7

Hester war vor Monk zu Hause und freute sich auf seine Ankunft, aber als er durch die Tür trat und sie sein Gesicht sah, wusste sie sofort, dass etwas passiert war. Er sah erschöpft aus. Sein Gesicht war blass, und das dunkle Haar klebte ihm schweißnass an der Stirn.

Angst und Sorge stiegen in ihr auf. »Was ist geschehen?«, fragte sie beunruhigt.

Er stand mitten im Raum, hob die Hand und strich ihr ganz sanft über die Wange. »Ich weiß jetzt, was es ist, das du mir nicht erzählen konntest… und warum. Es tut mir Leid, dass ich der Sache nachgehen musste.«

Sie schluckte. »Der Sache?«

»Den gestohlenen Medikamenten«, antwortete er. »Der Frage, wer sie gestohlen hat und warum und wo sie geblieben sind. Dies ist eine weitaus nahe liegendere Begründung für eine Erpressung.«

Sie wollte einfach nicht verstehen, was er da sagte. »Die Medikamente können unmöglich etwas mit Miriam Gardiner zu tun haben. «

»Nicht direkt, aber das eine führt zum anderen.« Sie spürte, dass er sich seiner Sache ganz sicher war.

»Was? Was für eine Verbindung besteht da?«, fragte sie.

»Was ist passiert?«

»Cleo Anderson hat die Medikamente gestohlen, um alte und kranke Menschen damit zu behandeln«, antwortete er leise.

»Irgendwie hat Treadwell davon erfahren und sie erpresst. Vielleicht ist er Miriam gefolgt. Vielleicht ist ihr unbeabsichtigt eine Bemerkung herausgerutscht, und er hat sich den Rest zusammengereimt.«

»Weißt du das mit Sicherheit?« Sie war verwirrt, und ihre Gedanken überschlugen sich. »Wenn Treadwell Cleo Anderson erpresst hat, warum sollte Miriam ihn dann töten? Um sie zu schützen? Das erklärt aber nicht, warum sie den Cleveland Square so plötzlich verlassen hat. Was ist mit Lucius Stourbridge? Warum ist sie nicht zu ihm gegangen und hat es ihm erklärt? Irgendetwas…« Ihre Stimme wurde leiser. Nichts von alledem ergab wirklich einen Sinn.

»Miriam hat Treadwell nicht getötet«, entgegnete er. »Die Polizei hat sie freigelassen. Sie wollte Cleo schützen, weil sie tief in ihrer Schuld steht und wohl auch glaubte, sie sei im Recht.«

»Das ist nicht genug«, protestierte Hester. »Warum ist sie von dem Fest am Cleveland Square weggelaufen? Warum sollte sie Lucius verschweigen, wo sie sich aufhielt?«

»Das weiß ich nicht«, gab er zu. »Sie wurde, als man sie aus dem Gefängnis entließ, seiner Obhut unterstellt, und sie sah aus, als ginge sie zu ihrer Hinrichtung. Sie flehte förmlich darum, sie nicht zu Lucius zu schicken, aber auf dem Revier wollte man nichts davon wissen.« Er runzelte die Stirn. »Einen Moment lang dachte ich, sie würde mich um Hilfe bitten, aber dann änderte sie ihre Meinung. Sie mussten sie beinahe hinaustragen.«

Das Mitleid in seiner Stimme war nicht zu überhören. Auch sie empfand so, und es erzürnte sie, dass die Polizei bestimmte, in wessen Obhut Miriam gegeben werden müsse. Man hätte es ihr überlassen sollen, wohin sie gehen wollte und zu wem. Schließlich stand sie nicht länger unter Mordanklage.

Aber weitaus drängender war im Augenblick ihre Sorge um Cleo Anderson.

»Was können wir tun, um ihr zu helfen?« Sie hielt es für selbstverständlich, dass er dies auch wollte.

Monk stand nach wie vor mitten im Zimmer, erhitzt, müde und mit schmerzenden Füßen. Erstaunlicherweise verlor er nicht die Fassung.

»Gar nichts. Es ist jetzt eine private Angelegenheit zwischen zwei Menschen.«

»Ich spreche von Cleo!«, korrigierte sie ihn. »Miriam hat andere Menschen, die sich um sie kümmern. Außerdem wird sie nicht eines Verbrechens bezichtigt.«

»Doch, das wird sie: Man betrachtet sie als Komplizin bei der Vertuschung von Treadwells Ermordung. Auch wenn sie behauptet, sie sei nicht zugegen gewesen und habe nicht gewusst, dass er tot war. Man kann fast mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie Augenzeugin des Verbrechens war. Die Polizei wird auf einer Zeugenaussage vor Gericht bestehen.«

Hester machte eine ungeduldige Handbewegung. Sie kannte Miriam Gardiner nicht, aber sie kannte Cleo und wusste, was sie für den alten John Robb und andere getan hatte.

»Na schön, sie wird also eine Aussage machen müssen! Es wird nicht angenehm sein, aber sie wird es überleben. Wenn sie auch nur den geringsten Anstand hat, wird ihre erste Sorge Cleo gelten, so wie auch wir jetzt vor allen Dingen an Cleo denken müssen. Was können wir tun? Wo sollen wir beginnen?«

Seine Züge spannten sich an. »Es gibt nichts, was wir tun können«, erwiderte er knapp, dann wandte er sich ab und setzte sich erschöpft in einen der Sessel. »Ich habe Miriam Gardiner gefunden und sie zu ihrer zukünftigen Familie zurückgebracht. Ich wünschte, die Schuldige wäre nicht ausgerechnet Cleo Anderson, aber so ist es nun mal. Ich bin auf keine Beweise für ihre Tat gestoßen, das war das Äußerste, was ich für sie tun konnte, aber Robb wird sicher auf etwas stoßen. Er ist ein guter Polizist. Außerdem ist sein Vater betroffen.« Er ärgerte sich über seine eigenen Gefühle, was sich in seiner Miene und seinem Tonfall äußerte.

Hester blieb mitten im Raum stehen. Sie trug ein hübsches bedrucktes Kattunkleid mit weiten Röcken und einem kleinen, weißen Kragen. Es war hübsch anzusehen, aber bedeutungslos angesichts dessen, was Cleo Anderson bevorstand.

»Es muss doch irgendetwas geben…« Sie wusste, dass sie nicht mit ihm hätte streiten sollen, gerade jetzt, wo er so erschöpft war und ihm diese Geschichte genauso nahe ging wie ihr. Aber ihre Selbstbeherrschung reichte nicht aus, um geduldig dazusitzen und auf einen günstigeren Zeitpunkt zu warten. »Ich weiß nicht, was… aber wenn wir suchen… vielleicht hat er sie bedroht. Vielleicht war Notwehr im Spiel.« Sie suchte verzweifelt nach einem Ausweg. »Vielleicht wollte er sie überreden, irgendein Verbrechen zu begehen. Das könnte eine Rechtfertigung dafür sein…«

»Dass sie ihn stattdessen umbrachte?«, fragte er sarkastisch. Sie wurde rot. »Also schön, es war keine besonders gute Idee«, räumte sie ein. »Aber es gibt noch andere Möglichkeiten!«

Er sah überrascht zu ihr auf, aber seine Überraschung galt nicht ihren Worten selbst, sondern dem milden Tonfall, in dem sie gesprochen hatte.

Sie wusste, was in ihm vorging, und errötete noch mehr. Diese ganze Auseinandersetzung war lächerlich und empörend.

»Ich wünschte, ich könnte ihr helfen«, sagte er sanft. »Aber ich weiß nicht, wie, und du weißt es auch nicht. Lass die Dinge auf sich beruhen, Hester. Misch dich nicht ein.«

Sie musterte ihn und versuchte herauszufinden, wie ernst es ihm mit diesen Worten war. War es ein Rat oder ein Befehl?

