10

Fünf Wochen später saßen Cleo Andersen und Miriam Gardiner auf der Anklagebank, der Verschwörung und des Mordes beschuldigt. Im Gerichtssaal drängten sich die Menschen. Das Scharren und Knarren von Stiefeln wurde immer wieder von Husten und gelegentlichem leisem Ächzen unterbrochen.

Als alle Formalitäten erledigt waren, man für Ruhe im Gerichtssaal gesorgt und die Anklage verlesen sowie die Plädoyers gehört hatte, eröffnete Robert Tobias als Vertreter der Krone die Verhandlung. Rathbone hatte ihm schon mehrere Male vor Gericht gegenübergestanden und genauso oft gegen ihn verloren wie gewonnen. Tobias war von durchschnittlicher Größe und in jungen Jahren ein schlanker Mann gewesen. Jetzt, mit sechzig, war er immer noch beweglich und hielt sich aufrecht. Man konnte ihn nicht unbedingt als gut aussehend bezeichnen, aber sein Verstand und die Kraft seiner sonoren Stimme hoben ihn aus der Menge heraus und weckten zugleich Bewunderung und Furcht. Mehr als eine Dame der Gesellschaft hatte mit ihm geflirtet und sich dann stärker zu ihm hingezogen gefühlt, als es ihre Absicht gewesen war, und wurde am Ende enttäuscht. Er war Witwer und hatte die feste Absicht, seine Freiheit nicht aufzugeben.

Er lächelte Rathbone zu und rief seinen ersten Zeugen auf, Sergeant Michael Robb.

Rathbone beobachtete Robb, während er die wenigen Stufen zum Zeugenstand hinaufging und sich dann dem Gericht zuwandte. Er wirkte sehr jung und sah nicht gerade glücklich aus.

Tobias ging bis zur Saalmitte, so dass er die Geschworenen auf der linken Seite hatte, den Zeugen vor sich und den Richter auf der rechten Seite, hoch oben auf seinem Stuhl.

»Sergeant Robb«, begann Tobias höflich, »dieser ganze Fall ist sehr betrüblich. Kein anständiger Mensch kann sich zwei Frauen vorstellen, vor allem wenn die eine jung und hübsch ist und man der anderen die Pflege kranker Menschen anvertraut hat…« Er deutete mit einer knappen Bewegung in Richtung Anklagebank, »… man möchte nicht glauben, dass solche Frauen fähig sind, sich zu verbünden und aus Habgier kaltblütig zu morden. Glücklicherweise ist es weder Ihre noch meine Aufgabe zu beurteilen, ob dies wirklich geschehen ist.« Er wandte sich mit einer eleganten Bewegung zu den Geschworenen um und machte eine kleine Verbeugung in ihre Richtung. »Es ist die schreckliche Pflicht dieser zwölf braven Männer dort, und wahrlich, ich beneide sie nicht. Gerechtigkeit ist eine schwere Bürde! Es braucht einen starken Mann, einen tapferen Mann, einen ehrlichen Mann, um sie zu tragen.«

Rathbone fühlte sich versucht, dieser Schmeichelei ein Ende zu bereiten, aber er wusste, dass Tobias genau das gern provoziert hätte. Er blieb sitzen und nickte ganz leicht, als sei er derselben Meinung.

Tobias wandte sich wieder an Robb. »Alles, was wir von Ihnen wissen wollen, ist ein simpler, exakter Bericht über die Fakten, die Ihnen bekannt sind. Können wir vielleicht mit der Entdeckung der Leiche von James Treadwell beginnen?«

Robb nahm Habtachtstellung an. Rathbone fragte sich, ob es für die Geschworenen genauso offensichtlich war wie für ihn, wie sehr Robb seine Aufgabe hasste.

Wie fällten Menschen ein Urteil? Nach ihrem Gefühl? Mit ihrem Verstand? Nach ihrer Erfahrung? Wie wurden Beweise interpretiert? Wie oft hatte er schon erlebt, dass Menschen aus der Beschreibung ein und desselben Ereignisses vollkommen unterschiedliche Schlussfolgerungen zogen.

Mit einer beinahe schuljungenhaften Schlichtheit begann Robb zu berichten, wie er nach Hampstead gerufen worden war, um sich die Leiche eines Mannes anzusehen, der aller Wahrscheinlichkeit nach durch einen Schlag auf den Kopf zu Tods gekommen war.

»Sie sind also sofort zu dem Schluss gekommen, dass er das Opfer eines Mordes war?«, fragte Tobias mit offensichtlicher Befriedigung. Er vermied es, Rathbone anzusehen, als rechne er damit, von ihm unterbrochen zu werden. Er deutete Rathbones Schweigen als ein Zeichen dafür, dass diesem klar war, den Fall nicht gewinnen zu können.

Robb holte tief Luft. »Nach den Spuren auf seiner Kleidung zu schließen, Sir, glaubte ich nicht, dass er aus einer Kutsche oder einem Wagen gefallen war oder dass jemand ihn überfahren hatte, der ihn in der Dunkelheit vielleicht nicht bemerkte.«

»Wie scharfsinnig von Ihnen. Sie haben also von Anfang an begriffen, dass Sie es mit einer höchst ernsten Angelegenheit zu tun hatten?«

»Der Tod ist immer ernst«, antwortete Robb.

»Natürlich. Aber Mord hat noch eine zusätzliche Dimension. Er ist etwas Geheimnisvolles, Düsteres und Schreckliches, eine Verletzung unserer moralischen Ordnung! Ein Unfall ist immer tragisch, aber er ist ein Missgeschick. Mord ist etwas Böses!«

Robbs Gesicht war rot angelaufen. »Bei allem Respekt, Sir, ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie und ich seien nicht hier, um zu urteilen, sondern um die Fakten darzulegen. Wenn Sie nichts dagegen haben, Sir, würde ich es vorziehen, dabei zubleiben.«

Ein Raunen ging durch den Saal.

Rathbone gestattete sich ein Lächeln. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er es sich nicht verkneifen können.

Tobias bewahrte die Fassung, aber es kostete ihn sichtlich Anstrengung. Rathbone konnte es an der steifen Haltung der Schultern sehen, daran, wie der Stoff seiner teuren Robe sich über seinen Rücken spannte.

»Ich gebe Ihnen selbstverständlich Recht«, räumte er ein.

»Lassen Sie uns bei den nackten Tatsachen bleiben. Wenn Sie so freundlich sein möchten, uns den Mann zu beschreiben, den Sie gefunden haben? War er jung oder alt? Bei guter oder schlechter Gesundheit? Gestatten Sie uns, ihn mit Ihren Augen zu sehen, Sergeant Robb. Lassen Sie uns empfinden, was Sie empfunden haben, als Sie auf dem Pflaster standen und auf diesen Mann hinabblickten, der noch kurze Zeit zuvor lebendig war, voller Hoffnungen und Träume.« Er breitete einladend die Arme aus. »Nehmen Sie uns mit!«

Robb starrte ihn düster an. Nicht ein einziges Mal wandte er den Blick den beiden Frauen zu, die blass und reglos auf der Anklagebank saßen. Ebenso wenig sah er an Tobias und Rathbone vorbei ins Publikum, um nach anderen ihm vertrauten Gesichtern Ausschau zu halten: Monk, Hester oder Callandra Daviot. »Er war ein ganz gewöhnlicher Mann, im Liegen ließ sich seine Größe schlecht bestimmen. Er hatte glattes Haar und kräftige Hände, die schwielig waren, als hätte er ziemlich oft Zügel gehalten…«

