah, rangen in ihrem Gesicht Hoffnung und Resignation miteinander. Sie schüttelte den Kopf, schob den Gedanken von sich und war doch außerstande, ihn ganz loszulassen.
»Meinen Sie wirklich?«
»Es ist ein Ziel, für das sich zu kämpfen lohnt.« Er lächelte schwach. »Aber meine erste Schlacht werde ich für Sie schlagen. Wie lange haben Sie Treadwell bezahlt und wie viel?«
Ihre Stimme wurde hart. »Fünf Jahre – und ich habe ihm alles gegeben, was ich hatte, bis auf ein paar Shilling, um leben zu können.«
Rathbone spürte, wie sich sein Herz verkrampfte.
»Und am Abend seines Todes hat er noch mehr von Ihnen verlangt. Wie viel?«
Ihre Stimme wurde zu einem Wispern. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie ihm antwortete. »Ich habe ihn an dem Abend, an dem er starb, überhaupt nicht gesehen. So ist es gewesen, so wahr mir Gott helfe.«
Er stellte die Frage, deren Antwort er gar nicht hören wollte und die er möglicherweise auch nicht glauben würde.
»Wissen Sie, wer es getan hat?«
Sie antwortete sofort und mit kalter Stimme. »Nein, ich weiß es nicht! Miriam hat mir nichts gesagt, nur dass sie es nicht gewesen ist. Aber sie war in einem schrecklichen Zustand, halb von Sinnen vor Angst und als wäre ihre letzte Stunde angebrochen.« Sie beugte sich zu ihm vor, streckte ein wenig die Hand aus und zog sie dann wieder zurück, nicht weil sie nicht das Bedürfnis hatte, sondern lediglich weil sie es nicht wagte, ihn zu berühren. »Machen Sie sich keine Gedanken um mich, Mr. Rathbone. Ich habe die Medikamente gestohlen. Mir können Sie nicht helfen. Aber bitte, helfen Sie Miriam! Das ist alles, was ich will! Wenn Sie mein Verteidiger sind, wie Sie sagen, dann verteidigen Sie Miriam. Sie hat ihn ganz bestimmt nicht ermordet. Ich kenne sie – ich habe sie großgezogen, seit sie dreizehn Jahre alt war. Sie hat ein gutes Herz, und sie würde niemals jemandem Schaden zufügen, aber irgendjemand hat ihr weh getan, und zwar so sehr, dass sie innerlich völlig leer ist. Helfen Sie ihr – bitte! Ich würde glücklich und zufrieden das Todesurteil auf mich nehmen, wenn ich nur wüsste, dass es ihr gut geht…«
Er sah ihr in die Augen, und seine Kehle schnürte sich zusammen. Er glaubte ihr, was sie sagte, aber sie hatte wohl keine wirkliche Vorstellung davon, wie es sein würde, wenn sie allein durch den kurzen Korridor zu der Falltür im Boden ging.
»Mrs. Anderson, ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas tun kann, aber ich verspreche Ihnen, dass ich keine Vergünstigungen für Sie erwirken, keine Verteidigung für Sie vorbringen werde, die Miriam Gardiner schaden könnten. Und ich werde alles in meiner Kraft Stehende tun, um einen Freispruch für sie zu erwirken, wenn Miriam es wünscht und Sie ebenfalls…«
»Ja, ich wünsche es!«, sagte sie mit unvermittelter Leidenschaft. »Und wenn sie sich mit Ihnen streitet – um meinetwillen –, sagen Sie ihr, dass ich es so wünsche. Ich habe ein gutes Leben gehabt mit sehr viel Freude darin, und ich habe die Dinge getan, die ich tun wollte. Sie ist noch sehr jung. Es ist Ihr Beruf, Menschen zu überzeugen. Also, gehen Sie zu ihr und überzeugen Sie sie. Werden Sie das tun?«
»Ich kann nur auf der Grundlage von Tatsachen handeln, aber ich werde es versuchen«, versprach er. »Und nun, wenn es noch etwas gibt, das Sie mir über diesen Abend sagen können, dann tun Sie es bitte.«
»Ich weiß sonst nichts über diesen Abend!«, beteuerte sie.
»Ich wünschte, ich wüsste etwas, dann könnte ich wenigstens einer von uns beiden helfen! Ich hatte überhaupt keine Ahnung, bis die Polizei vor mir stand, weil jemand gemeldet hatte, dass auf dem Weg vor meinem Haus eine Leiche gefunden worden sei… «
»Wann war das, um wie viel Uhr?«, unterbrach er sie.
»Ungefähr eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Ich nehme an, Miriam hat die Gesellschaft am späten Nachmittag verlassen, und es muss fast dunkel gewesen sein, als die Kutsche die Heide erreichte. Ich weiß nicht, wo er niedergeschlagen wurde, aber ich habe gehört, er sei noch vom Ort des Unglücks bis zu der Stelle gekrochen, an der er gefunden wurde.«
»Und wann haben Sie Miriam Gardiner wieder gesehen?«
»Ganz früh am nächsten Morgen. Gegen sechs Uhr etwa. Sie war die ganze Nacht draußen in der Heide gewesen und sah aus, als sei der Teufel hinter ihr her.«
»War sie in ein Handgemenge verwickelt gewesen?«, fragte er rasch. »Waren ihre Kleider zerrissen oder schmutzig, wiesen sie Schlamm oder Grasflecken auf?«
Er sah, wie ihre Miene sich verschloss. Sie hatte Angst, dass er versuchte, den Verdacht auf Miriam zu lenken. »Nein. Sie sah nur so aus, als sei sie gerannt oder habe Angst gehabt.«
War das eine Lüge? Das konnte er nicht beurteilen. Allerdings war ihm klar, dass sie damit alles gesagt hatte. Er erhob sich. Die Tatsache, dass sie ihm ihr Vertrauen verweigerte, zumindest so weit es Miriam betraf, änderte nichts an seiner Bewunderung für sie oder an seiner Entschlossenheit, alles Menschenmögliche zu tun, um ihr zu helfen.