Sie konnte keinen Zorn in seinem Gesicht entdecken, aber auch keinen Hinweis darauf, dass er seine Meinung ändern würde. Sie konnte Cleo jedoch nicht im Stich lassen, nicht einmal, um Monk einen Gefallen zu tun, oder, wenn es zum Schlimmsten kam, einem ernsten Streit mit ihm aus dem Weg zu gehen. Sie würde nicht damit leben können, wenn sie das tat. Wie sollte sie ihm das erklären? Es war das erste Mal, dass sich eine Kluft zwischen ihnen auftat, die sich wohl nicht so leicht überbrücken ließ.

Sie sah den Schatten auf seinem Gesicht. Er verstand sie, wenn schon nicht in allen Einzelheiten, so doch zumindest, was das Wesentliche betraf.

»Vielleicht könntest du Erkundigungen einziehen«, schlug er vor. »Aber du wirst äußerst vorsichtig sein müssen, sonst machst du alles nur noch schlimmer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Leiter des Hospitals Mrs. Anderson freundlich gesinnt ist.«

Er versuchte einzulenken, was sie mit großer Freude erfüllte. Am liebsten hätte sie jetzt die Arme um ihn geschlungen und ihn an sich gedrückt, aber sie widerstand der Versuchung. Stattdessen senkte sie den Blick.

»O ja«, sagte sie ernst. »Ich werde wirklich äußerst vorsichtig sein müssen – falls ich irgendwelche Nachforschungen anstelle. Im Augenblick weiß ich nicht, wie ich vorgehen soll. Ich werde einfach zuhören und beobachten… fürs Erste.«

Dann bereitete sie das Abendessen vor: kalten Schinken und Gemüse und anschließend warmen Apfelkuchen mit Sahne. Während sie am Tisch saßen und ihre Mahlzeit einnahmen, stellte sie ihm weitere Fragen nach Miriam und der Familie Stourbridge.

»Alles, was ich weiß, scheint irgendwie keinen Sinn zu ergeben«, sagte er, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte.

»Die Stourbridges haben Miriam herzlicher willkommen geheißen, als man es hätte erwarten dürfen bei einer Frau, die kein Vermögen und keine Familie besitzt und ihren einzigen Sohn heiraten wollte. Meine Beobachtungen bestätigen ihre Aussage, dass sie Miriam gern haben und als die Frau akzeptierten, die ihren Sohn glücklich machen wird. Ob sie ihm einen Erben schenken kann oder nicht, wird sich erweisen, – jung genug ist sie ja.«

»Aber sie hat keine Kinder aus ihrer Ehe mit Mr. Gardiner«, bemerkte Hester. »Dadurch wird es weniger wahrscheinlich, dass sie in dieser neuen Ehe Kinder bekommt.«

»Das haben sie gewiss bedacht.« Er nahm noch etwas Sahne, verteilte sie großzügig über dem zweiten Stück Kuchen und verspeiste das Ganze mit unverhohlenem Genuss.

Sie beobachtete ihn erleichtert. Sie war, was die Zubereitung von Süßspeisen betraf, noch immer sehr unsicher, und sie hatte bisher noch nicht die Zeit gefunden, nach einer Frau zu suchen, die tagsüber die nötigsten Hausarbeiten erledigte. Sie würde das Problem möglichst bald in Angriff nehmen müssen. Ein wohl geordnetes häusliches Leben würde nicht nur einen Teil von Monks Glück ausmachen, sondern auch von ihrem eigenen. Sie hatte nicht den Wunsch, ihre Zeit oder Energie auf alltäglichen Kleinkram zu verwenden. Sie würde sich gleich morgen umhören, außer ihre Nachforschungen im Fall Cleo Anderson würden sie zu sehr beanspruchen. Diese Angelegenheit war natürlich wichtiger als die Suche nach einem Dienstmädchen.

»Cleo Anderson!«, rief Callandra. »Bist du dir sicher?« Es war mehr ein Protest als eine Frage. Hester war ein paar Minuten allein mit Beck und Callandra im Warteraum der Chirurgen.

»Ich hatte keine Ahnung«, sagte er leise. »Was für ein Risiko sie eingegangen ist… die ganze Zeit über. Wie lange wissen Sie es schon?« Er sah Hester an.

»Ich weiß es eigentlich nicht mit letzter Sicherheit.« Sie war immer noch übervorsichtig, als lausche Sergeant Robb hinter der Tür. »Zumindest… habe ich keine Beweise.«

»Natürlich nicht«, sagte Kristian und verzog kaum merklich die Lippen. »Niemand möchte Beweise finden. Sie hatten ganz Recht, dass Sie bisher nicht darüber gesprochen haben. Die arme Frau.« Er ballte die Fäuste. »Es ist ein schreckliches Unrecht, dass ein Mensch solche Risiken auf sich nehmen muss, um den Armen und Kranken zu helfen.«

»Es ist ungeheuerlich!«, stimmte Callandra ihm zu, ohne ihn anzusehen. »Aber wir müssen etwas tun! Es muss einen Weg geben. Was sagt William dazu?«

Hester gab nur eine leicht abgeänderte Zusammenfassung des Gesprächs wieder. »Er meint, wir sollten äußerst vorsichtig sein, wenn wir Erkundigungen einziehen«, erwiderte sie.

»Mehr als vorsichtig«, pflichtete Kristian ihr bei. »Thorpe wäre begeistert, wenn er sämtliche Krankenschwestern als Diebinnen hinstellen könnte…«

»Aber genau das wird er tun!«, fiel Callandra ihm ins Wort, und ihr Gesicht wirkte kummervoll. »Er wird schneller davon erfahren als uns lieb ist. Die Polizei taucht hier sicher bald auf, um Fragen zu stellen.«

»Gibt es etwas, das wir verheimlichen könnten?« Hester blickte von einem zum anderen. Wenn Cleo für den Mord an Treadwell verurteilt würde, dürften ein oder zwei Flaschen Morphium kaum eine Rolle spielen. Aber noch bevor die Worte heraus waren, wusste sie, wie töricht diese Idee war.

»Welche Beweise hat die Polizei denn für ihre Schuld?«, fragte Kristian ein wenig ruhiger. Der erste Schreck ließ langsam nach. »Möglicherweise hat er sie erpresst, aber er könnte das auch mit anderen getan haben. Sie verfügte kaum über ein Einkommen, aus dem sich viel herausholen ließ.«

»Es sei denn, sie hätte ihm Morphium besorgt«, sagte Callandra mit Sorge, »und er hat es verkauft. Das würde erheblich mehr bringen.«

Auf diesen Gedanken war Hester überhaupt noch nicht gekommen. Sie glaubte nicht, dass Cleo selbst Morphium verkaufen würde, aber es wäre ihr vielleicht nichts anderes übrig geblieben, wenn Treadwell ihr Geld abgepresst hatte. Aber was war geschehen, das sie vielleicht gerade an diesem Abend zur Mörderin machte? War es Verzweiflung… oder nur die günstige Gelegenheit?

»Aber welche Beweise gibt es?«, wiederholte Kristian. »Hat jemand sie gesehen? Hat sie etwas am Tatort zurückgelassen? Gibt es Hinweise, die andere Personen als Täter ausschließen?«

»Nein… Fest steht nur, dass sein Leichnam auf dem Weg vor ihrem Haus gefunden wurde und dass er vom Ort des Geschehens dorthin gekrochen ist. Zuerst vermutete man, dass er sie um Hilfe bitten wollte. Jetzt werden die Leute glauben, dass es kein Zufall war, sondern dass er bewusst auf sie hinweisen wollte.«

Kristian runzelte die Stirn. »Sie meinen, die beiden haben sich irgendwo in der Nähe getroffen, sie hat ihn niedergeschlagen und ihn, weil sie ihn für tot hielt, liegen lassen. Aber er war noch bei Bewusstsein und kroch hinter ihr her?«

Callandras Gesicht war vor Kummer wie versteinert.