»Irgendwelche Anzeichen für einen Kampf?«, unterbrach Tobias ihn. »Prellungen oder Schnitte, als habe er versucht, sich zu wehren?«

»Ich habe nichts dergleichen gesehen. Nur Kratzer auf seinen Händen, die daher rührten, dass er ein ganzes Stück gekrochen war.«

»Ich werde natürlich auch noch den Arzt befragen, aber trotzdem vielen Dank für Ihren Bericht. Wo genau wurde dieser Mann gefunden, Sergeant?«

»Auf dem Gehweg zwischen Nummer fünf und Nummer sechs auf Green Man Hill in der Nähe von Hampstead Heath.«

»Und in welche Richtung wies sein Gesicht?«

»Nach Nummer fünf.«

»Und ist das der Ort, an dem er getötet wurde?«

»Ich glaube nicht. Es sah aus, als sei er ein ganzes Stück weit gekrochen. Seine Hosenbeine waren an den Knien zerrissen und schmutzig, ebenso seine Ellbogen.«

»Wie weit ist er gekrochen? Können Sie das sagen?«

»Nein. Mindestens vierzig oder fünfzig Meter, vielleicht mehr.«

»Verstehe. Was haben Sie als Nächstes getan, Sergeant?« Frage für Frage entlockte Tobias Robb den Bericht, wie er Kutsche und Pferde gefunden hatte und zu dem Schluss gekommen war, sie müssten mit dem Toten in Zusammenhang stehen. Dann wie Monk bei ihm aufgetaucht war und nach einem Mann gesucht hatte, auf den die Beschreibung des Toten passte.

»Wie überaus interessant!«, sagte Tobias triumphierend.

»Vermutlich haben Sie diesen Mr. Monk ins Leichenschauhaus gebracht, damit er sich Ihre Leiche ansieht?«

»Ja, Sir.«

»Und hat er ihn identifiziert?«

»Nein, Sir. Er konnte es nicht. Aber er holte zwei Herren aus Bayswater, die den Mann als ihren Kutscher James Treadwell erkannten.«

»Und die Namen dieser Herren?«

»Major Harry Stourbridge und sein Sohn, Mr. Lucius Stourbridge.«

Ein leichtes Rascheln war zu hören, als die Zuschauer im Saal die Hälse reckten, um ja nichts zu versäumen. »Derselbe Lucius Stourbridge, der der Sohn von Mrs. Verona Stourbridge ist und mit Mrs. Miriam Gardiner verlobt war?«

Auf der Galerie gab es noch mehr Unruhe. Zwei Frauen reckten die Hälse, um zur Anklagebank hinüberzustarren.

»So ist es, Sir«, antwortete Robb.

»Und wann wurde Treadwell das letzte Mal lebend gesehen – und von wem?«

Widerstrebend berichtete Robb von Miriams Flucht vom Anwesen der Stourbridges und davon, dass Monk diese Tatsache zunächst verschwiegen hatte. Er erwähnte auch, dass Monk Miriam als Erster aufgespürt habe, noch bevor Robb selbst sie gefunden hatte. Rathbone konnte nichts tun, um ihn zu stoppen.

»Überaus interessant«, bemerkte Tobias. »Und hat Mrs. Gardiner Ihnen einen zufrieden stellenden Bericht über ihre Flucht aus Bayswater gegeben und einen Grund für dieses merkwürdige Verhalten genannt?«

»Nein, Sir.«

»Hat sie Ihnen gesagt, wer Treadwell getötet hat? Sie haben sie doch gewiss danach gefragt?«

»Das habe ich, und nein, sie hat mir keine Antwort gegeben, nur dass sie es nicht getan habe.«

»Und haben Sie ihr geglaubt?«

Rathbone erhob sich halb von seinem Platz. Der Richter sah zu ihm hinüber.

Tobias lächelte. »Vielleicht ließe sich diese Frage besser formulieren. Sergeant Robb, haben Sie in der Folge Mrs. Gardiner wegen des Mordes an James Treadwell festgenommen?«

»Ja, das habe ich.«

Tobias zog die Augenbrauen hoch. »Aber Sie haben keine Anklage gegen sie erhoben!«

Robbs Gesicht war angespannt. »Sie ist der Verschwörung angeklagt…«

»Dass eine so schreckliche Tragödie Sie traurig stimmt, gereicht Ihnen zur Ehre, Sergeant«, bemerkte Tobias, der ihn nicht aus den Augen ließ. »Aber Sie scheinen mir sehr zögerlich, als erfüllten Sie Ihre Pflicht nur widerwillig. Woran kann das liegen, Sergeant Robb?«

Rathbones Gedanken überschlugen sich. Sollte er Einspruch erheben? Er hatte beabsichtigt, Robbs hohe Meinung von Cleo und sein Wissen um ihre Motive dafür zu benutzen, mildernde Umstände geltend zu machen. Jetzt war ihm Tobias zuvorgekommen, und er konnte jetzt kaum Einspruch erheben und das gleiche Thema später selbst zur Sprache bringen.

Er konnte nichts tun, als still dazusitzen und zu versuchen, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen.

»Sergeant?«, hakte Tobias nach.

Robb reckte das Kinn ein wenig vor und erwiderte den Blick des anderen mit unterdrücktem Zorn. »Ich bin in der Tat zögerlich, Sir. Mrs. Anderson ist in unserer Gemeinde bekannt dafür, dass sie die Kranken besucht und ihnen hilft, vor allem jenen, die alt und arm sind. Ob bei Tag oder Nacht, sie war immer für sie da, und das neben ihrer Arbeit im Krankenhaus. Sie hätte ihre Patienten nicht besser versorgen können als ihre eigene Familie.«

»Aber Sie haben sie wegen Mordes verhaftet!«

Robb biss die Zähne zusammen. »Ich musste es tun. Wir haben Beweise dafür gefunden, dass Treadwell sie erpresst hat …«

Diesmal stand Rathbone doch auf. »Euer Ehren…«

»Ja, ja«, stimmte der Richter ihm ärgerlich zu. »Mr. Tobias, das müssten Sie doch eigentlich selbst wissen. Wenn Sie Beweise haben, präsentieren Sie sie dem Gericht auf geziemende Art und Weise.«

Tobias verbeugte sich und lächelte. Er hatte keinen Grund zur Sorge. Er drehte sich wieder zu Robb im Zeugenstand um.

»Beruht Ihre hohe Meinung von Mrs. Anderson einzig und allein auf Hörensagen, oder können Sie sich aus eigener Erfahrung für ihren guten Leumund verbürgen?«

»Ich weiß es aus persönlicher Erfahrung«, sagte Robb. »Sie ist regelmäßig zu meinem Großvater gekommen, der bei mir lebt.«

Tobias nickte bedächtig. Er schien seine Worte genau abzuwägen. Rathbone blickte zu den Geschworenen hinüber. Unter ihnen befand sich ein Mann in mittleren Jahren und mit ernstem Gesicht, der Tobias voller Verständnis beobachtete. Er drehte sich zu Robb um, und seine Züge verrieten unverhohlenes Mitleid.

Tobias fragte nicht, ob Cleo Medikamente mitgebracht habe oder nicht. Es war nicht notwendig, die Geschworenen hatten es auch so begriffen. Es würde ihnen nicht gefallen, wenn er den Sergeant in Verlegenheit brachte. Tobias war ein erstklassiger Menschenkenner.

Es gab nichts, was Rathbone hätte tun können.