»Ich werde mit Mrs. Gardiner sprechen«, erklärte er. »Bitte, reden Sie mit niemandem sonst über die Angelegenheit. Ich werde zurückkommen, wenn ich Ihnen etwas mitzuteilen habe oder Ihnen weitere Fragen stellen muss. Sie haben mein Wort, dass ich nichts ohne Ihre Erlaubnis unternehme.«
»Ich danke Ihnen«, antwortete sie. »Ich – ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie für mich tun, Mr. Rathbone. Würden Sie das bitte auch Mrs. Monk sagen… und…«
»Ja?«
»Nein – sonst nichts.«
Rathbone klopfte an die Tür, und der Wärter ließ ihn hinaus. Als er durch den düsteren Korridor ging, dachte er darüber nach, was sie Hester vielleicht noch hatte ausrichten lassen wollen. Diese Frau war bereit, jedes Risiko einzugehen, jedes Opfer zu bringen für das, was sie für richtig hielt, und um jene zu retten, die sie liebte. Kein Wunder, dass Hester ihre Verteidigung so sehr am Herzen lag. Sie hätte an Cleos Stelle durchaus das gleiche tun können! Er sah Hester vor sich, wie sie mit genau der gleichen Loyalität lieber sich selbst opfern würde als ihrer Überzeugung abzuschwören. War es das, was Cleo hatte sagen wollen – eine Anweisung oder Warnung an Hester, was die Medikamente betraf? War es eine Bitte? Und war Hester ihr vielleicht schon unaufgefordert nachgekommen? Ihm wurde übel bei dem Gedanken, und sein Magen verkrampfte sich.
Rathbone erhielt die Erlaubnis, mit Miriam zu sprechen, aber es war nicht so einfach wie in Cleo Andersons Fall. Die Voraussetzungen waren anders. Cleo saß in einer Polizeizelle des Reviers in Hampstead, und sie war den Polizisten dort bekannt – persönlich oder vom Hörensagen. Sie wussten zweifellos, dass sie eine bewundernswerte Frau war, eine Frau, deren Leben sie weit höher schätzten als das eines schäbigen Erpressers.
Miriam hingegen saß im Gefängnis und wurde beschuldigt, ihre zukünftige Schwiegermutter umgebracht zu haben, möglicherweise deshalb, weil diese etwas aus Miriams Vergangenheit wusste, was die Heirat verhindert hätte. Dieser Fall lag vollkommen anders.
Miriam entsprach keineswegs dem Bild, das Rathbone sich von ihr gemacht hatte. Erst als er sie vor sich sah, wurde ihm bewusst, dass er eine Frau von aufreizender Attraktivität erwartet hatte, mit verführerischem Blick und einnehmendem Charme, die keine Zeit verlieren würde, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Stattdessen fand er eine zarte Frau mit blassem, müdem Gesicht vor, das erfüllt war von innerer Ruhe – eine Frau, von der eine Stärke ausging, die ihn verblüffte. Sie bewahrte absolute Zurückhaltung, selbst nachdem er ihr erklärt hatte, wer er war und was ihn zu ihr führte.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, Sir Oliver«, sagte sie so leise, dass er sich vorbeugen musste, um ihre Worte zu verstehen. »Aber ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können.« Sie wich seinem Blick aus, und ihm war klar, dass sie ihn in gewisser Weise bereits entlassen hatte.
Wenn er nicht an ihren Verstand appellieren konnte, würde er es mit ihren Gefühlen versuchen müssen. Er nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz und schlug die Beine übereinander, als habe er die Absicht, es sich bequem zu machen.
»Hat man Ihnen gesagt, dass Sie und Mrs. Anderson des gemeinschaftlichen Mordes an Treadwell und Mrs. Stourbridge beschuldigt werden?«
Sie starrte ihn fassungslos an, und ihre dunkelgrauen Augen weiteten sich. »Das ist absurd! Wie kann jemand nur auf die Idee kommen, Mrs. Anderson habe etwas mit Mrs. Stourbridges Tod zu tun? Sie saß zu dem Zeitpunkt im Gefängnis! Sie müssen sich irren!«
»Ich irre mich nicht.« Er erklärte ihr die Lage. »Die Polizei weiß selbstverständlich über all diese Dinge Bescheid. Man glaubt, Sie und Mrs. Anderson hätten von Anfang an Ihre Heirat mit Lucius Stourbridge geplant, um sich Zugang zu seinem großen Vermögen zu verschaffen, einem Teil davon sofort und mehr nach Major Stourbridges Tod, wann immer dieser eintreten mochte…«
»Warum sollte er sterben?«, protestierte sie. »Er ist noch ziemlich jung, nicht älter als fünfzig und bei bester Gesundheit! Er könnte noch dreißig Jahre oder länger leben!«
Er seufzte. »Von den Personen, die augenscheinlich Ihren Plänen im Wege stehen, sterben erstaunlich viele, Mrs. Gardiner. Die Polizei nimmt nicht an, dass Major Stourbridges Alter oder sein Gesundheitszustand Sie an irgendetwas hindern könnte.«
Sie schloss die Augen. »Das ist unfassbar!«
Während er ihr Gesicht betrachtete, ihren Mund und die Art, wie sie ihre Lippen zusammenpresste, konnte er nicht glauben, dass sie bis zu diesem Augenblick je über Harry Stourbridges Tod nachgedacht hatte, und jetzt, da sie es tat, schmerzte sie der Gedanke. Aber er konnte es sich nicht leisten, nachsichtig zu sein.
»Das ist das Verbrechen, das man Ihnen zur Last legt – Ihnen und Mrs. Anderson. Wenn Sie sich nicht gegenseitig beschuldigen, was bisher noch nicht der Fall war, wird über beide das gleiche Urteil gefällt werden, – Sie werden beide leben oder beide sterben.«
Sie hob langsam ihren Blick und musterte ihn, um herauszufinden, was in ihm vorging.
»Sie meinen, ich muss mich verteidigen, wenn ich nicht will, dass Cleo mit mir leiden wird?«
»Ja, genau das meine ich.«
»Es ist absolut unwahr. Ich… ich liebte Lucius.« Sie schluckte. »Ich hatte nichts anderes im Sinn, als ihn zu heiraten und glücklich zu sein, einfach weil ich an seiner Seite sein wollte. Wäre er so arm gewesen wie eine Kirchenmaus, hätte es für mich nicht den geringsten Unterschied gemacht.«
Er hatte das Gefühl, dass sie die Wahrheit sagte, und dennoch – warum hatte sie gezögert? Warum hatte sie über ihre Liebe zu Lucius gesprochen, als gehöre sie der Vergangenheit an? War ihre Liebe gestorben oder einfach nur ihre Hoffnung?
»James Treadwell hat Mrs. Anderson wegen der Medikamente erpresst, die sie aus dem Krankenhaus entwendete, um ihre Patienten zu behandeln. Er hat auch Sie erpresst.«
Sie riss den Kopf hoch, und ihre Augen weiteten sich. Sie schien diese Unterstellung vehement leugnen zu wollen, entschied sich dann aber dafür zu schweigen.