»Warum nicht?« Es widerstrebte Hester zutiefst, es auszusprechen, aber die Worte hingen zwischen ihnen. »Er traf sich mit ihr, um sie zu erpressen, und sie fühlte sich zum Äußersten getrieben – vielleicht hatte sie nichts mehr, um ihn zu bezahlen. Entweder war sie von Anfang an in der Absicht, ihn zu töten, zu dem Treffen gegangen, oder es ergab sich aus den Umständen.«

»Und wo war Miriam?«, fragte Callandra. Dann wurde ihre Miene plötzlich lebhafter. »Oder hat er Miriam vielleicht irgendwo abgesetzt und ist dann zu Cleo Anderson gefahren? Das würde erklären, warum Miriam nicht wusste, dass er tot war!«

Hester schüttelte den Kopf. »Was auch immer die Antwort auf diese Frage sein mag, Cleo hilft es jetzt nichts mehr.«

Sie sahen einander unglücklich an und keinem von ihnen fiel etwas Tröstliches ein.

Die Dinge schienen sich noch zu verschlimmern, als Hester und Callandra etwa eine Stunde später von einem äußerst wütenden Fermin Thorpe in dessen Büro bestellt wurden, wo er ihnen die Anweisung gab, Sergeant Robb bei seinen Ermittlungen zu unterstützen.

Robb fühlte sich sichtlich unbehaglich. Er stand neben Thorpes Schreibtisch und musterte zuerst Thorpe selbst, dann Callandra und zu guter Letzt Hester.

»Es tut mir Leid, Ma’am«, er schien sie beide gleichzeitig anzusprechen, »ich hätte Sie lieber nicht in diese Lage gebracht, aber ich muss mehr über die Medikamente wissen, von denen Mr. Thorpe mir sagt, sie seien aus Ihrer Apotheke verschwunden.«

»Ich wusste bis heute Morgen nichts davon«, sagte Thorpe, dessen Gesicht von Zornesröte überzogen war. »Man hätte mir schon den ersten Vorfall dieser Art melden müssen. Irgendjemand wird sich dafür verantworten!«

»Ich denke, wir sollten zunächst ganz präzise feststellen, was sich beweisen lässt, Mr. Thorpe«, entgegnete Callandra kalt. »Es geht nicht an, wild mit Anschuldigungen um sich zu werfen, bevor man Beweise hat. Ein Ruf ist schnell ruiniert und lässt sich nicht so leicht wieder herstellen.« Sie sah ihn herausfordernd an.

Thorpe war sich seiner Stellung als Leiter des Hospitals und seiner seinem Amt innewohnenden Autorität durchaus bewusst. Andererseits konnte er sich aber kaum über gesellschaftliche Zwänge hinwegsetzen, und Callandra besaß immerhin einen Titel, auch wenn es nur ein Ehrentitel war, den sie der Position ihres verstorbenen Vaters verdankte. Er entschied sich für umsichtiges Vorgehen, zumindest für den Augenblick.

»Selbstverständlich, Lady Callandra. Wir sind noch nicht über die ganze Situation im Bilde.« Er sah Robb von der Seite an.

»Ich versichere Ihnen, Sergeant, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen behilflich zu sein. Wir müssen zuerst alle Fakten zusammentragen und dann jedweder Unehrlichkeit einen Riegel vorschieben. Ich werde Sie persönlich in Ihren Ermittlungen unterstützen.«

Genau das hatte Hester befürchtet. Es wäre so viel einfacher gewesen, die Verluste zu verharmlosen, ja sogar Robb ein klein wenig an der Nase herumzuführen, wenn Thorpe nicht seine Hände im Spiel hatte. Sie wusste nicht, was der Apotheker tun würde, wem seine Loyalität galt oder wie sehr er um seine eigene Stellung bangen würde.

Thorpe zögerte, und Hester wurde mit einem Aufkeimen von Hoffnung klar, dass er nicht genug über die Medikamente wusste, um ohne Hilfe eine Bestandsaufnahme der Apotheke durchzuführen.

»Vielleicht könnte einer von uns Mr. Phillips holen?«, schlug sie vor. »Und Sie vielleicht auch begleiten, um Notizen zu machen… für unsere eigenen Zwecke. Schließlich werden wir uns um die Angelegenheit kümmern und dafür sorgen müssen, dass es nicht wieder vorkommt. Es ist für uns noch wichtiger, die Wahrheit ans Licht zu bringen als für Sergeant Robb.«

Thorpe ergriff den Strohhalm, der ihm angeboten wurde. »So ist es, Mrs. Monk.« Plötzlich besann er sich ihres Namens, ohne sich besonders anstrengen zu müssen.

Sie lächelte, sagte aber nichts. Bevor er seine Meinung ändern konnte, warf sie Callandra einen Blick zu und führte die anderen dann aus dem Büro und durch den breiten Korridor zur Apotheke. Sie wusste, dass Callandra Mr. Phillips holen würde, und vielleicht konnte sie sogar diskret ein Wort mit ihm wechseln, um ihm klarzumachen, was seine Aussage für sie alle bedeuten konnte. Wahrscheinlich war er bisher noch nicht über das, was Cleo Anderson vorgeworfen wurde, informiert.

Sie wagte es nicht, Sergeant Robb anzusehen. Zu leicht hätte er Callandras Absicht durchschauen können. Dazu bedurfte es keines großen Geschicks.

Sie gingen eilig nebeneinander her, bis Hester an der Tür zur Apotheke Halt machte. Natürlich besaß Thorpe einen Schlüssel, er hatte für sämtliche Türen einen Schlüssel. Er schloss auf und trat ein, und sie folgten ihm in den kleinen Raum, wo kaum Platz für alle war. An den Wänden standen Schränke, die bis zur Decke reichten. Jeder dieser Schränke hatte ein eigenes Messingschloss, selbst die Schubladen unter dem Regal.

»Ich fürchte, für die Schränke habe ich keine Schlüssel«, erklärte Thorpe widerstrebend. »Aber wie Sie sehen, wird hier auf größte Sorgfalt geachtet. Ich weiß nicht, was wir noch tun könnten, außer, wir stellen einen zweiten Apotheker ein, sodass jede Minute des Tages jemand hier ist. Es wird Ihnen aber einleuchten, dass wir nicht nur tagsüber, sondern auch nachts Medikamente benötigen, und niemand kann rund um die Uhr verfügbar sein, wie diensteifrig er auch ist.«

.»Wer bewahrt die Nachtschlüssel auf?«, fragte Robb.

»Wenn Mr. Phillips geht, bringt er sie mir«, erwiderte Thorpe mit einem gewissen Unbehagen, »und ich gebe sie dem diensthabenden Arzt der Nachtschicht.«

»Ihren Worten entnehme ich, dass es sich dabei nicht immer um dieselbe Person handelt«, bemerkte Robb.

»Nein. Wir operieren nachts nicht. Daher bleibt nur selten einer der Chirurgen hier. Doktor Beck bleibt gelegentlich im Krankenhaus, wenn er einen besonders schweren Fall hat. Häufiger ist es ein Praktikant.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, änderte dann aber seine Meinung. Vielleicht hatte er das Gefühl, das ganze Krankenhaus würde angeschuldigt, weil eine seiner Krankenschwestern die Möglichkeit gehabt hatte zu stehlen und weil aus diesem Diebstahl ein Mord erwachsen war. Er hätte sich gern von den Vorgängen distanziert, was deutlich an seiner Miene abzulesen war.