Der Tag schritt voran, während Robb auf die Fragen von Tobias widerstrebend Antwort gab. Er erzählte, wie er von den verschwundenen Medikamenten erfahren hatte – teilweise, indem er Monk gefolgt war –, wie er Cleos eigene Armut entdeckt und so herausgefunden hatte, dass sie von Treadwell erpresst worden war. Dieser Umstand gab ihr ein Mordmotiv, das man nur zu gut verstehen konnte. Die Geschworenen saßen kopfschüttelnd und mit ernster Miene da, und in ihren Gesichtern lag ebenso viel Mitleid wie Tadel.

Das würde sich ändern, sobald Miriam ins Spiel kam, das wusste Rathbone. Aber auch hier konnte er nur tatenlos zusehen. Tobias hielt sich an die Regeln und er hatte sich seine Strategie perfekt zurechtgelegt.

Der zweite Tag war nicht viel besser. Robb beendete seine Aussage, und Rathbone erhielt die Gelegenheit, ihn zu verhören, aber es gab keine Fragen, die er ihm hätte stellen wollen. Wenn er aber schwieg, würde es so aussehen, als habe er den Fall bereits kampflos aufgegeben, als glaube er selbst nicht an die Unschuld seiner Mandantinnen, als habe er keine Hoffnung für sie. Und doch hatte Tobias Robb bereits über jeden Aspekt des Falls befragt, und es gab keinen Punkt, an dem Rathbone ansetzen konnte, um den Geschworenen einen anderen Eindruck zu vermitteln. Alles, was er gesagt hatte, stimmte. Hätte Rathbone den Sergeant die gleichen Dinge wiederholen lassen, wäre das nicht nur unnötig gewesen, die Fakten hätten sich auch in die Köpfe der Geschworenen eingeprägt. Er erhob sich.

»Vielen Dank, Euer Ehren, aber Mr. Tobias hat Sergeant Robb alles gefragt, was ich selbst von ihm wissen wollte. Es wäre unverzeihlich von mir, würde ich die Zeit des Gerichts verschwenden, indem ich den Sergeant das alles noch einmal wiederholen ließe.« Er nahm wieder Platz.

Tobias lächelte.

Der Richter nickte ihm bedauernd zu. Auch ihn schien der Fall zu bekümmern, und er machte den Eindruck, als hätte er viel lieber einen anderen an seiner Stelle gesehen, aber er würde dafür sorgen, dass man der Gerechtigkeit Genüge tat. Das war das Ziel, dem er sich verschrieben hatte.

Tobias rief den Pfarrer der Kirche in Hampstead auf, einen freundlichen Mann, der sich in dieser Umgebung sichtlich unwohl fühlte, der aber seine Aussage mit großer Überzeugung machte. Er kannte Cleo Anderson seit dreißig Jahren, und es fiel ihm sichtlich schwer zu glauben, dass sie ein Verbrechen begangen haben sollte. Er entschuldigte sich für seine Verwirrung. Andererseits war menschliche Schwäche sein Spezialgebiet.

Tobias sprach ihm sein Mitgefühl aus. »Und wie lange kennen Sie Miriam Gardiner?«, erkundigte er sich.

»Seit sie seinerzeit nach Hampstead kam«, antwortete der Pfarrer. Dann erzählte er, unter Tobias’ sanfter Leitung, die Geschichte von Miriams Auftauchen in Hampstead – ein etwa dreizehn Jahre altes Mädchen, das zutiefst verstört gewesen sei. Er berichtete weiter, dass Cleo sie bei sich aufgenommen und um sie gekümmert habe, während sie nach der Familie des Kindes suchte. Sie hatten jedoch niemanden finden können und so war Miriam bis zu ihrer Heirat mit Mr. Gardiner bei Cleo geblieben.

»Einen Augenblick!«, unterbrach ihn Tobias. »Könnten Sie uns bitte Mr. Gardiner beschreiben? Sein Alter, sein Aussehen, seine gesellschaftliche Stellung und finanzielle Situation.«

Der Pfarrer sah überrascht aus.

Rathbone hingegen war keineswegs verblüfft. Er wusste genau, was Tobias vorhatte – er wollte das Muster herausarbeiten, wie Cleo und Miriam einander in die Hände spielten.

Dieses Muster war sehr einfach: Miriam heiratete einen Mann mit einem gut gehenden Geschäft und teilte dann ihr Glück mit ihrer Gönnerin, die wie eine Mutter für sie geworden war. Er machte seine Sache gut, er zeichnete ein Bild der Frau und des Kindes, die in einfachsten Verhältnissen um ihre Existenz kämpften. Er beschrieb, wie nahe die beiden einander standen, sowie Miriams Glück, einen würdigen Ehemann gefunden zu haben, auch wenn dieser älter war als sie selbst, aber von sanftem Wesen und ihr offensichtlich von Herzen zugetan.

Es war keine Romanze, aber eine gute Ehe und gewiss alles, worauf ein Mädchen in Miriams Lage hatte hoffen dürfen. Eine Liebesheirat mit einem Mann ihres eigenen Alters und ihrer eigenen Schicht hätte ihr weder die finanzielle Sicherheit noch die gesellschaftliche Stellung gebracht.

Tobias brachte all diese Dinge geschickt und taktvoll zur Sprache. Wieder gab es nichts, worauf Rathbone einen Protest hätte stützen können.

Hatte Miriam auch in Bezug auf ihre neue Ehe ihr Glück mit Cleo Anderson geteilt?

»Selbstverständlich«, erwiderte der Pfarrer. »Welche liebende Tochter hätte das nicht getan?«

»Ganz recht«, pflichtete Tobias ihm bei und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen.

Als das Gericht sich am Abend vertagte, ging Rathbone sofort zu Miriam. Sie war allein in der Zelle und sah müde und erschöpft aus. Sie fragte ihn nicht, warum er nicht gesprochen habe, und ihr Schweigen machte es ihm umso schwerer. Er wusste nicht, ob sie irgendwelche Hoffnungen gehegt hatte oder wie viel von alledem sie überhaupt verstand. Er selbst war mit den Gepflogenheiten einer Gerichtsverhandlung vertraut, sodass er nur allzu leicht dem Irrtum erlag, anderen würde es ebenso ergehen. Er hätte sie gern im Ungewissen darüber gelassen, wie ernst ihre Situation war, aber Ehrlichkeit, seine Ehrlichkeit, war alles, was sie hatten.

»Mrs. Gardiner, Sie müssen mir die Wahrheit sagen. Ich habe heute geschwiegen, weil ich nichts gegen Tobias in der Hand hatte. Er weiß es, aber wenn ich offen gegen ihn antrete und verliere, dann werden die Geschworenen es ebenfalls wissen. Jetzt glauben sie, dass ich nur auf einen günstigen Zeitpunkt warte. Aber ich tappe nach wie vor im Dunkeln. Ich habe keine Ahnung, was Tobias wissen könnte, das ich nicht weiß. Oder was er vielleicht entdecken könnte – was noch schlimmer ist.«

Sie wandte sich halb von ihm ab. »Nichts. Es gibt nichts, was er entdecken könnte.«

»Er könnte herausfinden, wer James Treadwell getötet hat!«, sagte er scharf. Die Zeit für Rücksichtnahme war vorüber.

Jetzt drehte sie sich langsam zu ihm um. »Das bezweifle ich, Sir Oliver. Man würde es nicht glauben, selbst wenn ich es sagen würde. Aber das werde ich nicht tun. Vertrauen Sie mir, es würde mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken. Ich habe keine Beweise, und alle Beweise, die sie in Händen halten, sprechen, wie Sie bereits gesagt haben, gegen mich.«

In der Zelle war es stickig, aber er fröstelte.