»Mrs. Gardiner«, sagte Rathbone eindringlich und beugte sich zu ihr. »Wenn ich Ihnen oder Mrs. Anderson helfen soll, dann muss ich die ganze Wahrheit wissen. Ich bin dazu verpflichtet, in Ihrem Interesse zu handeln, und Sie können mir glauben, wenn ich sage, dass die Aussichten für Sie beide nicht schlechter stehen könnten, als es ohnehin bereits der Fall ist. Was auch immer Sie mir anvertrauen, es kann Ihnen jetzt nicht mehr schaden, sondern eher nützen. Am Ende, wenn es zur Verhandlung kommt, werde ich Ihre Anweisungen befolgen, und falls ich dazu nicht in der Lage bin, werde ich den Fall niederlegen. Es ist mir nicht gestattet, über das mir Anvertraute ohne Ihre Erlaubnis zu sprechen. Wenn ich diese Regel nicht befolge, werde ich von der Verteidigerliste gestrichen und verliere damit meinen guten Ruf und mein Einkommen, was mir beides lieb und teuer ist. Also – hat James Treadwell Sie erpresst oder nicht?«
Sie schien einen Entschluss zu fassen. »Nein, das hat er nicht.
Er konnte nichts über mich wissen, womit er mir hätte schaden können, außer vielleicht der Tatsache, dass ich eine Verbindung zu Cleo und den Medikamenten hatte. Aber er hat mir gegenüber nie davon gesprochen. Ich wusste nicht, dass er Cleo erpresste. Hätte ich es erfahren, hätte ich versucht, etwas zu unternehmen.«
»Was hätten Sie tun können?« Er versuchte, seiner Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben.
Sie zuckte ein wenig mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Wenn ich es Lucius oder Major Stourbridge erzählt hätte, hätten sie ihn vielleicht ohne Zeugnisse entlassen und dafür gesorgt, dass er so schnell keine neue Anstellung mehr bekommen hätte.«
»Hätte das Treadwell nicht dazu veranlasst, Mrs. Andersons Vergehen bekannt werden zu lassen, um sich zu rächen?«, fragte er.
»Mag sein.« Dann versteifte sich plötzlich ihr Körper, und sie sah ihn entsetzt an. »Sie glauben doch nicht, ich hätte ihn getötet, um Cleo zu schützen?«
»Haben Sie es getan?«
»Nein! Ich habe ihn nicht getötet – weder aus diesem Grund noch aus einem anderen!« Ihre Antwort war leidenschaftlich, und es lagen Zorn und Kränkung darin. »Und Cleo hat ihn auch nicht getötet!«
»Wer war es dann?«
Wieder nahm ihre Miene etwas Abweisendes an. Sie wandte den Blick ab.
»Wen schützen Sie, wenn nicht Mrs. Andersen?«, fragte er sehr sanft. »Ist es Lucius?«
Sie schauderte, sah zu ihm auf und wandte den Blick dann erneut ab.
»Hat Treadwell Ihnen etwas angetan, worauf Lucius in Streit mit ihm geriet? Und ist dieser vielleicht weiter gegangen, als er beabsichtigt hatte?«
»Nein!« Sie klang so, als überrasche sie allein schon die Vorstellung.
»Wissen Sie, wer ihn getötet hat, Mrs. Gardiner?«, fragte er mit Nachdruck.
Sie antwortete nicht. Es war praktisch ein Eingeständnis. Ihr Verhalten brachte ihn aus der Fassung. Nie zuvor hatte er sich hilfloser gefühlt, obwohl er mit vielen Fällen zu tun gehabt hatte, bei denen Menschen schrecklicher Verbrechen angeklagt waren und sich dennoch weigerten, ihm die Wahrheit zu sagen, Menschen, die sich am Ende als unschuldig erwiesen hatten, wenn nicht in juristischer, so doch in moralischer Hinsicht. Er hatte genug Erfahrung, aber es fiel ihm nichts ein, womit sich Miriam Gardiners Verhalten erklären ließ.
Dennoch weigerte er sich aufzugeben. Ja, er war mehr denn je entschlossen, sowohl Miriam als auch Cleo zu verteidigen, nicht um Hester einen Gefallen zu tun oder sich Monk gegenüber zu beweisen, sondern allein um der Sache selbst willen.
»Wusste Mrs. Stourbridge etwas über Treadwell oder über Cleo Anderson?«, forschte er weiter.
Wieder schien sie überrascht. »Nein… ich kann mir nicht vorstellen, wie sie etwas über die beiden hätte erfahren sollen! Ich habe ihr nichts erzählt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Treadwell selbst mit ihr darüber gesprochen hätte! Er war ein…« Sie brach ab. Sie schien hin und her gerissen zu sein zwischen so unterschiedlichen Gefühlen wie Zorn, Mitleid, Entsetzen, Verzweiflung.
Rathbone versuchte an ihrer Miene abzulesen, was sie empfand, sich vielleicht sogar vorzustellen, was sie dachte, scheiterte aber.
»Er war ein Mann, der böse Dinge tat«, sagte sie endlich, und sie sprach sehr leise und fast zu sich selbst. »Aber er muss auch gute Eigenschaften besessen haben und jetzt ist er tot, die arme Seele. Ich glaube nicht, dass Mrs. Stourbridge etwas über ihn wusste, abgesehen davon, dass er ein guter Kutscher war und natürlich ein Verwandter der Köchin.«
»Warum wurde sie getötet?«
Sie zuckte zusammen. »Ich weiß es nicht.« Sie sah ihn nicht an, als sie antwortete. Ihre Stimme war ausdruckslos, der Tonfall verändert.
Er spürte, dass sie log.
»Wer hat sie getötet?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte sie.
»Lucius?«
»Nein!« Diesmal wandte sie sich ihm zu, und ihre Augen funkelten wütend.
»Waren Sie mit ihm zusammen?« Sie schwieg.
»Sie waren nicht bei ihm. Wie können Sie dann wissen, dass er nicht der Täter war?«
Wieder antwortete sie ihm nicht.
»War es dieselbe Person, die auch Treadwell getötet hat?«
Sie machte eine schwache Bewegung. Er deutete sie als Zustimmung.
»Hat es etwas mit den gestohlenen Medikamenten zu tun?«
»Nein!« Plötzlich war sie wieder vollkommen außer sich.