»Wer verabreicht in der Nacht die Medikamente?«, erkundigte Robb sich weiter.

Thorpes Unbehagen nahm noch zu. »Der diensthabende Arzt.«

»Keine Krankenschwester?« Robb schien überrascht zu sein.

»Krankenschwestern sind dazu da, die Patienten sauber zu halten und es ihnen möglichst bequem zu machen«, antwortete Thorpe eine Spur schärfer. »Sie verfügen weder über eine medizinische Ausbildung noch über Erfahrung, und man überträgt ihnen keine derartigen Pflichten, – sie haben einfach genau das zu tun, was man ihnen sagt.« Er vermied es, Hester bei diesen Worten anzusehen.

Robb nahm diese Information mit nachdenklicher Miene auf. Bevor er jedoch weitere Fragen stellen konnte, trat der Apotheker ein, dicht gefolgt von Callandra, die Hesters Blick auswich.

»Ah!«, sagte Thorpe erleichtert. »Phillips. Dies ist Sergeant Robb. Er glaubt, dass eine beträchtliche Menge an Medikamenten aus unseren Vorräten verschwunden ist, gestohlen von einer unserer Krankenschwestern, und dass diese Tatsache jemandem die Möglichkeit geliefert hat, sie zu erpressen.« Er räusperte sich. »Wir müssen feststellen, ob dies der Wahrheit entspricht, und wenn dem so ist, muss herausgefunden werden, wie viel gestohlen wurde und wer der Täter ist. Und natürlich muss man klären, wie diese Diebstähle überhaupt möglich waren.« Er hatte höchst geschickt Phillips den schwarzen Peter zugeschoben, vielleicht sogar die Verantwortung für die Diebstähle.

Phillips antwortete nicht sofort. Er war ein untersetzter Mann mit deutlich zu viel Gewicht, wirrem dunklem Haar und einem Bart, der dringend gestutzt werden musste. Hester hatte ihn stets als einen angenehmen Menschen empfunden, der einen Sinn für Humor hatte, wenn auch gelegentlich mit einer Prise Sarkasmus darin. Sie hoffte, dass man die Schuld nicht auf ihn abwälzen würde, und es wäre eine schmerzliche Enttäuschung für sie, wenn er diese Schuld allzu leicht Cleo zuschieben würde.

»Haben Sie nichts zu sagen, Mann?«, fragte Thorpe ungeduldig.

»Nicht, ohne genau darüber nachgedacht zu haben, Sir«, erwiderte Phillips. »Wenn wirklich Medikamente verschwunden sind und es sich nicht nur um Verschwendung oder einen Fehler bei der Auflistung der Vorräte handelt oder jemandem beim Vermerk in den Entnahmelisten ein Irrtum unterlaufen ist, dann haben wir es mit einer sehr ernsten Angelegenheit zu tun.«

»Natürlich ist es eine ernste Angelegenheit!«, fuhr Thorpe den Mann an. »Es geht schließlich um Erpressung und Mord!«

»Mord?«, fragte Phillips mit einer Spur Überraschung in der Stimme. »Wegen unserer Medikamente? Einen Diebstahl in einer solchen Größenordnung hat es nicht gegeben. Dessen bin ich mir sicher.«

»Er muss sich über längere Zeit hingezogen haben«, setzte Thorpe den Apotheker ins Bild. »Zumindest denkt der Sergeant, dass es so war.«

Phillips suchte nach seinen Schlüsseln und förderte einen großen Schlüsselring zu Tage. Als Erstes öffnete er eine der Schubladen und zog das Hauptbuch heraus. »Wie weit soll ich zurückgehen, Sir?«, fragte er Robb höflich.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Robb. »Versuchen wir’s mal mit einem Zeitraum von etwa einem Jahr. Das müsste genügen.«

»Ich weiß nicht recht, wie man das jetzt noch feststellen kann«, erwiderte Phillips und schlug das Hauptbuch im gleichen Monat des vergangenen Jahres auf. Er überflog die Seite und nahm sich dann die nächste vor. »Hier stimmen alle Zahlen überein und es gibt keine Möglichkeit herauszufinden, ob sie genau den Mengen entsprechen, die zu der Zeit in den Schränken lagen. Es sieht nicht so aus, als hätte jemand die Zahlen manipuliert. Außerdem wäre mir das sofort aufgefallen, und ich hätte es Mr. Thorpe gemeldet.«

Thorpe trat einen Schritt näher und blätterte selbst die Seiten des Hauptbuchs um, ohne sie bis zum gegenwärtigen Tag zu überprüfen. Die Einträge waren ganz offensichtlich nicht nachträglich geändert worden. Das Buch half ihnen nicht weiter. Die Lieferungen der Medikamente waren stets in derselben Handschrift verzeichnet worden, die Entnahmen in verschiedenen anderen. Es kamen gelegentlich Rechtschreibfehler vor.

Robb sah sich die Einträge an. »Sind das alles Ärzte?«, fragte er.

»Selbstverständlich«, erwiderte Thorpe scharf. »Sie glauben doch nicht, dass wir den Krankenschwestern die Schlüssel geben, oder? Wenn dieses elende Frauenzimmer wirklich Medikamente aus dem Krankenhaus gestohlen hat, dann muss sie es hinter dem Rücken eines der Ärzte getan haben, vielleicht als dieser sich gerade um einen Patienten kümmerte oder sonstwie abgelenkt war. Es ist in jedem Fall eine verwerfliche Tat. Ich hoffe, dass die Schuldige die schwerste Strafe erhalten wird, die das Gesetz für solche Fälle vorsieht, zur Abschreckung für jede andere Person, die sich versucht fühlt, sich auf Kosten derer zu bereichern, für deren Wohl sie zu sorgen hat!«

»Vielleicht handelt es sich einfach um Verschwendung«, bemerkte Phillips, der mit großen Augen von Thorpe zu Robb blickte. »Es ist nicht ganz einfach, Pulver exakt abzumessen. Annäherungsweise natürlich, aber bei ein paar Dutzend Dosen kann schon mal ein bisschen was zusammenkommen. Haben Sie diese Möglichkeit schon in Erwägung gezogen, Sir?«

»Deswegen könnte man niemanden erpressen«, erwiderte Robb ein wenig widerstrebend. »Es muss mehr dahinter stecken. Wenn die Diebstähle in der Vergangenheit heute nicht mehr nachzuweisen sind, würden Sie dann bitte Ihre gegenwärtigen Vorräte überprüfen und genau mit den Mengen vergleichen, die in Ihren Büchern eingetragen sind?«

»Selbstverständlich.« Phillips hatte in dieser Hinsicht kaum eine andere Wahl – ebenso wenig übrigens wie Robb.

Sie warteten schweigend, während Phillips seine Schränke durchsah, wog, zählte und abmaß, während Thorpe ihn ungeduldig, Callandra ihn ängstlich und Robb ihn beklommen beobachtete.

Hester fragte sich, ob Robb auch nur die leiseste Ahnung hatte, dass das Leiden seines Großvaters mit eben diesen Medikamenten gelindert worden war, Medikamenten, die nicht aus Habgier, sondern aus Barmherzigkeit gestohlen worden waren, von Cleo Anderson, die er jetzt des Mordes an Treadwell überführen wollte. Sie blickte in sein ernstes Gesicht und sah Mitleid darin, aber keinen Zweifel, keinen Konflikt… noch nicht.

War Cleo schuldig? Wenn Treadwell ein Erpresser war, war es möglich, dass Cleo lieber ihn opfern wollte als die Patienten, die sie behandelte?

»Beim Chinin scheint ein wenig zu fehlen«, bemerkte Phillips, als sei das nicht weiter wichtig. »Möglich, dass dem Ungenauigkeiten beim Abmessen zugrunde liegen. Oder vielleicht hat jemand in einem Notfall ein paar Dosen entnommen und vergessen, sie einzutragen.«

»Wie viel fehlt?«, fragte Thorpe mit düsterer Miene.