»Es ist meine Aufgabe, die Geschworenen dazu zu bringen, Ihnen zu glauben.« Noch während er diese Worte aussprach, befürchtete er, dass sie ihm gar nicht mehr zuhörte. »Wollen Sie mir nicht wenigstens erlauben, es zu versuchen?« Er klang verzweifelt.

»Es tut mir Leid, dass Sie mir nicht glauben«, erwiderte sie leise. »Aber es ist wahr, dass eine solche Enthüllung mehr Schmerz verursachen als Gutes bewirken könnte. Akzeptieren Sie zumindest, dass ich lange und sehr gründlich darüber nachgedacht habe, bevor ich meine Entscheidung getroffen habe. Mir ist klar, dass man mich hängen wird. Ich mache mir keine Illusionen, dass irgendein Wunder mich retten würde. Und Sie haben mich weder belogen noch mir Sand in die Augen gestreut, um mir Mut zu machen. Dafür danke ich Ihnen.«

Ihre Dankbarkeit war wie eine Zurückweisung und erinnerte ihn daran, wie wenig er wirklich für sie getan hatte. Er würde nicht mehr sein als eine Galionsfigur, welche die Buchstaben des Gesetzes erfüllte, nach dem Angeklagte einen Verteidiger benötigten. Die Staatsanwaltschaft hätte Tobias gar nicht hinzuziehen brauchen, dachte Rathbone. Jeder Anfänger hätte diesen Fall übernehmen und ihn, Rathbone, in seine Schranken weisen können.

Er stellte fest, dass er zitterte und seine Hände zu Fäusten geballt waren. »Es sind nicht nur Sie, die hängen wird – auch Cleo Anderson wird dieses Schicksal ereilen!«

Ihre Stimme brach. »Ich weiß. Aber was soll ich tun?« Sie sah ihn an, und in ihren Augen standen Tränen. »Wenn Sie wollen, werde ich aussagen, dass ich bei dem Mord zugegen war und dass nicht sie es war, die Treadwell getötet hat. Aber wer würde mir glauben? Die Leute denken doch, wir seien Komplizen! Sie erwarten von mir, dass ich Cleo verteidige. Ich kann nicht beweisen, dass sie nicht dort war, und ich kann nicht beweisen, dass er sie nicht erpresst hat oder dass sie die Medikamente gestohlen hat. Sie hat es getan!«

Was sie sagte, war die Wahrheit.

»Jemand hat Treadwell ermordet.« Er wählte seine Worte mit Bedacht, um ihr absichtlich Schmerz zuzufügen, damit sie sich ihm endlich anvertraute.

»Wenn nicht Sie oder Cleo den Mord begangen haben, kommt meiner Meinung nach nur noch ein Mensch in Frage, für den Sie sterben würden, um ihn zu schützen: Lucius Stourbridge.«

Ihre Augen weiteten sich, und der letzte Rest von Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie war zu entsetzt, um zu antworten.

»Wenn Sie für ihn hängen wollen«, fuhr er fort, »dann ist das Ihre Sache – aber ist er wirklich auch Cleo Andersens Leben wert? Hat sie das verdient?«

Sie fuhr zu ihm herum, mit vor Zorn funkelnden Augen und verzerrten Gesichtszügen.

»Lucius hatte nichts damit zu tun! Ich versuche nicht, Treadwells Mörder zu schützen! Wenn ich ihn hängen sehen könnte, würde ich ihm das Seil eigenhändig um den Hals legen, die Falltür aufschnappen lassen und zusehen, wie er hinabstürzt!« Sie holte schluchzend Atem. »Ich kann nicht! Gott helfe mir – es gibt nichts – nichts, was ich tun kann! Und jetzt gehen Sie und lassen Sie mir meine Ruhe.«

Andere Fragen drängten an die Oberfläche seines Bewusstseins, aber vor Kummer und Verzweiflung fehlten ihm die Worte. Er wünschte sich so sehr, ihr helfen zu können, nicht um seines Rufs oder seiner Ehre willen, sondern lediglich um ihren Schmerz zu lindern, den er geradezu körperlich spüren konnte. Sie saß nicht weit von ihm entfernt und doch klaffte ein Abgrund zwischen ihnen. Er wusste nicht, wie er diesen Abgrund überbrücken sollte. Sie hätten sich ebenso gut auf verschiedenen Erdteilen befinden können.

Er verabschiedete sich und verließ das Polizeirevier, winkte eine Droschke heran und nannte dem Fahrer Monks Adresse in der Fitzroy Street. Er verschwendete kaum einen Gedanken darauf, wie sehr es ihm widerstrebte, das Haus zu betreten, in dem Hester mit Monk wohnte. Das schien in diesem Augenblick zweitrangig zu sein.

»Ich habe sie angefleht!«, sagte er, während er in dem Salon, in dem Monk seine Klienten empfing, auf und ab ging. Monk stand vor dem Kamin, in dem an diesem milden Abend kein Feuer brannte. Hester saß aufrecht auf der Kante des großen Lehnstuhls und sah ihn aufmerksam an. »Aber sie weiß, dass man sie hängen wird, und sie weigert sich trotzdem, mir zu sagen, wer Treadwell getötet hat!« Er machte eine weit ausholende Bewegung mit den Armen und schlug beinahe mit der Hand gegen die hohe Lehne des anderen Stuhls.

»Lucius Stourbridge«, sagte Monk unglücklich. »Er ist der Einzige, für den sie sich hängen lassen würde, abgesehen von Cleo.«

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Rathbone ihm.

»Ich habe das auch gedacht, aber sie hat es voller Zorn abgestritten – und ihr Zorn galt mir, nicht demjenigen, der Treadwell getötet hat. Sie sagte, sie würde ihn mit Freuden selbst hängen, wenn sie könnte, aber niemand würde ihr glauben, und sie würde mir nicht mehr darüber sagen.«

Monk sah ihn verwirrt an. Rathbone wollte nichts sehnlicher als eine Antwort, aber es war doch eine Befriedigung zu sehen, dass Monk sich ebenso wenig wie er einen Reim auf das Ganze machen konnte.

Beide Männer sahen zu Hester.

»Damit bleiben nur noch Harry Stourbridge oder Aiden Campbell«, sagte sie nachdenklich. »Es könnte sein, dass Treadwell Harry Stourbridge erpresst hat. Er hat mehrere Jahre im Haus gelebt. Er lenkte die Kutsche. Vielleicht hatte Major Stourbridge ein Geheimnis und zahlte dafür, damit es nicht ans Licht kam?«

»Was ist mit dem Bruder, Campbell?«, fragte Rathbone.

Monk schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Er lebt irgendwo in Wiltshire. Er ist nur zu der Verlobungsfeier hergekommen. Ich habe das nachgeprüft, und so weit die anderen Dienstboten wussten, hat er Treadwell kaum zu Gesicht bekommen. Er hatte seine eigene Kutsche samt Fahrer mitgebracht und niemand hat je gesehen, dass er während seines Aufenthalts dort auch nur in die Nähe des Stalls gekommen wäre. Und Treadwell war nie in seinem Leben in Wiltshire. Nach Aussage seiner Tante, der Köchin der Stourbridges, ist er nie über London hinausgekommen. Und was den Mord an Mrs. Stourbridge betrifft – die beiden Geschwister standen sich sehr nahe, in dem Punkt sind sich alle einig.«

»Selbst Geschwister, die ein gutes Verhältnis miteinander haben, streiten sich bisweilen«, warf Rathbone ein.