»Nein, es hat überhaupt nichts mit Cleo zu tun. Bitte, Sir Oliver, verteidigen Sie sie.« Jetzt hatten ihre Worte einen flehentlichen Klang. »Sie ist der beste Mensch, den ich je kennen gelernt habe. Der einzige Gesetzesverstoß, dessen sie sich schuldig gemacht hat, ist der Diebstahl der Medikamente, um Kranke zu behandeln, die sich die teure Medizin nicht leisten können. Sie hat selbst keinen Nutzen davon gehabt.« Ihr Gesicht war gerötet.
»Wie kann das so ein großes Unrecht sein, dass es die Todesstrafe verdient? Wenn wir die Christen wären, für die wir uns ausgeben, hätte Cleo es nicht nötig gehabt, die Medikamente zu nehmen! Dann würden wir selbst für unsere Alten und Kranken sorgen. Wir wären den Männern dankbar, die für uns gekämpft haben, als wir ihren Schutz brauchten. Bitte, lassen Sie Cleo nicht dafür büßen! Es hat nichts mit ihr zu tun! Sie hat Treadwell nicht getötet, und sie kann unmöglich etwas mit dem Mord an Mrs. Stourbridge zu tun haben.« Ihre Stimme war belegt und voller Angst. »Wenn ihr das hilft freizukommen, werde ich sagen, ich hätte beide getötet!«
Er legte eine Hand auf ihren Arm. »Nein – das wäre Ihrer beider Untergang. Sagen Sie nichts. Wenn Sie mir nicht die Wahrheit anvertrauen wollen, dann belügen Sie mich wenigstens nicht. Ich werde für Sie beide tun, was ich kann. Ich akzeptiere Ihre Aussage, dass Mrs. Anderson Mrs. Stourbridge nicht getötet haben kann, und ich glaube Ihnen, dass Sie Treadwell nicht umgebracht haben. Wenn es darauf eine andere Antwort gibt, werde ich sie finden.«
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das können Sie nicht«, flüsterte sie. »Tun Sie nur alles, damit man Cleo nicht hängt. Sie hat lediglich die Medikamente gestohlen – das ist ihr ganzes Vergehen.«
Rathbone gönnte sich ein spätes Mittagessen in seinem Club. Dort würde er vollkommene Ruhe finden, und die brauchte er nun. Dann nahm er einen Hansom zum North London Hospital, um Hester aufzusuchen. Er sah dieser Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegen, aber sie war unvermeidlich. Er hatte Hester seit ihrer Hochzeit nicht mehr allein gesprochen, war sich aber immer dessen bewusst, dass diese Begegnung für ihn sehr schmerzlich sein würde.
Er saß in der Droschke, während diese in eiligem Tempo durch die Straßen fuhr, und nahm nichts von seiner Umgebung wahr.
Er hatte sich überlegt, was er Hester sagen, welche Haltung er ihr gegenüber einnehmen sollte, und er hatte seine Meinung ein Dutzend Mal geändert.
Als sie das Krankenhaus erreichten, bezahlte er den Kutscher und stieg aus. Dann ging er die Stufen zum Eingang hinauf. Er traf auf sie, noch bevor er Zeit gehabt hatte, sich darauf einzustellen. Sie kam mit schnellem, entschiedenem Schritt durch den breiten Korridor, in einem sehr schlichten blauen Kleid mit schmalem weißen Spitzenkragen, das wie eine Art Uniform aussah. Bei jeder anderen Frau hätte es vielleicht ein wenig abweisend gewirkt, aber genauso hatte er sie immer gesehen: als Krankenschwester, die zielstrebig einer Tätigkeit nachging, immer bereit, sich in die eine oder andere Auseinandersetzung zu stürzen. Die Vertrautheit ihrer Erscheinung verschlug ihm fast den Atem.
»Oliver!« Sie war überrascht, ihn zu sehen, und auch erfreut. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hatte gehofft, Sie zu treffen. Ich störe doch nicht?«
»Haben Sie irgendwelche Neuigkeiten?« Sie sah ihm forschend ins Gesicht.
Er durfte nur an den Fall denken. Sie hatten ein gemeinsames Ziel, ein Ziel, das nicht weniger wichtig war als die, für die sie in der Vergangenheit gekämpft hatten. Das Leben von zwei Frauen hing davon ab.
»Nur sehr wenig«, erwiderte er und machte einen Schritt auf sie zu. Er nahm den schwachen Duft eines Parfüms wahr. Alles in ihm sehnte sich danach, ihr nahe zu sein. Sie war so anders jetzt, weniger verletzlich als früher. Und doch war sie in vieler Hinsicht dieselbe geblieben: kampfbereit, halsstarrig, unvernünftig, eigenmächtig.
Ihre Wangen überzogen sich mit einem Hauch von Röte, als habe sie seine Gedanken erraten.
Er wandte den Blick ab und tat so, als seien seine Gedanken ganz mit juristischen Dingen beschäftigt.
»Ich habe sowohl Cleo Anderson als auch Miriam Gardiner aufgesucht. Beide leugnen, direkt oder indirekt mit den Morden zu tun zu haben, aber zumindest Miriam belügt mich, was die Morde betrifft. Sie weiß, wer sie begangen hat, aber ich glaube ihr, wenn sie sagt, dass nicht sie es war. Ich habe schließlich Lucius Stourbridge noch nicht kennen gelernt.«
Sie erschrak. »Glauben Sie, er sei in der Lage, seine eigene Mutter zu töten?«
»Ich hoffe nicht, aber es sieht so aus, als sei der Täter in der Familie zu suchen – oder aber es war tatsächlich Miriam Gardiner«, wandte er ein.
Sie sah im Korridor nach links und rechts. »Kommen Sie mit in den Warteraum. Im Augenblick ist dort niemand. Dort können wir ungestört reden.«
Sie öffnete die Tür und ging voran. Er zog sie hinter sich zu und versuchte, seine Gefühle zu beherrschen. Es gab weitaus wichtigere Dinge zwischen ihnen.
»Major Stourbridge?«, fragte er. »Oder der Bruder, Aiden Campbell?«
Sie sah ihn an. »Ich weiß es nicht. Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum einer von ihnen Mrs. Stourbridge oder Treadwell hätte töten sollen. Aber er war ein Erpresser! Wenn er Cleo erpresst hat, hat er es vielleicht auch mit anderen getan. William sagt, er habe anscheinend mehr Geld verprasst, als Cleo aufbringen konnte, daher muss es noch andere Opfer gegeben haben.«
»Lucius?«
»Mag sein«, sagte sie leise. »Das würde erklären, warum Miriam ihn zu schützen versucht, auch wenn sie sich selbst damit ins Unglück stürzt.«
Es würde Miriams Weigerung erklären, ihnen die Wahrheit zu sagen. Aber es fiel ihm trotzdem schwer, dies zu glauben.