»Verdammt noch mal, Mann, Sie können sich doch sicher genauer ausdrücken! Was meinen Sie mit ›ein wenig‹? Sie sind Apotheker! Man verabreicht einem Patienten nicht ›ein wenig‹ von einem Medikament!«

»Es fehlen ungefähr dreißig Gramm, Sir«, antwortete Phillips leise.

Thorpe lief dunkelrot an. »Gütiger Gott! Das ist genug, um ein Dutzend Männer zu behandeln! Wir haben es wahrhaftig mit einem schweren Vergehen zu tun. Stellen Sie fest, was sonst noch fehlt! Sehen Sie sich das Morphium an.«

Phillips gehorchte. Die Differenz beim Morphium war noch größer, was Hester nicht überraschte. Morphium wurde gegen Schmerzen verwendet, Chinin gegen Fieber. Cleo musste es im Lauf der Jahre häufig genug unter ärztlicher Aufsicht gegeben haben, sodass sie genau wissen konnte, wie viel sie wann zu verabreichen hatte. Hester selbst wäre dazu jedenfalls in der Lage gewesen.

Thorpe wandte sich an Robb. »Ich bedaure, Sergeant, aber wie es aussieht, haben Sie vollkommen Recht. Uns fehlen Medikamente in beträchtlicher Menge, und es ist ausgeschlossen, dass wir es hier mit reinen Zufallsdiebstählen zu tun haben. Es muss eine unserer Schwestern sein.«

Hester wollte darauf hinweisen, dass es jemand sein musste, der während der letzten Jahre zum Fachpersonal gehört hatte, aber sie wusste, dass dieser Einwand sinnlos gewesen wäre. Thorpe würde es nicht einmal in Erwägung ziehen, dass einer der Ärzte etwas Derartiges tun könnte, und sie wollte auf keinen Fall versuchen, die Schuld Phillips in die Schuhe zu schieben.

Vielleicht war es Cleo Anderson… Tatsächlich hatte Hester, wenn sie ehrlich war, keinen Zweifel daran. Sie hatten lediglich die Motive für ihren Diebstahl bisher falsch gedeutet, und Hester wollte die Männer nicht darauf aufmerksam machen, denn für die Anklage würden Cleos Beweggründe keine Rolle spielen.

Wer würde jetzt, da Cleo im Gefängnis war, für die Alten und Kranken sorgen, denen sie mit den gestohlenen Medikamenten ein wenig Linderung verschafft hatte? Und vor allem, was sollte aus John Robb werden?

Callandra reichte Robb die Liste, in die sie eingetragen hatte, welche Medikamente verschwunden waren und in welchen Mengen. Der Sergeant nahm die Liste entgegen, steckte sie in die Tasche und dankte ihr. Dann wandte er sich wieder Phillips zu.

»Über welchen Zeitraum haben sich diese Fehlbeträge angesammelt, Mr. Phillips?«

»Das kann ich nicht sagen, Sir«, erwiderte Phillips prompt.

»Ich hatte schon seit einer ganzen Weile keinen Anlass mehr, eine so detaillierte Überprüfung vorzunehmen. Es könnte sich um mangelnde Sorgfalt bei der Abmessung von Medikamenten handeln, vielleicht hatte sogar jemand etwas verschüttet.« Seine dunklen Augen waren ausdruckslos, und seine Stimme klang sehr vernünftig. Er drehte sich um, um Thorpe mit in das Gespräch einzubeziehen. »Wahrscheinlicher ist jedoch, dass in der Hektik einer schlimmen Nacht oder in einem Notfall jemand nicht richtig aufgeschrieben hat, was entnommen wurde. So etwas kann schon einmal vorkommen. Die Medizin ist eine Kunst, Mr. Thorpe, keine exakte Wissenschaft.«

»Verdammt noch mal, Mann!«, platzte es aus Thorpe heraus.

»Erzählen Sie mir nicht, wie ich in meinem eigenen Krankenhaus Medizin zu machen habe!«

Phillips antwortete nicht, und Thorpes Zorn schien ihn nicht besonders zu beeindrucken, was den anderen Mann einerseits noch mehr in Rage brachte, ihn andererseits aber derart verwirrte, dass er in Schweigen verfiel. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Apotheker ihm mit solcher Gleichgültigkeit gegenübertreten würde.

Phillips wandte sich an Robb. »Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann, Sergeant, wäre das sicher in Mr. Thorpes Sinn. Sie brauchen es mir nur zu sagen. Und bevor Sie mich danach fragen, ich habe keinen Verdacht gegen irgendeine bestimmte Krankenschwester… nicht in dieser Hinsicht. Einige von ihnen trinken ein wenig zu viel Portwein auf nüchternen Magen. Aber das tut wohl halb London von Zeit zu Zeit, wenn Sie mich fragen. Vor allem da Portwein einen Teil der Bezahlung für Krankenschwestern ausmacht. Wenn Sie mich suchen, ich bin außer sonntags jeden Tag im Krankenhaus.« Dann reichte er Thorpe die Schlüssel und ging hinaus.

»Impertinenter Dummkopf!«, fluchte Thorpe leise.

»Aber ehrlich?«, fragte Robb.

Hester sah den Widerwillen in Thorpes Gesicht. Er hätte Phillips nur allzu gern für seine Arroganz bestraft, und diese Gelegenheit war wie geschaffen dafür. Andererseits wäre es ein Eingeständnis seiner eigenen Inkompetenz gewesen, hätte er zugegeben, dass er einen Apotheker eingestellt hatte, dem er nicht vertraute.

Aber für den Fall, dass die Versuchung doch zu groß war, nahm Hester ihm die Antwort ab.

»Selbstverständlich ist Mr. Phillips ehrlich, Sergeant«, sagte sie mit einem Lächeln. »Glauben Sie, Mr. Thorpe hätte zugelassen, dass der Mann in einer so verantwortungsvollen Position verbleibt, wenn er nicht in jeder Hinsicht vertrauenswürdig wäre? Wenn eine Krankenschwester mal ein klein wenig beschwipst den Dienst antritt, ist das eine Sache. Sie verschüttet vielleicht einen Eimer Wasser oder versäumt es, den Fußboden aufzuwischen. Wenn ein Apotheker nicht über jeden Tadel erhaben ist, könnte das Menschenleben kosten.«

»Ganz recht!«, schaltete Thorpe sich hastig ein. Er warf Hester einen giftigen Blick zu und gab sich dann beträchtliche Mühe, seine Miene in den Griff zu bekommen, bevor er sich an Robb wandte. »Bitte, befragen Sie jeden, den Sie zu befragen wünschen. Ich befürchte allerdings, dass Sie keine Beweise dafür finden werden, dass dieses elende Frauenzimmer das Chinin und Morphium gestohlen hat. Wenn es solche Beweise gäbe, hätten wir selbst schon lange davon erfahren. Ich darf doch davon ausgehen, dass Sie sie in Gewahrsam genommen haben?«

»Ja, Sir, das haben wir. Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen, Sir«, sagte Robb, dann wünschte er ihnen allen noch einen schönen Tag.

Hester sah Callandra von der Seite an, dann entschuldigte sie sich ebenfalls. Sie musste sich um andere Dinge kümmern und zwar dringend.

Hester hatte keine Mühe, die Erlaubnis zu bekommen, Cleo Anderson in ihrer Zelle zu besuchen. Sie erklärte dem Gefängniswärter einfach, dass sie vom Hospital, in dem Cleo arbeitete, geschickt worden war und dass sie gewisse medizinische Informationen von ihr benötigten, um die Behandlung der Patienten in ihrer Abwesenheit fortsetzen zu können.