»Natürlich«, pflichtete Monk ihm bei. »Aber niemand wird seine Schwester umbringen, wenn sie die einzige Verbindung zu einem Vermögen wie dem der Stourbridges darstellt. Jetzt, da sie tot ist, hat er keinerlei Zugriff mehr darauf. Er steht weder Harry noch Lucius besonders nahe. Nun gut, sie haben ein freundschaftliches Verhältnis, aber sie werden gewiss nicht so großzügig sein, wie Verona es in der Vergangenheit war.«

Eine weitere Sackgasse.

Hester biss sich auf die Unterlippe. »Dann müssen wir herausfinden, ob es Major Stourbridge war.«

»Es würde Sinn machen«, gab Rathbone zu. Er schob die Hände in die Taschen und nahm sie sofort wieder heraus. Es war eine Angewohnheit, die man ihm schon als Kind abzugewöhnen versucht hatte. Er wandte sich zu Monk um.

»Ja«, pflichtete Monk ihm bei. »Ich hätte dieser Frage schon früher nachgehen sollen. Ich habe mir die Stourbridges im Grunde gar nicht so genau angesehen, keinen von ihnen.«

»Ich weiß nicht, was Sie in ein oder zwei Tagen herausfinden könnten«, erwiderte Rathbone kleinlaut. »Ich werde mit leeren Händen in die Verhandlung gehen! Ich habe keinen anderen Verdächtigen, den ich den Geschworenen präsentieren könnte, nur »einen oder mehrere Unbekannte«! Niemand wird mir das abkaufen, solange Cleo und Miriam überzeugende Motive haben und alles für ihre Schuld spricht.«

»Sie könnten tatsächlich schuldig sein«, rief Monk ihm ins Gedächtnis. »Oder zumindest eine von beiden, und eine andere, uns unbekannte Person, hat ihr bei der Ausübung der Verbrechen geholfen.«

»Aus dem Haus der Stourbridges?«, fragte Rathbone in sarkastischem Tonfall. »Dann muss es Miriam sein. Und warum, um Himmels willen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Monk wütend. »Aber es muss in der ganzen Geschichte einen wesentlichen Punkt geben, den wir nicht kennen. Wir sollten uns also beeilen, ihn herauszufinden!«

Hester sah von Monk zu Rathbone. »Wie lange können Sie die Verhandlung hinziehen, Oliver?«

»Wir müssen ihn bitten, sich irgendetwas einfallen zu lassen, solange wir noch im Dunkeln tappen«, sagte Monk verbittert.

»Ich beginne morgen in aller Frühe damit, aber ich weiß nicht einmal, wo ich suchen soll!«

»Wie kann ich helfen?«, fragte Hester, und ihre Frage richtete sich mehr an Rathbone als an Monk.

»Ich wünschte, ich wüsste es«, bekannte er. »Cleo bestreitet nicht, dass sie die Medikamente gestohlen hat. Dieses Geständnis können wir durch nichts abschwächen, abgesehen davon, dass wir ihnen zeigen, wofür sie die Medikamente benutzt hat. Die dafür nötigen Zeugen stehen bereit. Wir haben Dutzende von Männern und Frauen, die ihren tadellosen Lebenswandel und ihre Pflichttreue beschwören können, außer was den Medikamentendiebstahl im Krankenhaus betrifft. Aber das ist das Einzige, was Tobias braucht. Sie hat Treadwell Geld gegeben, damit er schweigt.«

Hester saß schweigend da, erfüllt von Kummer.

»Ich muss nach Hause«, sagte Rathbone schließlich.

»Vielleicht tun ein paar Stunden Schlaf meinem Geist ganz gut.« Er wünschte ihnen eine gute Nacht und machte sich auf den Weg, wobei ihm seine Einsamkeit deutlich bewusst wurde.

Tobias war sichtlich guter Laune, als er am nächsten Tag seinen ersten Zeugen aufrief, aber er gab sich große Mühe, es nicht zu übertreiben. Er wollte bei den Geschworenen nicht den Eindruck erwecken, bereits zu triumphieren.

Weder Hester noch Monk waren heute im Gerichtssaal, und auch Callandra Daviot hatte sich nicht eingefunden. Die Stourbridges mussten noch ihre Aussage machen und durften daher den Raum nicht betreten.

Tobias’ erster Zeuge war der Stallbursche der Stourbridges. Er gab sich große Mühe, seine Arbeit im Haushalt zu beschreiben und auf seinen bisher tadellosen Ruf hinzuweisen. Er bot Rathbone nicht den geringsten Angriffspunkt.

Rathbone war durchaus zufrieden mit dieser Darstellung. Er hatte ohnehin nichts dagegenzuhalten, und es verlangte ihn auch nicht danach, den jungen Mann anzuschwärzen. Außerdem hatte es den großen Vorteil – in der Tat den einzigen in diesem Augenblick –, dass es Zeit kostete.

Das Einzige, was die Aussage des Stallburschen ergab, war die Tatsache, dass Treadwell Miriam bei verschiedenen Gelegenheiten von Bayswater aus in ihr Haus nach Hampstead gefahren oder sie von dort abgeholt hatte. Er hatte auch ein oder zweimal Nachrichten oder Geschenke von Lucius für sie dorthin speditiert. Das war ganz zu Beginn seiner Werbung um Miriam gewesen. Später hatte Lucius diese Dinge dann persönlich überbracht. Zweifellos kannte Treadwell ihr Haus und auch die Gegend, in der er sich manchmal aufhielt.

Als Nächstes rief Tobias den Wirt eines Gasthauses in Hampstead auf, The William Fourth an der Ecke High Street und Church Lane. Der Mann schwor, dass Treadwell mehr als einmal bei ihm eingekehrt sei, einige Bier getrunken und Darts oder Domino gespielt habe, – er habe sich hier und da auch an Glücksspielen beteiligt und sich mit den Einheimischen unterhalten. Ja, er hatte tatsächlich eine Menge Fragen gestellt. Seinerzeit hatte der Gastwirt im Verhalten des Kutschers Sorge um seinen Arbeitgeber gesehen, der eine Frau aus dieser Gegend umwarb.

Der Gastwirt des Flask, auf der anderen Seite der High Street, sagte so ziemlich das Gleiche, ebenso wie zwei Bedienungen aus dem Blind Boy, das nur ein paar Häuser entfernt lag. Dort hatte Treadwell sich insbesondere nach Miriam Gardiner und Cleo Anderson erkundigt. Ja, er sei sehr großzügig mit seinem Geld umgegangen, wie jemand, der wusste, dass jederzeit mehr zu erwarten war.

»Was für Fragen waren das, die er stellte?«, hakte Tobias mit unschuldiger Miene nach.

»Er erkundigte sich ganz allgemein nach Mrs. Gardiners Ruf«, antwortete der Mann. »Ob sie ehrlich sei, ob sie auch nicht trinke, solche Dinge eben.«

»Und ob sie keusch sei, vielleicht?«, fragte Tobias.

»Ja – das auch.«

»Fanden Sie das nicht ungehörig von dem Kutscher?«

»Ja, schon. Als ich ihn dabei erwischte, habe ich ihm gesagt, dass er in ganz Hampstead keine bessere Frau finden könne als Mrs. Gardiner – viel zu schade für einen Kerl wie ihn, verdammt noch mal!« Er warf einen Seitenblick auf den Richter. »Bitte um Verzeihung, Euer Ehren.«

»Hat er erklärt, warum er diese Fragen stellte?«

»Er hat sich nachher nicht wieder blicken lassen«, sagte der Mann mit Genugtuung und bedachte die beiden Frauen auf der Anklagebank mit einem Lächeln. Miriam versuchte es zu erwidern, was aber kläglich misslang. Cleo nickte leicht mit dem Kopf, gerade so viel wie die Höflichkeit es verlangte. Es war eine kleine Geste, aber gut gemeint.