»Mir fallen beim besten Willen keine Argumente ein, die die Geschworenen davon überzeugen könnten, vor allem angesichts Miriams hartnäckigem Leugnen«, sagte er, ohne Hester aus den Augen zu lassen. »Und sie wollte es mich nicht einmal versuchen lassen. Ich habe versprochen, auf keinen Fall ihren Wünschen zuwider zu handeln.«
Ein Lächeln umspielte Hesters Lippen und war im nächsten Moment wieder verflogen. »Das habe ich mir gedacht. Es wäre mir lieb, wenn Sie Miriam verteidigen würden, aber die größeren Sorgen mache ich mir um Cleo Andersen. Ich hoffe, dass sie Treadwell nicht getötet hat, aber Mrs. Stourbridge kann sie nicht getötet haben. Ich bin mir absolut sicher, dass sie nicht zusammen mit Miriam ein Komplott geschmiedet hat, damit diese Lucius oder sonst einen Mann um seines Geldes willen heiratet.«
»Selbst wenn es für eine gute Sache wäre?«, fragte er sanft.
»Es gäbe keine »gute Sache«, für die sie so etwas tun würde! Der bloße Gedanke wäre ihr schon zuwider. Sie liebt Miriam. Welche Frau würde ihre Tochter des Geldes wegen verheiraten?«
»Meine liebe Hester! Das ist eines der häufigsten Dinge, die Menschen tun! Eltern haben ihre Töchter schon immer gegen ihren Willen verheiratet und geglaubt, damit allen Beteiligten einen Dienst zu erweisen – seit Menschengedenken.«
»Cleo würde niemals ihre Tochter verkaufen und gewiss würde sie niemanden deshalb töten«, sagte sie ein wenig spitz.
Er glaubte es zwar auch nicht, aber letzten Endes zählte nur das, was die Geschworenen glaubten, und er wies sie darauf hin.
»Ich weiß«, sagte sie und starrte zu Boden. »Aber wir müssen etwas tun. Ich weigere mich, mich hinter den Spitzfindigkeiten des Gesetzes zu verschanzen und so zu tun, als sei das eine Entschuldigung, nicht kämpfen zu müssen.«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, aber es lag keine Freude darin, nur Ironie. »Mord ist keine Spitzfindigkeit des Gesetzes, meine Liebe.«
Sie sah ihn offen an, und in ihren Augen entdeckte er die alte Freundschaft, die sie miteinander verband. Er zwang sich, sich auf das Gesetz zu konzentrieren und auf Cleo Anderson.
»Wie viele Medikamente fehlen und worum genau handelt es sich?«
Sie sah ihn entschuldigend an. »Das wissen wir nicht, aber es ist auf alle Fälle sehr viel – alle paar Tage ein Gramm, denke ich. Ich kann keine präzisen Angaben machen und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht wollen. Auch Ihnen ist es sicher lieber, es nicht so genau zu wissen.«
»Vielleicht haben Sie Recht«, gab er zu. »Ich werde Sie nicht noch einmal danach fragen. Wenn der Fall vor Gericht verhandelt wird, wer wird dann voraussichtlich eine Aussage bezüglich der Diebstähle machen?«
»Nur Fermin Thorpe, und zwar bereitwillig – oder auch notgedrungen, um die Anklage zu stützen«, räumte sie ein. »Es wird ihm zutiefst zuwider sein, zugeben zu müssen, dass aus seinem Krankenhaus Medikamente verschwunden sind. Es wird ihm nicht leicht fallen, damit umzugehen: Soll er das Ganze möglichst herunterspielen und damit riskieren, dass man ihn verdächtigt, die Diebstähle vertuschen zu wollen, oder soll er sie verurteilen und sich demonstrativ auf die Seite von Recht und Ordnung stellen? So oder so, er wird außer sich vor Zorn sein, dass man ihn überhaupt in die Geschichte hineinzieht.«
»Ist es nicht eher wahrscheinlich, dass er sein Personal verteidigt?«
Der Ausdruck ihres Gesichts sagte alles.
»Ich verstehe«, meinte er nachdenklich. »Und was ist mit dem Apotheker?«
»Phillips? Er wird vertuschen, was er kann – selbst wenn er damit seine eigene Sicherheit gefährdet, aber seine Möglichkeiten sind begrenzt.«
»Aha. Ich würde gern noch mit einigen anderen Krankenschwestern sprechen, wenn sich das einrichten ließe, und vielleicht mit Mr. Phillips. Dann werde ich Sergeant Robb einen Besuch abstatten.«
Es war bereits früher Abend, als Rathbone sich einen genauen Überblick über die Abläufe im Krankenhaus verschafft hatte und zu der Schlussfolgerung kam, dass beträchtliche Überlegung und einiges Geschick sowie Nervenkraft dazugehörten, regelmäßig Medikamente zu entwenden. Der Apotheker war sehr sorgfältig, trotz seines unordentlichen Aussehens und seines sich bisweilen Bahn brechenden Sinns für Absurditäten. Bessere Gelegenheiten boten sich, wenn ein jüngerer Arzt in Eile und dann vielleicht ein wenig unvorsichtig war. Rathbone kam zu dem Schluss, dass Phillips höchstwahrscheinlich genau über Cleos Handeln Bescheid wusste und warum sie es tat. Er hatte entweder Stillschweigen bewahrt oder doch zumindest ein Auge zugedrückt. Obwohl es allem widersprach, was seine Ausbildung ihn gelehrt hatte, musste er den Mann dafür bewundern, und er hörte auf, nach Beweisen zu suchen, die seine Theorie stützen könnten.
So war es schon nach sieben Uhr, als er sich auf die Suche nach Sergeant Robb machte, und er musste um seine Privatadresse bitten, um ihn am gleichen Tag noch sprechen zu können.
Er fand das Haus ohne große Mühe, aber trotz Michaels höflicher Begrüßung kam er sich wie ein Eindringling vor, denn Robb war gerade dabei, den alten Mann zu versorgen. Sein Gesicht war blass, bis auf zwei rote Flecken auf den Wangen. Sein Anblick gab der Arbeit, für die Cleo Anderson so viel zu riskieren bereit war, einen Sinn. Zu seinem eigenen Erstaunen verspürte Rathbone einen tiefen Zorn in sich aufsteigen über die Situation, über seine eigene Hilflosigkeit, etwas daran zu ändern, und über die Welt, die von diesen Dingen nichts wusste oder nichts wissen wollte. Es fiel ihm daher schwer, Michael Robb mit ruhiger Stimme anzusprechen.