Es stellte sich heraus, dass der Gefängniswärter Cleo kannte – sie hatte seiner Mutter in ihrer Krankheit beigestanden, bevor sie gestorben war –, und er war nur allzu gern bereit, ihr diese Freundlichkeit zu vergelten, wo er nur konnte. Tatsächlich schien ihn die ganze Situation in große Verlegenheit zu stürzen, und Hester konnte an seinem Verhalten nicht ablesen, ob er Cleo für schuldig hielt oder nicht. Es hatte sich jedoch herumgesprochen, dass sie beschuldigt wurde, einen Erpresser getötet zu haben, und er hatte eine sehr niedere Meinung von solchen Leuten, sodass er vielleicht den Tod eines solchen Mannes nicht allzu beklagenswert fand.

Die Zellentür fiel schwer ins Schloss und jagte Hester einen kalten Schauder über den Rücken. Sofort standen ihr wieder jene schrecklichen Tage in Edinburgh vor Augen, als sie sich in der gleichen Lage befand wie Cleo jetzt – allein und des Mordes angeklagt. Auch sie hatte damals den Tod vor Augen gehabt.

Cleo sah sie überrascht an. Ihr Gesicht war blass, und der Ausdruck ihrer weit aufgerissenen Augen zeigte, dass sie unter Schock stand, aber dennoch schien sie sehr gefasst zu sein. Hester konnte sich nicht daran erinnern, genauso empfunden zu haben. Aber andererseits war sie für Mary Farralines Tod auch nicht verantwortlich gewesen.

Selbst wenn Cleo Treadwell getötet und er sie wegen der Medikamente erpresst hatte, so wäre es doch eine höchst verständliche Tat gewesen. Nicht entschuldbar vielleicht, aber gewiss würde Gott ihr verziehen haben.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Hester. »Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Kleider, Seife, ein sauberes Handtuch, besseres Essen? Möchten Sie vielleicht Ihren eigenen Löffel haben? Oder eine Tasse?«

Cleo lächelte schwach. Die praktische Natur der Vorschläge stand in krassem Gegensatz zu dem, was sie erwartet hatte, nämlich Wut, Empörung, Mitleid oder Neugier. Sie sah die andere Frau verwirrt an.

»Ich war selbst einmal im Gefängnis«, erklärte Hester. »Ich habe die Seife und die rauen Handtücher gehasst. Und ich hätte gern meinen eigenen Löffel gehabt. Daran erinnere ich mich noch ganz genau.«

»Aber sie haben Sie laufen lassen…« Cleo sah die Angst in ihrem Gesicht und welche Mühe sie hatte, nicht die Fassung zu verlieren. »Und sie haben doch auch Miriam laufen lassen? Geht es ihr gut?«

Hester setzte sich auf den Stuhl und beugte sich ein wenig vor. Sie konnte Cleo immer besser leiden, je häufiger sie ihr begegnete. Ihr Kummer ging ihr nahe. »Ja, sie haben sie freigelassen.«

»Ist sie nach Hause gegangen?« Sie sah Hester eindringlich an.

»Nein… Man hat sie in die Obhut von Lucius und Major Stourbridge gegeben.« Sie forschte in Cleos Zügen nach etwas, das ihr helfen würde zu verstehen, warum Miriam sich so sehr vor diesem Schritt gefürchtet hatte.

»Geht es ihr gut?«, wiederholte Cleo voller Angst.

Es schien grausam, ihr die Wahrheit zu sagen, aber Hester wusste nicht genug über die Situation, um beurteilen zu können, welche Lügen am wenigsten Schaden anrichten würden.

»Nein«, antwortete sie. »Ich glaube nicht. Nach dem, was mein Mann mir erzählt hat, ging es ihr nicht besonders gut. Ihr wäre jeder andere Ort lieber gewesen als das Haus der Stourbridges – sogar das Gefängnis –, aber man hat ihr in dieser Hinsicht keine Wahl gelassen. Die Polizei konnte sie nicht länger festhalten, aber es war für alle Beteiligten offensichtlich, dass Miriam zutiefst aufgewühlt war, und da sie wahrscheinlich Zeugin des Verbrechens war, konnte die Polizei einen gewissen Einfluss darauf nehmen, wohin sie gehen sollte.«

Cleo schwieg. Sie starrte nur auf ihre Hände, die gefaltet im Schoß lagen.

Hester sah sie eindringlich an. »Wissen Sie, warum sie vom Cleveland Square weggelaufen ist und warum man sie beinahe mit Gewalt dorthin zurückbringen musste?«

Cleo blickte schnell auf. »Nein – nein, ich weiß es nicht. Sie wollte es mir nicht sagen.«

Hester glaubte ihr. Die Verwirrung und der Kummer in ihren Augen waren aufrichtig. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, ob Sie die Medikamente genommen haben oder nicht«, fuhr sie leise fort. »Ich weiß, dass Sie es getan haben, und ich weiß auch, warum.«

Cleo sah sie einige Sekunden lang nachdenklich an, bevor sie zu sprechen begann. »Was soll jetzt bloß aus ihnen werden, Miss? Es gibt niemanden, der sich um sie kümmert. Die, die Familie haben, sind besser dran als die anderen, aber selbst die können sich nicht das leisten, was sie brauchen, oder sie wissen gar nicht, was es ist. Sie werden alt und ihre Kinder ziehen weg und lassen sie allein. Die Jungen scheren sich doch heute nicht mehr um Trafalgar und Waterloo. In ein paar Jahren wird auch die Krim vergessen sein. Die Soldaten, die dort gekämpft haben und vielleicht Arme und Beine verloren haben, sind noch jung und deshalb kümmert man sich um sie. Aber im Alter sind sie uns dann egal. Wir sagen, die sterben ja doch irgendwann. Welchen Sinn hat es, Geld für diese Leute auszugeben?«

Hester konnte ihr nicht widersprechen, auch wenn es nicht in allen Fällen so war.

»Was ist mit John Robb, der als Seemann die Schlacht bei Trafalgar miterlebt hat?«, fragte Hester. »Sein Husten hört sich an, als ob er Schwindsucht hätte.«

Cleo nickte. »Ich glaube nicht, dass er noch lange durchhält. Sein Enkel tut alles für ihn, aber das ist nicht viel. Er kann ihm ohne das Morphium keine Linderung verschaffen.« Sie sah sie bittend an.

Hester wusste, was das bedeutete. Sie würde ihm das Morphium selbst geben müssen und damit in den Diebstahl verwickelt werden. Aber wenn sie Cleos Bitte abschlug, würde das Leiden des alten Mannes noch unerträglicher werden, und er würde sich erst recht im Stich gelassen fühlen.

»Ja, selbstverständlich.« Die Worte kamen über ihre Lippen, noch bevor sie darüber nachgedacht hatte, worauf sie sich da einließ.

»Ich danke Ihnen«, sagte Cleo leise. »Und ich hätte tatsächlich gern die Seife und den Löffel, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«

»Selbstverständlich.« Viel mehr lag ihr der Wunsch am Herzen, Cleo bei ihrer Verteidigung zu helfen. »Haben Sie einen Anwalt, der Sie vertritt?«

»Ein Anwalt? Was könnte der schon sagen? Es würde keinen Unterschied machen.« Ihre Stimme war ausdruckslos. Sie wirkte plötzlich verschlossen und Hester gegenüber distanziert. Versuchte Cleo immer noch Miriam Gardiner zu schützen? Oder war sie tatsächlich schuldig und glaubte, dass sie es verdiene zu sterben?

»Haben Sie Treadwell getötet?«, fragte Hester unvermittelt. Cleo zögerte, wollte etwas sagen, änderte dann aber ihre Meinung und schwieg.