»Es würde sie freuen, Mrs. Gardiner neu verheiratet zu sehen, nachdem sie ihren ersten Ehemann so jung verloren hat?«, bemerkte Tobias beiläufig.

»Ich habe mich für sie gefreut, und das ist die Wahrheit. Genauso wie alle anderen sich gefreut haben, die sie kannten.«

»Waren Sie mit dem verstorbenen Mr. Gardiner gut bekannt?«

»Ich kannte ihn vom Sehen, mehr eigentlich nicht. Ein sehr anständiger Herr.«

»Aha. Aber doch beträchtlich älter als seine Frau – seine Witwe?«

Die Miene des Mannes verdüsterte sich. »Worauf wollen Sie hinaus?«

Tobias zuckte mit den Schultern. »Was versuchte James Treadwell zu sagen?«

»Nichts!« Der Mann war jetzt verärgert.

»Sie mochten ihn nicht?«, hakte Tobias nach.

»Ganz gewiss nicht!«

»Sie haben wohl nicht viel übrig für Erpresser?«

»Nein, hab ich nicht! Solche Leute sind Abschaum, nichts als Abschaum.«

Tobias nickte. »Ein Gefühl, das sicher viele Menschen mit Ihnen teilen.« Er blickte zur Anklagebank, dann wieder zum Zeugenstand.

Rathbone wusste genau, was er vorhatte, aber er konnte nichts dagegen tun.

»Natürlich«, lächelte Tobias entschuldigend. »Treadwell könnte sich durchaus aus Loyalität und im Interesse seines Arbeitgebers, Mr. Stourbridge, nach Mrs. Gardiner erkundigt haben, um zu verhindern, dass er eine für ihn unvorteilhafte Ehe einging! Ist Ihnen diese Möglichkeit schon einmal in den Sinn gekommen? Es wäre durchaus denkbar, dass die Fragen gar nicht auf Erpressung zielten!«

Nun stand Rathbone doch auf. »Euer Ehren, der Zeuge ist nicht in der Lage einzuschätzen, warum Treadwell seine Fragen stellte, und seine Meinung ist irrelevant. Es sei denn, Mr. Tobias möchte andeuten, dass der Zeuge irgendwie an der Ermordung Treadwells beteiligt war.«

Sofort ging ein Raunen durch den Gerichtssaal, und einer der Geschworenen hob jäh den Kopf.

»Ganz recht«, pflichtete der Richter Rathbone bei, »Mr. Tobias, weichen Sie nicht so weit vom Thema ab. Ich bin sicher, es ist bereits klar geworden, was Sie sagen wollten, James Treadwell hat sich in der Nachbarschaft nach Mrs. Gardiners Charakter und ihrem Ruf erkundigt. Ist das alles, was Sie uns wissen lassen wollen?«

»Für den Augenblick ja, Euer Ehren.« Tobias bedankte sich bei seinem Zeugen und drehte sich mit einer einladenden Geste zu Rathbone um.

Wieder gab es nichts, was er fragen konnte. Der Zeuge hatte bereits klargemacht, dass er Miriam bewunderte und auf ihrer Seite stand. So weit es ihn betraf, hatte Treadwell sein Schicksal verdient. Es würde weder Miriam noch Cleo helfen, wenn er diese seine Meinung ein zweites Mal bekundete.

»Ich habe keine Fragen an den Zeugen«, erwiderte er.

Tobias rief nun die Dienstboten der Stourbridges auf und ließ sie über den Tag des Gartenfestes berichten und über Miriams noch immer unaufgeklärten Aufbruch mit Treadwell. Das Stubenmädchen hatte alles beobachtet und erstattete mit einfachen Worten und bekümmerter Miene Bericht.

Nun endlich hatte Rathbone Fragen zu stellen.

»Miss Pembroke«, sagte er mit einem kleinen Lächeln, während er in die Mitte des Saals trat und seinen Blick auf sie richtete. »Sie haben uns sehr deutlich geschildert, was Sie gesehen haben. Sie müssen einen guten Blick auf Mrs. Gardiner gehabt haben, da Ihnen niemand die Sicht versperrte.«

»Ja, Sir, das stimmt.«

»Sie sagten, sie habe den Eindruck erweckt, als werde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen, als habe sie einen gewaltigen Schock erlitten. Dann hat sie sich, Ihrem Bericht zufolge, wieder gefasst, hat sich umgedreht und ist vom Garten zu den Ställen gelaufen, vielleicht sogar geflohen. Ist das korrekt?«

»Ja, Sir.«

Der Richter runzelte die Stirn.

Rathbone sprach rasch weiter, bevor der Richter ihn ermahnen konnte, zur Sache zu kommen.

»Hat irgendjemand sie angesprochen oder ihr etwas gegeben?«

»Sie meinen ein Glas, Sir? Ich habe niemanden gesehen.«

»Nein, ich meinte eher etwas wie eine Nachricht, etwas, das ihr Erschrecken erklären würde, ihr Entsetzen, so wie Sie es beschreiben.«

»Nein, Sir, so nah ist ihr überhaupt niemand gekommen. Und ich glaube nicht, dass sie ein Glas in der Hand hielt.«

»Was das Glas betrifft, sind Sie sich nicht ganz sicher, aber Sie können mit Gewissheit sagen, dass niemand Mrs. Gardiner angesprochen oder ihr etwas gereicht hat?«

»Ja, das weiß ich genau.«

»Haben Sie eine Ahnung, was Mrs. Gardiner bewogen haben könnte wegzulaufen?«

Tobias stand auf.

»Nein«, beschied ihn der Richter schroff. »Miss Pembroke ist eine aufmerksame junge Dame. Es könnte durchaus sein, dass sie weiß, was geschehen ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Dienstboten häufig sehr viel mehr wissen als wir glauben.« Er wandte sich dem Zeugenstand zu. »Wissen Sie, was Mrs. Gardiners Flucht ausgelöst hat, Miss Pembroke? Wenn ja, ist dies der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort, um es zu sagen, sei es vertraulich oder nicht.«

»Nein, Sir, ich weiß es nicht, und das ist die Wahrheit. Aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der so erschrocken aussah wie Mrs. Gardiner an jenem Tag. Als hätte sie einen Geist gesehen, jawohl.«

»Wissen Sie, wo Treadwell sich während des Gartenfestes aufhielt?«, fragte Rathbone.