»Guten Abend, Sergeant. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Sie zu einem so ungünstigen Zeitpunkt stören muss, aber wenn ich Sie auf dem Polizeirevier vorgefunden hätte, wäre das natürlich nicht nötig gewesen.«
»Was kann ich für Sie tun, Sir Oliver?«, fragte Michael. Er war höflich, aber wachsam. Rathbone gehörte sowohl einer Gesellschaftsschicht als auch einem Berufsstand an, mit denen er selten in Berührung kam, es sei denn vor Gericht.
»Ich habe die Verteidigung von Mrs. Anderson in dem Mordfall übernommen«, erwiderte Rathbone mit einem verlegenen Lächeln. Er konnte niemandem weismachen, dass er sich viel Erfolg davon versprach, und er wollte nicht, dass Robb ihn für einen Narren hielt. »Die Frage des Diebstahls ist eine andere Sache.«
»Es tut mir Leid«, sagte Michael. »Es hat mir keine Freude gemacht, Anklage gegen sie zu erheben. Aber ich kann sie nicht zurückziehen.«
»Das ist mir klar. Die Diebstähle sind das Motiv für den Mord an Treadwell.«
»Reden Sie von Cleo Anderson?«, unterbrach ihn der alte Mann, der erst Rathbone, dann Michael ansah.
Michael verzog das Gesicht, und er warf Rathbone einen tadelnden Blick zu. »Ja, Großpapa.«
Rathbone hatte den Eindruck, dass Michael diese Frage lieber mit einer Lüge beantwortet hätte, um den alten Mann vor einer Enttäuschung zu bewahren. Wusste er, wie viel er selbst Cleo Anderson schuldete?
Der alte Mann sah Rathbone an. »Und Sie werden sie verteidigen, junger Mann?« Er musterte ihn eingehend, von den wunderschön gearbeiteten Stiefeln und der maßgeschneiderten Hose bis hin zu seinem Mantel und dem seidenen Halstuch.
»Und wie kommt ein Gentleman, der aussieht wie ein Offizier und noch dazu einen Titel trägt, dazu, eine arme Frau wie Mrs. Anderson zu verteidigen?«
»Ich will keine Bezahlung, Mr. Robb«, antwortete Rathbone.
»Ich habe den Auftrag übernommen, um einer Freundin, Mrs. Monk, einen Gefallen zu erweisen. Ich glaube, Sie kennen sie …« Er sah das Aufblitzen von Freude in den Augen des alten Mannes und spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. »… und ich setze meine Arbeit aus Wertschätzung für Mrs. Anderson selbst fort, jetzt, nachdem ich Sie kennen gelernt habe.«
Michael sah ihn besorgt an. Rathbone wusste, was ihm Angst machte. Er fürchtete sich selbst nicht weniger davor. Er brauchte erst gar nicht in das Regal in der gegenüberliegenden Ecke des Raums zu sehen, um zu wissen, dass dort die Medikamente lagen, die Cleo hergebracht hatte und die jetzt wahrscheinlich von Hester aufgefüllt wurden, wenn es notwendig war. Es hatte keinen Sinn, sie zu bitten, es nicht zu tun – er bezweifelte, dass selbst Monk da viel ausrichten konnte.
Er zog es deshalb zum einen aus juristischen Gründen und zum anderen um seines eigenen Seelenfriedens willen vor, nicht zu wissen, was sich in diesem Schränkchen befand oder wie es dorthin gelangte.
Michael sah verstohlen zu dem Schrank hinüber und wandte dann hastig den Blick ab.
»So, Sie wollen sie also vor Gericht vertreten?«, fragte der alte Mann Rathbone.
»Ja, das will ich«, erwiderte Rathbone.
John Robb verzog das Gesicht. Seine Stimme war heiser, kaum mehr als ein Flüstern. »Was können Sie für sie tun, junger Mann? Seien Sie ehrlich zu mir.«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Rathbone freimütig. »Ich glaube, sie hat die Medikamente entwendet, glaube aber nicht, dass sie Treadwell ermordet hat, obwohl dieser sie erpresste. Meiner Meinung nach muss es noch etwas geben, das von großer Bedeutung ist und das wir bisher nicht in unsere Überlegungen mit einbezogen haben, und ich werde versuchen herauszufinden, was das ist.«
»Sind Sie deshalb gekommen, um mit Michael zu sprechen?«
»Ja.«
»Dann sollten Sie das auch tun. Ich kann auf mein Abendessen warten.« Er wandte sich an seinen Enkel. »Und du, hilf diesem Herrn. Wir können später essen.«
»Ich danke Ihnen«, antwortete Rathbone mit einer kleinen Verbeugung. »Aber es wäre mir lieber, wenn Sie einfach in Ihrer Tätigkeit fortfahren würden. Ich bin an der Straßenecke ungefähr hundert Meter von hier an einem Pastetenverkäufer vorbeigekommen. Würden Sie mir gestatten, für jeden von uns eine Pastete zu holen, sodass wir gemeinsam essen und gleichzeitig die Angelegenheit besprechen könnten?«
Michael zögerte nur einen Augenblick, aber als er sah, wie die Miene des alten Mannes sich bei der Aussicht auf eine Pastete aufhellte, nahm er Rathbones Angebot an.
Rathbone kehrte mit den drei besten Pasteten zurück, die er hatte bekommen können. Sie aßen zusammen und tranken dazu etliche Becher Bier. Michael war der für diesen Fall verantwortliche Polizeibeamte, und es war seine Pflicht, Beweise zusammenzutragen und sie dem Gericht vorzulegen. Aber er schien genauso wie sein Großvater darauf erpicht zu sein, mildernde Umstände für Cleo Anderson zu erwirken.
Der alte John Robb war von einem fest überzeugt: Wenn Cleo Treadwell getötet hatte, musste dieser es wahrhaftig verdient haben, und wenn das Gesetz sie verurteilte, so befand das Gesetz sich im Irrtum und sollte geändert werden.
Michael versuchte nicht, mit ihm zu streiten. Sein Bestreben, dem alten Mann weiteren Schmerz zu ersparen, war so offensichtlich, dass es Rathbone tief berührte.
Trotzdem hatte Rathbone, als er bei Einbruch der Dämmerung aufbrach, nichts erfahren, das ihm weiterhelfen würde. Alles bestätigte lediglich das, was er bereits von Hester wusste. Er ging mit schnellen Schritten durch die warme Abendluft und nahm die Gerüche des Tages in sich auf. In der Ferne hörte man eine Drehorgel, die ein bekanntes Lied spielte, und Kinder, die einander zuriefen.