»Hat er Sie erpresst?«

Cleo seufzte. »Ja, natürlich hat er das. Der hätte für Geld so ziemlich alles getan.«

»Ich verstehe.« Hester war fest entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Cleo zu helfen, es ging nur noch darum, sich eine Strategie zurechtzulegen. In ihrem Kopf war bereits der Name Oliver Rathbone aufgetaucht.

Cleo umfasste Hesters Handgelenk mit einem so harten Griff, dass sie erschrocken zusammenfuhr. »Erzählen Sie es nicht dem Sergeant!«, bat sie eindringlich. »Es würde für ihn nichts ändern, und…« Sie blinzelte, und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz, »und sagen Sie dem alten Mr. Robb nicht, warum ich nicht zu ihm komme. Erfinden Sie eine Ausrede… irgendetwas. Vielleicht ist er, wenn ich vor Gericht gestellt werde, bereits… nun, vielleicht braucht er es nie zu erfahren.«

»Ich werde ihm vielleicht sagen, dass Sie sich um eine Verwandte kümmern müssen oder etwas in der Art«, versprach Hester.

»Das ist gut, ja«, erwiderte Cleo dankbar.

»Ich komme wieder und bringe Ihnen die Seife«, versprach sie. »Und den Löffel.« Dann ging sie zur Tür und klopfte kräftig dagegen, damit der Wärter sie hinausließ.

Was sie als Nächstes tun musste, würde wahrscheinlich das Schwierigste von allem sein, und auch das, wovor sie am meisten Angst hatte.

Aber es gab kein Entrinnen für sie. Ganz abgesehen davon, dass sie John Robb mochte, hatte sie Cleo ihr Wort gegeben. Sie hatte versucht, sich einen Plan zurechtzulegen, aber so vieles hing einfach davon ab, dass sich eine günstige Gelegenheit bot. Der Versuch, Phillips’ Schlüssel zu stehlen, war praktisch aussichtslos und außerdem unfair ihm gegenüber.

Wie lange würde es dauern, bis ein Notfall eintrat, bei dem die Apotheke offen und unbewacht sein würde? Eine Chance, dass Phillips dort war, ihr aber den Rücken zukehrte? Sie war plötzlich wütend auf sich selbst, weil sie vergessen hatte, Cleo zu fragen, wie sie es angestellt hatte, an die Medikamente zu kommen.

Sie stand noch immer mitten im Korridor, als Kristian Beck auf sie zukam.

»Hester?«, fragte er besorgt. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Sie nahm sich zusammen und begann ihm eine Idee darzulegen, die in ihren Gedanken noch nicht ganz Gestalt angenommen hatte. »Ich habe mich gefragt, wie Cleo Anderson es bewerkstelligt hat, das Morphium zu stehlen. Phillips ist doch wirklich sehr vorsichtig. Ich meine, was glauben Sie, wie sie vonstatten gegangen ist, die praktische Abwicklung der Diebstähle?«

Er runzelte die Stirn. »Ist das wichtig?«

Warum fragte er? Waren ihm die Diebstähle gleichgültig? Oder war er so überzeugt von Cleos Schuld, dass die Einzelheiten keine Rolle spielten?

»Ich möchte es nicht beweisen«, antwortete sie gelassen und sah ihm in die Augen. »Wenn irgend möglich, würde ich gern das Gegenteil beweisen, aber wenn mir das nicht gelingt, möchte ich es wenigstens verstehen.«

»Die Anklage gegen sie lautet auf Mord, Mord an Treadwell«, erwiderte er leise. »Das ist eine Schuld, von der die Geschworenen sie nicht lossprechen können, ganz gleich, was sie insgeheim darüber denken. Es gibt kein Gesetz, das die Ermordung von Erpressern oder den Diebstahl von Medikamenten erlaubt, selbst wenn sie für alte und kranke Menschen bestimmt sind.« Die Schärfe in seiner Stimme verriet nur allzu deutlich, wie er selbst über diese Dinge dachte.

»Das weiß ich«, sagte sie, und ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Ich würde trotzdem gern genau wissen, wie sie es angestellt hat.«

Er ließ etliche Sekunden verstreichen, ohne ihr zu antworten. Sie wartete. Sie wäre am liebsten weggelaufen, bevor es zu spät war.

»Welche Medikamente hat sie denn genommen, was glauben Sie?«, fragte Kristian endlich.

Sie schluckte. »Morphium für einen alten Mann, der die Schwindsucht hat. Es wird ihn nicht heilen, aber es verschafft ihm ein wenig Linderung.«

»Sehr verständlich«, antwortete er. »Ich hoffe, sie hat ihm auch ein wenig mit Wasser verdünnten Sherry gegeben?«

»Ich glaube schon.«

»Gut. Ich brauche selbst einige Dinge aus der Apotheke. Ich gehe jetzt die Schlüssel holen. Sie können mir helfen, wenn Sie so freundlich sein wollen.« Und ohne auf ihre Antwort zu warten, drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon.

Ein paar Minuten später kam er mit den Schlüsseln zurück und öffnete die Tür. Er trat in den Raum, und sie folgte ihm. Dann machte er sich daran, verschiedene Schränke aufzuschließen und Teeblätter für Aufgüsse herauszunehmen, Stärkungsmittel und diverse Pulver. Einige dieser Dinge reichte er an Hester weiter, während er selbst Flaschen und Krüge öffnete und wieder verschloss. Als er fertig war, schob er sie aus dem Raum, schloss die Tür wieder ab, nahm ihr einige der Medikamente ab, bedankte sich bei ihr und ließ sie allein im Korridor zurück – mit einer kleinen Flasche Stärkungsmittel und Morphium für eine ganze Woche sowie einigen kleinen Papiertütchen mit Chinin.

Sie schob die Medikamente hastig in ihre Taschen und ging wieder zum Eingangsportal. Ihr war, als bohrten sich ihr Dutzende von Augenpaaren in den Rücken, aber tatsächlich kam sie nur an einer Krankenschwester mit Schrubber und Eimer vorbei und an Fermin Thorpe persönlich, der mit starrer Miene ausschritt und sie kaum registrierte.

John Robb war überglücklich, Hester zu sehen. Er hatte eine schlimme Nacht hinter sich, fühlte sich aber jetzt am späten Nachmittag ein wenig besser. Sein Gesicht leuchtete auf, als sie eintrat.

»Guten Tag!«, sagte er freudig. »Wie geht es Ihnen?«

»Mir geht es glänzend«, antwortete sie wohlgelaunt. Er durfte auf keinen Fall von Cleo erfahren. »Ja, mir geht es wirklich gut. Und Ihnen? Ich hoffe, Sie trinken mit mir eine Tasse Tee? Ich habe eine Sorte mitgebracht, die Sie vielleicht gern einmal probieren möchten, und dazu ein paar Kekse.« Sie lächelte.

»Natürlich ist das alles nur ein Vorwand, damit Sie mir noch mehr über Ihr Leben auf See erzählen und über die Länder, die Sie gesehen haben. Sie wollten mir von Indien berichten. Sie sprachen davon, wie das Wasser dort leuchtet, wie Juwelen, und dass Sie dort Fische gesehen hätten, die fliegen konnten.«

»Oh, Mädchen, und ob ich das gesehen habe«, pflichtete er ihr glücklich bei. »Das und noch vieles mehr. Setzen Sie schon mal den Kessel auf, dann erzähle ich Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«

»Natürlich.« Sie nahm die Kekse und den Tee aus dem Beutel, in dem sie sie mitgebracht hatte, füllte den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Als Nächstes nahm sie, dem alten Robb den Rücken zugekehrt, die Flasche mit dem Stärkungsmittel heraus und versteckte sie halb hinter einem blauen Beutel mit Zucker. Zu guter Letzt zog sie unauffällig das Morphium aus ihrer Rocktasche und schob es unter die beiden dünnen Papiertütchen, die noch von Cleos letztem Besuch übrig waren.