»In den Ställen, Sir, so wie immer.«

»Dann ist also Mrs. Gardiner zu ihm gelaufen – er ist nicht zu ihr gekommen?«

»So muss es gewesen sein.«

»Danke. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie.«

»Aber ich!«, warf Tobias rasch ein und ging dann mit langen Schritten auf den Zeugenstand zu. »Sie haben sich in Ihrer Eigenschaft als Stubenmädchen auf der Wiese unter die Gäste gemischt, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Ich trug ein Tablett mit Limonade. Parkin hatte den Champagner.«

»Ist es leicht, ein Tablett voller Gläser zu tragen?«

»Es geht schon, wenn man dran gewöhnt ist. Wird mit der Zeit ein bisschen schwer.«

»Und Sie haben die Gäste bedient, deren Gläser leer waren?«

»Ja, Sir.«

»Dann haben Sie also Mrs. Gardiner nicht die ganze Zeit beobachtet?«

»Nein, Sir.«

»Natürlich. Wäre es möglich, dass sie eine Nachricht bekommen hat, entweder schriftlich oder mündlich, ohne dass Sie es bemerkten?«

»Ja, wahrscheinlich schon.«

»Ist es denkbar, Miss Pembroke, dass dies die beste Gelegenheit für Mrs. Gardiner war, Treadwell allein anzutreffen, ohne dass andere Verpflichtungen ihn davon abgehalten hätten, sie nach Hause zu fahren? Ist es denkbar, Miss Pembroke, dass sie über ausreichende Kenntnis des Haushalts verfügte, um zu wissen, dass sie Treadwell in den Ställen vorfinden würde? Wo auch die Kutschen bereitstanden? Ist es denkbar, dass sie im Voraus geplant hatte, ihn dort zu treffen und an einen einsamen Ort zu fahren, wo sie glaubte, sie könnte mit dem Kutscher unbeobachtet tun, was ihnen beiden gefiel, und wo sie beabsichtigte, sich mit Hilfe ihrer Ziehmutter ein und für alle Mal des Mannes zu entledigen, der sie beide erpresste?«

Rathbone sprang auf, aber der Protest erstarb auf seinen Lippen.

Tobias zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur gefragt, ob es möglich wäre!«, wandte er beschwichtigend ein. »Miss Pembroke ist eine aufmerksame junge Dame. Sie könnte etwas wissen!«

»Ich weiß nichts!«, protestierte sie. »Ich weiß nicht, was geschehen ist, ich schwöre es!«

»Ihre Geschwätzigkeit scheint Verwirrung hervorgerufen zu haben«, bemerkte der Richter in schneidendem Tonfall zu Tobias. Dann drehte er sich zu den Geschworenen um. »Sie werden zur Kenntnis nehmen, dass die Frage unbeantwortet geblieben ist, und Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Sir Oliver, haben Sie noch etwas hinzuzufügen?«

Rathbone verneinte, aber Tobias war nicht aufzuhalten. Seine volle Stimme schien den Gerichtssaal auszufüllen, und es gab kaum jemanden dort, der nicht seinen Blick auf ihn gerichtet hätte. Er rief die Zofe auf, die Miriam in Verona Stourbridges Zimmer entdeckt und gesehen hatte, wie Miriam den Schmuck anprobierte und allem Anschein nach das Tagebuch las.

»Wissen Sie, was in dem Tagebuch stand?«, fragte Tobias.

Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Entsetzen. »Nein, Sir, das weiß ich nicht!« Ihr Tonfall verriet Groll darüber, dass Tobias etwas Derartiges auch nur andeuten konnte.

»Selbstverständlich nicht«, stimmte er ihr zu. »Niemand liest die privaten Aufzeichnungen anderer Menschen. Ich dachte nur, dass Mrs. Stourbridge sich Ihnen vielleicht anvertraut hätte. Manche Damen sind ihren Zofen außerordentlich zugetan.«

Die Zeugin zeigte sich beschwichtigt. »Nun… nun, ich weiß, dass sie ihre Gefühle darin niedergeschrieben hat. Sie hat häufig die Tagebücher aus vergangenen Jahren gelesen, aus der Zeit, als sie in Ägypten war. Das hat sie auch an dem Tag getan, bevor sie… bevor sie starb… die arme Dame.« Es sah so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und Tobias ließ ihr einen Moment Zeit, um sich wieder zu beruhigen, bevor er die Befragung fortsetzte – und den Geschworenen auf diese Weise die Möglichkeit gab, die volle Bedeutung dessen, was gesagt worden war, zu erfassen.

Dann ließ er die Zofe ein Bild von Miriam als einer sanften, charmanten und freundlichen Frau zeichnen, die versuchte, sich in eine neue Familie einzufügen. Eine Familie, die gesellschaftlich weit über ihr stand und über erheblich mehr Geld verfügte. Es war ein zu Herzen gehendes Porträt, bis Tobias sich an die Geschworenen wandte.

»Eine reizende Frau, die bemüht war, ihre Lebensumstände zu verbessern?«, sagte er mit einem Lächeln. »Um des Mannes willen, den sie liebt – und den sie zufällig auf einem Spaziergang in der Heide von Hampstead kennen gelernt hat.« Seine Miene verdüsterte sich. »Oder eine gerissene, habgierige Frau mit einem hübschen Gesicht, die einen jüngeren Mann, einen unerfahrenen Mann in die Falle lockt. Eine Frau, die ihr Temperament zügelt und sich zurückhält, um ihn mit ihrer Liebenswürdigkeit zu einer Ehe zu verleiten, die ihr und ihrer Ziehmutter ein Leben in Wohlstand ermöglichen würde, wie sie es innerhalb ihrer eigenen Gesellschaftsschicht niemals hätte erwarten dürfen?«

Er sprach hastig weiter, um Rathbone keine Gelegenheit zu geben, Einspruch zu erheben. »Eine unschuldige Frau, die in ein Netz von schrecklichen Zufällen verstrickt wird? Oder eine Intrigantin, die auf einen nicht minder kaltblütigen und habgierigen Kutscher traf, der seine Chance witterte, aus ihrem zukünftigen Glück Profit zu ziehen, der aber fatalerweise ihre Skrupellosigkeit unterschätzt hat – und daher nicht für sein Schweigen über ihre Vergangenheit bezahlt wurde. Vielleicht war er sogar der Vermittler, der Mr. Stourbridge und Miriam Gardiner zusammengebracht hat – vielleicht war es gar kein Zufall? Und er musste deshalb eines gewaltsamen Todes sterben.«

Rathbone erhob die Stimme und fiel Tobias schneidend und ohne sich zuvor an den Richter zu wenden ins Wort.

»Treadwell scheint tatsächlich ein Schurke gewesen zu sein, aber weder Sie noch ich haben Beweise dafür, dass er auch ein Narr war! Warum in Gottes Namen sollte er damit drohen, Miriam Gardiners Vergangenheit zu enthüllen – in der übrigens weder Sie noch ich einen Makel entdecken konnten –, bevor sie in die Familie Stourbridge einheiratete?« Er breitete die Hände aus. »Sie besaß kein Geld, um ihn zu bezahlen! Da hätte er doch sicher bis nach der Hochzeit gewartet – und alles in seiner Macht Stehende getan, damit diese Hochzeit wie geplant stattfinden konnte?« Dann wurde sein Tonfall sarkastisch.

»Wenn er, wie Sie andeuten, geholfen hat, die Begegnung zwischen Mr. Stourbridge und Mrs. Gardiner einzufädeln, dann scheint es doch höchst unglaubwürdig, dass er seine eigene Arbeit sabotieren sollte, gerade als sie die ersten Früchte trug.«

Sein Argument war stichhaltig, aber es hatte nicht das gleiche emotionale Gewicht wie Tobias’ Anklage. Der Schaden war nicht wieder gutzumachen. In den Köpfen der Geschworenen hatte sich das Bild einer ränkeschmiedenden, verlogenen und treulosen Frau eingenistet, die von ihrem ehemaligen Liebhaber in eine Lage gebracht wurde, aus der sie sich nur noch durch einen Mord befreien konnte.

»War es Zufall oder war es Treadwells Versuch, noch im Sterben auf seinen Mörder hinzuweisen, als er mit letzter Kraft auf Cleo Andersens Haus zukroch?«, fragte Tobias mit dröhnender Stimme, in der Empörung und Mitleid für das Opfer mitschwangen. »Meine Herren, ich überlasse diese Entscheidung Ihnen!«

Das Gericht vertagte sich, aber Miriam und Cleo waren bereits so gut wie verurteilt.