Er hielt den ersten Hansom an, der an ihm vorüberkam, und gab dem Fahrer seine Adresse. Dann änderte er seine Meinung und ließ ihn stattdessen zum Haus seines Vaters in Primrose Hill fahren.
Es war fast dunkel, als er dort eintraf. Mit einem Gefühl freudiger Erwartung ging er den vertrauten Weg entlang, obwohl er nicht wusste, ob sein Vater zu Hause war oder sein Besuch gelegen kam.
Der süße Duft des frisch gemähten Grases stieg ihm in die Nase; als er um das Haus herum und quer über den Rasen auf die Gartentür zuging, sah er, dass im Arbeitszimmer Licht brannte. Henry Rathbone hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Vorhänge zuzuziehen, und Oliver konnte ihn im Sessel sitzen sehen.
Henry las und hörte weder die leisen Schritte, noch nahm er den Schatten der sich nähernden Gestalt wahr. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und sog an seiner Pfeife, obwohl diese wie gewöhnlich erloschen war.
Oliver klopfte an die Glasscheibe.
Henry hob den Kopf, und als er seinen Sohn erkannte, leuchteten seine Augen auf, und er winkte ihn herein.
Ein Gefühl von Vertrautheit und Zuneigung stellte sich ein, und ein Teil seiner Hilflosigkeit fiel von ihm ab, obwohl er mit seinem Vater über das Problem noch nicht einmal gesprochen hatte. Er setzte sich in den wuchtigen Sessel seinem Vater gegenüber und lehnte sich behaglich zurück.
Ein paar Sekunden verstrichen, in denen sie beide schwiegen. Henry zog weiter an seiner kalten Pfeife. Draußen hörten sie einen Nachtvogel rufen, und die Zweige des Geißblatts mit ihren trompetenförmigen Blüten wiegten sich in der lauen Brise. Eine Motte schlug gegen die Fensterscheibe.
»Ich habe einen neuen Fall«, begann Oliver schließlich. »Ich kann den Prozess unmöglich gewinnen.«
Henry nahm die Pfeife aus dem Mund. »Dann musst du einen guten Grund gehabt haben, ihn zu übernehmen… oder zumindest einen Grund, der dir zu der Zeit gut erschien.«
»Ich denke nicht, dass es ein guter Grund war«, erwiderte Oliver. Er hatte von Henry Exaktheit gelernt, und er beschönigte die Dinge seinem Vater gegenüber nie. Dies war eine der Grundlagen ihrer Freundschaft. »Es war ein zwingender Grund. Das ist nicht dasselbe.«
Henry lächelte. »Keineswegs«, stimmte er ihm zu.
»Monk hat mich darum gebeten«, fügte Oliver hinzu. Henry nickte.
»Es war eine moralische Verpflichtung!«, sagte Oliver, wie um seine Entscheidung zu rechtfertigen. Er wollte nicht, dass sein Vater glaubte, er habe den Fall um Monks willen übernommen – und noch weniger sollte er glauben, er habe es Hester zuliebe getan.
»Ich verstehe. Wirst du mir erzählen, worum es sich handelt?«
»Selbstverständlich.« Oliver schlug die Beine übereinander. Er gab seinem Vater einen Überblick über beide Fälle, sowohl über den von Cleo Andersen als auch den von Miriam Gardiner. Dann wartete er ab bis Henry ihm nach einer Weile antwortete. Draußen war es inzwischen vollkommen dunkel, bis auf ein kleines Grasfleckchen direkt vor dem alten Apfelbaum am anderen Ende der Wiese, auf den das Mondlicht fiel.
»Und du vermutest, dass diese Cleo Andersen den Kutscher nicht getötet hat«, sagte Henry endlich. »Nicht einmal in einer Situation, für die man mildernde Umstände geltend machen könnte – oder möglicherweise in einem Kampf, in dem er durch unglückliche Umstände den Tod fand?«
Oliver dachte kurz nach, bevor er etwas erwiderte. Cleo hatte gesagt, sie sei bei Treadwells Tod nicht zugegen gewesen, und er hatte ihr geglaubt. Er glaubte ihr noch immer.
»Ja. Ja, davon gehe ich aus«, stimmte er seinem Vater zu.
»Sie hat nie bestritten, die Medikamente gestohlen zu haben. Ich habe keine Beweise, wie sie es im Einzelnen bewerkstelligt hat oder unter welchen Umständen. Ich habe es bewusst vermieden, solche Beweise zu finden.«
Henry bemerkte nichts dazu. »Und wo kommt Monk bei der Sache ins Spiel?«, fragte er stattdessen.
Rathbone erklärte es ihm.
»Und Hester?«, hakte Henry nach.
Oliver wusste, wie sehr sein Vater Hester mochte und wie groß sein unausgesprochener Wunsch gewesen war, Oliver möge sie heiraten. Manchmal fürchtete er, dass Hesters Wertschätzung für ihn auch auf ihrer Zuneigung zu Henry basierte und auf dem Wunsch, zu einer Familie zu gehören, in der sie die Sicherheit finden würde, die ihre eigene Familie ihr nicht gegeben hatte. Ihr Vater hatte sich infolge seines finanziellen Ruins gegen Ende des Krimkriegs das Leben genommen, nachdem skrupellose Männer ihn betrogen hatten, Männer, die Freundschaft und Ehre missbrauchten, um zu betrügen. Hesters Mutter war kurz darauf gestorben, mehr oder weniger an gebrochenem Herzen. Hester hatte nur ein einziges Mal mit ihm darüber gesprochen. Vielleicht hatte sie es auch Henry erzählt, um ein wenig ihre Last mit einem anderen Menschen zu teilen.
Dies war ein Thema, das er fürchtete. Er hatte es mit Bedacht so lange wie möglich gemieden und war sogar so weit gegangen, nicht mehr nach Primrose Hill zu fahren, sondern sich mit seinem Vater in der Stadt zu treffen, wo für private Unterredungen nicht allzu viel Zeit blieb. Jetzt konnte er es nicht länger hinausschieben.
»Es scheint Hester sehr gut zu gehen«, antwortete er gleichmütig. Zumindest glaubte er, mit gleichmütiger Stimme gesprochen zu haben, aber Henrys Miene sagte ihm, dass es ihm möglicherweise doch nicht gelungen war. »Natürlich macht sie sich größte Sorgen um diese Krankenschwester, sowohl aus persönlichen Gründen als auch aus Prinzip«, fügte er hinzu. Während er sprach, stieg ihm die Röte in die Wangen.