»War es sehr heiß in Indien?«, fragte sie.

»Sie können sich nicht vorstellen wie heiß, Mädchen«, erwiderte er. »Es war ein Gefühl, als koche das Meer selbst, überall war Dampf und feuchter Nebel. Die Luft war so dick, dass man das Gefühl hatte, sie trinken zu können.«

»Ich glaube, das kann man hier auch, wenn es nur kalt genug ist!«, sagte sie mit einem Lachen.

»Jawohl! Und im Norden war ich auch!«, erklärte er mit Begeisterung. »Da ragten gewaltige Mauern aus Eis aus dem Meer. So etwas haben Sie noch nie gesehen, mein Kind: Es war schön und schrecklich zugleich. Und wenn man in ihre Nähe kam, gefror einem der Atem zu einem weißen Nebel.«

Sie drehte sich um und lächelte ihn an, dann begann sie den Tee aufzubrühen. »Mrs. Anderson musste für ein Weilchen verreisen. Wenn ich richtig verstanden habe, ist jemand aus ihrer Familie erkrankt.« Sie spülte die Kanne mit kochendem Wasser aus, dann gab sie frische Blätter hinein und goss den Rest des Wassers aus dem Kessel darüber. »Sie hat mich gebeten, Sie an ihrer Stelle zu besuchen. Ich denke, sie wusste, wie sehr mir das gefallen würde. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden?«

Er sah sie mit unverhohlener Freude an. »Klar bin ich das. Dann können Sie mir von einigen der Orte erzählen, an denen Sie gewesen sind. Ich würde gern was über diese Türken hören. Obwohl Cleo mir fehlen wird. Eine gute Frau, die Cleo. Keine Mühe war ihr zu viel. Und ich hab oft gesehen, dass sie zum Umfallen müde war. Ich hoffe, ihre Familie weiß, was sie an ihr hat.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte sie bestimmt. »Und ich sorge dafür, dass sie die Nachricht erhält, dass es Ihnen gut geht.«

»Das machen Sie mal, Mädchen. Und sagen Sie ihr, ich hätte mich nach ihr erkundigt.«

»Das werde ich tun.« Plötzlich fiel es ihr schwer, nicht die Beherrschung zu verlieren. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, obwohl nichts sich geändert hatte. Sie putzte sich die Nase, stellte die Teetassen auf den Tisch und legte die Kekse – die besten, die sie finden konnte – dekorativ auf einen Teller. Hester wollte, dass dieser Nachmittag ein Fest werden sollte.

Hester sprach Monk erst auf das Thema an, nachdem sie gegessen hatten. Sie beobachteten schweigend, wie das letzte Licht hinter den Fenstern verblasste.

Natürlich hatte sie nicht die geringste Absicht, John Robb auch nur zu erwähnen, geschweige denn, Monk mitzuteilen, dass sie jetzt statt Cleo für ihn sorgte.

»Was können wir tun, um Cleo Anderson beizustehen?«, fragte sie, als bestehe nicht der geringste Zweifel, dass sie ihr helfen würden.

Er hob ruckartig den Kopf. Sie wartete ab.

»Alles, was wir bisher getan haben, hat es nur noch schlimmer gemacht«, sagte er bekümmert. »Wenn wir der armen Frau einen Dienst erweisen wollen, lassen wir sie wohl am besten einfach in Ruhe.«

»Wenn wir das tun, wird sie möglicherweise gehängt!«, wandte Hester ein. »Und das wäre ein großes Unrecht. Treadwell war ein Erpresser. Sie mag dem Gesetz nach ein Verbrechen begangen haben, aber eine moralische Verfehlung war es nicht. Wir müssen etwas unternehmen. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit.«

»Ich werde dafür bezahlt, Fakten aufzudecken, Hester«, sagte er leise. »Alles, was ich bisher herausgefunden habe, deutet darauf hin, dass Cleo ihn getötet hat. Ich habe wirklich Mitleid mit ihr und Gott weiß, dass ich an ihrer Stelle vielleicht das Gleiche getan hätte.«

In seinem Gesicht zuckte ein Muskel, und sie wusste, dass er an die Vergangenheit dachte. Auch sie erinnerte sich an Joscelin Grey und die Wohnung am Mecklenburgh Square und wie nahe Monk damals daran gewesen war, zum Mörder zu werden.

»Aber vor dem Gesetz ist das keine Rechtfertigung«, fuhr er fort. »Wenn sie ihn tatsächlich getötet hat, könnte es mildernde Umstände geben, doch dann müsste sie sagen, was geschehen ist, und ich könnte Beweise dafür suchen, falls es welche gibt.«

Sie zögerte noch, ihn nach Oliver Rathbone zu fragen. Zu viele Gefühle waren hier im Spiel, alte Freundschaft, alte Liebe und vielleicht Schmerz. Sie wusste nicht, wie die Dinge standen. Sie hatte Rathbone seit ihrer Heirat nicht mehr gesehen, aber sie erinnerte sich sehr deutlich an den Abend, an dem Rathbone sie um ein Haar gebeten hätte, seine Frau zu werden. Er hatte seine Absicht nur deshalb nicht verwirklicht, weil sie ihn hatte wissen lassen, dass sie seinen Antrag nicht annehmen konnte, noch nicht. Und er hatte den Augenblick verstreichen lassen.

»Es geht nicht nur um das, was passiert ist«, begann sie zögernd. »Es geht um die Interpretation, die richtigen Argumente, wenn du so willst.«

Monk musterte sie ernst, bevor er ihr eine Antwort gab. In seinem Gesicht lag kein Tadel, nur Kummer. »Du forderst mildernde Umstände? Meinst du nicht, dass du damit falsche Hoffnungen in ihr wecken würdest?«

»Aber wir müssen es wenigstens versuchen… nicht wahr? Wir können doch nicht kampflos aufgeben.«

»Was willst du tun?«

Sie sprach aus, womit er gerechnet hatte. »Wir könnten Oliver fragen…« Sie holte tief Luft. »Wir könnten ihm die Sache doch zumindest schildern und uns seine Meinung anhören?« Sie formulierte ihre Bitte als Frage.

Sie konnte keine Veränderung in seiner Miene erkennen, keinen Ärger, keine Anspannung.

»Natürlich«, pflichtete er ihr bei. »Aber erwarte nicht zu viel.«

Sie lächelte. »Nein… es ist nur ein Versuch.«

Als Hester in der Dunkelheit erwachte, nahm sie eine Bewegung wahr; Monk drehte sich auf die Seite, um aus dem Bett zu steigen. Unten klopfte jemand an die Haustür, nicht allzu laut, aber dafür umso beharrlicher.

Monk zog sein Jackett über das Nachthemd. Hester richtete sich auf und sah ihm nach. Sie hörte, wie die Tür geöffnet und einen Augenblick später wieder geschlossen wurde.

Als Nächstes nahm sie den Schein der Lampe im Korridor wahr, als das Gas entzündet wurde.

Sie konnte es nicht länger ertragen, schlüpfte aus dem Bett und zog sich einen Morgenmantel über. Monk kam ihr auf der Treppe entgegen, ein Stück Papier in der Hand. Sein Gesicht war düster und in seinem Blick lag tiefe Bestürzung.

»Was ist passiert?«, sagte sie atemlos.

»Verona Stourbridge.« Seine Stimme zitterte ein wenig. »Sie ist ermordet worden! Auf die gleiche Weise wie Treadwell. Ein einziger, kräftiger Schlag auf den Kopf… mit einem Krocketschläger.« Seine Faust schloss sich um das weiße Papier. »Robb hat mich gebeten hinzufahren.«