Henry nickte. »Ich kann mir vorstellen, dass sie nichts von ihrem Feuer eingebüßt hat.« Er sagte nichts über Olivers Motive, einen anscheinend hoffnungslosen Fall zu übernehmen. Er war der einzige Mensch, der Oliver dazu brachte, Erklärungen abzugeben, auch wenn keine von ihm verlangt wurden.
»Es ist wichtig!«, sagte er eindringlich und beugte sich ein wenig vor. Er betrachtete Henry, seine magere, leicht gebeugte Gestalt, sein graues Haar, und stellte sich vor, was er empfinden würde, wenn sein Vater nicht Mathematiker, sondern Soldat oder Seemann und krank oder verwirrt gewesen wäre und allein dagestanden hätte, außerstande, sich die Pflege, die er benötigte, leisten zu können. Der Gedanke daran war so schmerzlich, dass er unwillkürlich den Atem anhielt. »Die Sache selbst ist wichtiger als irgendein Einzelner«, sagte er mit Nachdruck.
»Wichtiger als Cleo Anderson oder sogar Hester – wichtiger als das Gewinnen an sich. Wenn wir diese Ungerechtigkeit zulassen, ohne etwas dagegen zu unternehmen, was sind wir dann noch wert?«
Henry sah ihn ernst an und alle Heiterkeit war aus seinen Augen gewichen. »Sehr wenig«, antwortete er leise. »Aber mit Gefühlen wirst du den Prozess nicht gewinnen, Oliver. Gefühle werden dir helfen, nicht den Mut zu verlieren. Der Zorn über Ungerechtigkeiten hat viel Unrecht wieder gutgemacht, und er ist eine der großen Antriebskräfte in einer zivilisierten Gesellschaft.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wenn du dir nicht an Stelle des einen einen anderen Feind einhandeln willst, musst du deinen Verstand benutzen. Du hast mir gesagt, du seist davon überzeugt, dass sowohl Mrs. Anderson als auch Mrs. Gardiner dich belügen. Du kannst nicht vor Gericht gehen, ohne wenigstens zu wissen, worin diese Lügen bestehen und warum die beiden Frauen selbst im Angesicht dessen, was ihnen bevorsteht, daran festhalten. Der Grund muss ein sehr, sehr triftiger sein.«
»Das weiß ich«, pflichtete Oliver ihm bei. »Und ich habe mir das Gehirn zermartert über die Frage, worum es sich handeln könnte.«
»Haben beide Frauen denselben Grund?«
»Nicht einmal das weiß ich!«
Henry überlegte, die Ellbogen auf die Armlehnen seines Sessels gestützt, die Fingerspitzen aneinander gelegt. »Ich gehe davon aus, dass du beiden Frauen klargemacht hast, dass nicht nur ihr Leben, sondern auch das anderer Menschen von dem Urteil abhängt. Daher haben sie beide einen zwingenden Grund, dir nicht die Wahrheit zu sagen. Nach allem, was ich bisher weiß, scheint es mir durchaus möglich zu sein, dass Mrs. Anderson, im Gegensatz zu Mrs. Gardiner, die Wahrheit nicht kennt. Warum sollte eine Frau sich für ein Verbrechen hängen lassen, das sie nicht begangen hat?« Er sah Oliver fest an. »Nur weil die Alternative schlimmer für sie ist.«
»Was könnte schlimmer sein, als zu hängen?«, fragte Oliver.
»Das weiß ich nicht. Genau das musst du herausfinden.«
»Die Hinrichtung eines Menschen, den man liebt…«, sagte Oliver, mehr zu sich selbst als zu Henry.
»Ist Lucius Stourbridge schuldig?«, fragte Henry ihn.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Oliver. »Ich weiß nicht, warum er Treadwell hätte töten sollen – oder seine eigene Mutter.«
»Bei Treadwell ist es einfacher«, meinte Henry nachdenklich.
»Der Mann könnte Mrs. Gardiner bedroht haben oder die Ehe der beiden, entweder durch Mrs. Anderson oder auf sonst eine Weise. Er war ein Erpresser. Da ist eine Menge denkbar. Viel schwieriger ist es, sich ein Motiv vorzustellen, das Lucius zu dem Mord an seiner Mutter getrieben hätte.«
»Ich habe nach einem Motiv gesucht«, räumte Oliver ein.
»Ich habe keins gefunden.«
»Es wäre schon sehr merkwürdig, wenn die beiden Mordfälle nicht zusammenhingen«, überlegte Henry mit zusammengezogenen Brauen. »Was haben die beiden Verbrechen gemeinsam?«
»Treadwell selbst und Miriam Gardiner«, antwortete Oliver.
»Und den unbekannten Faktor«, fügte Henry hinzu. »Man muss immer die Möglichkeit einkalkulieren, dass ein Faktor im Spiel ist, den man nicht berücksichtigt hat, vielleicht etwas, das sich ganz und gar unserem Wissen entzieht. Nach dem, was du mir bisher erzählt hast, scheint das hier der Fall zu sein. Du musst mit Logik zu Werke gehen, schließe aus, was unmöglich ist, und prüfe, was übrig bleibt. Ich habe das Gefühl, Oliver, dass dieser Fall dein Mitleid zu sehr strapazieren und dir möglicherweise mehr abverlangen wird, als du zu geben beabsichtigt hattest. Mir ist klar, dass das alles nicht leicht für dich ist, vor allem, wenn man bedenkt, dass Hester in den Fall verwickelt ist.«
»Hesters Beteiligung spielt für mich keine Rolle!« Kaum waren ihm die Worte über die Lippen gekommen, wusste er schon, dass sie nicht nur nicht der Wahrheit entsprachen, sondern dass Henry dies gewiss durchschauen würde, aber er konnte sie nicht mehr zurücknehmen.
Henry schüttelte sanft den Kopf und lächelte. In diesem Augenblick wusste Oliver, dass sein Vater seine Entscheidung billigte.
Sie saßen noch etwa eine halbe Stunde schweigend beieinander, dann stand Oliver auf und verabschiedete sich. Henry begleitete ihn durch den im Mondschein liegenden Obstgarten zur Straße. Beide wussten, ohne darüber zu sprechen, dass Oliver sich morgen daranmachen musste, eine vernünftige Verteidigung aufzubauen und nach jenem Grund zu fahnden, der für Miriam Gardiner so schrecklich war, dass sie lieber hängen wollte, als ihn enthüllt zu sehen.
Und wenn Oliver es herausfand, wem würde seine Loyalität dann gelten? Miriam oder der Wahrheit?