Rathbone ging in seiner Wohnung auf und ab und widerstand nur mit Mühe der Versuchung, zu Monk zu fahren und festzustellen, ob dieser mit seinen Ermittlungen Fortschritte gemacht hatte. Wie oft hatten sie es nicht in der Vergangenheit gemeinsam mit Fällen zu tun gehabt, die hoffnungslos schienen. Er konnte sie in Gedanken alle auflisten. Aber in diesem einen Fall hatte er absolut nichts in der Hand, und er wusste nicht einmal, was er selbst glauben sollte. Es fiel ihm immer noch schwer, eine der Frauen, sei es nun Cleo oder Miriam, für schuldig zu halten, geschweige denn beide. Aber wer sonst konnte die Morde begangen haben – außer vielleicht Lucius oder Harry Stourbridge. Alles hing davon ab, dass Monk etwas herausfand. Wenn er nur wüsste, wo er beginnen sollte. So könnte er vielleicht die Verhandlung zwei oder drei Tage hinausziehen.

Er verbrachte den Abend damit, sich Strategien auszudenken, die Monk mehr Zeit verschaffen würden. Er dachte über jeden einzelnen Kniff, jede mögliche juristische Finesse nach. Nicht eine einzige Idee versprach Aussicht auf Erfolg.

Tobias rief als seinen ersten Zeugen des Vormittags Harry Stourbridge auf. Er behandelte ihn mit großem Respekt und Mitgefühl.

Viele Plätze blieben an diesem Tag im Gerichtssaal leer! Die Öffentlichkeit hatte das Interesse an dem Fall verloren. Die Menschen glaubten die Antwort zu kennen: eine hübsche Frau, die ihrem Glück auf unlautere Art und Weise auf die Sprünge helfen wollte. Das Ganze war nicht länger skandalös, sondern einfach nur noch schäbig. Es war ein Tag im späten Sommer, die Sonne schien und man hatte Besseres zu tun, als in einem stickigen Saal zu sitzen und sich Dinge anzuhören, die man zur Genüge kannte.

Harry Stourbridge sah um zehn Jahre gealtert aus. Er war ein Mann, der einen Albtraum durchmachte, dessen Ende für ihn nicht absehbar war.

»Es tut mir Leid, dass ich Sie dem hier aussetzen muss«, sagte Tobias sanft. »Ich werde es so kurz wie möglich machen, und ich bin überzeugt, dass Sir Oliver es genauso halten wird. Bitte, lassen Sie sich bei Ihren Antworten nicht von Loyalität oder Mitgefühl leiten. Zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort kann uns nur die Wahrheit weiterhelfen.«

Stourbridge schwieg. Er stand da wie ein Offizier vor dem Kriegsgericht, in steifer Habtachtstellung, den Blick starr nach vorn gerichtet, den Kopf hoch erhoben.

»Wir haben bereits genug über die Krocketparty gehört, von der Mrs. Gardiner geflohen ist. Ich will Ihnen die Mühe ersparen, all das zu wiederholen. Stattdessen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf den tragischen Tod von Mrs. Stourbridge lenken. Ich muss Ihnen Fragen stellen, was die Beziehung zwischen Ihrer Gattin und Mrs. Gardiner betrifft. Glauben Sie mir, ich würde es nicht tun, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe.«

Noch immer sagte Stourbridge kein Wort.

Dieser Umstand schien Tobias ein wenig aus dem Konzept zu bringen. Rathbone sah, wie er von einem Fuß auf den anderen trat und an seinem Jackett herumzupfte.

»Welche Meinung hatte Mrs. Stourbridge von Mrs. Gardiner, als Ihr Sohn sie das erste Mal zum Cleveland Square brachte?«

»Sie hielt sie für eine sehr angenehme junge Frau.«

»Und als Ihr Sohn sie über seine Absicht in Kenntnis setzte, sie heiraten zu wollen?«

»Wir waren beide glücklich, dass er eine Frau gefunden hatte, die er liebte und von der er glaubte, dass sie seine Gefühle aus vollem Herzen erwidere.«

Tobias schürzte die Lippen. »Sie waren nicht bekümmert über die Tatsache, dass sie beträchtlich älter war als er selbst und aus einer anderen Gesellschaftsschicht stammte? Was haben Sie gedacht, wie Ihre Freunde die junge Frau aufnehmen würden?

Wie würde sie es später, wenn es einmal so weit war, bewältigen, Herrin Ihrer beträchtlichen Besitztümer in Yorkshire zu werden? Hat Ihre Gattin nicht über diese Probleme gesprochen?«

»Selbstverständlich«, gab Stourbridge zu. »Aber als wir Mrs. Gardiner dann näher kannten, waren wir davon überzeugt, dass sie ihre Sache sehr gut machen würde. Sie verfügt über eine natürliche Anmut, die ihr in schwierigen Situationen helfen dürfte. Und sie und Lucius – die beiden liebten einander so offenkundig, dass uns das sehr glücklich machte.«

»Und dann die Frage von Enkelkindern, von einem Erben für das Haus und die Ländereien, die Erbgüter mit festgelegter Erbfolge sind, wenn ich mich nicht irre. Ohne einen Erben würden sie an eine Seitenlinie fallen, an Ihren Bruder und an dessen Erben, ist das richtig?«

»Ja, so ist es.« Er holte tief Luft, die Arme noch immer steif an den Seiten, als nehme er an einer Parade teil. »Keine Ehe ist davor gefeit, ohne einen Erben zu bleiben. Man kann nur hoffen. Ich halte es nicht für klug, meinem Sohn bei der Wahl seiner Ehefrau Vorschriften zu machen. Mir ist es wichtiger, dass er glücklich wird, als ein Dutzend Kinder mit einer Frau in die Welt zu setzen, die er nicht liebt.«

»Und empfand Mrs. Stourbridge das genauso?«, fragte Tobias weiter. »Viele Frauen wünschen sich sehnlichst Enkelkinder. Es ist ein großes Bedürfnis…« Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen, damit die Geschworenen ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen konnten.

»Ich glaube nicht, dass meine Frau so dachte«, antwortete Stourbridge unglücklich. Rathbone gewann den Eindruck, dass hinter seinen Worten vieles ungesagt blieb, aber er war ein sehr zurückhaltender Mensch, dem es zutiefst widerstrebte, sein Leben vor anderen auszubreiten. Er würde nichts mehr hinzufügen, wenn man ihn nicht dazu zwang.

Tobias fragte ihn nach Miriams Besuchen am Cleveland Square und wie sie sich verhalten hatte. Es war allen Anwesenden klar, dass Harry Stourbridge Miriam ohne jede Einschränkung zugetan war. Ihr Verrat erschütterte ihn, er schien es noch immer nicht zu begreifen.

Während Stourbridges Aussage warf Rathbone hin und wieder einen Blick zur Anklagebank hinauf und sah den Schmerz in Miriams Gesicht. Es musste ihr wie eine Folter erscheinen, still dazusitzen und alles schweigend über sich ergehen zu lassen.

Nicht ein einziges Mal bemerkte er jedoch, dass einer der Geschworenen Miriam oder Cleo ansah. Sie waren ganz gefangen von Stourbridges Leid. Rathbone konnte in ihren Mienen sowohl Mitleid als auch Respekt lesen. Ein paar Mal hatte er den Eindruck, als identifiziere sich einer der Männer mit Stourbridge, als versetzte er sich an dessen Stelle – und hätte ganz genauso gehandelt wie dieser, genauso empfunden. Rathbone fragte sich flüchtig, ob sich einige der Geschworenen vielleicht selbst in einer ähnlichen Lage wie Stourbridge befanden. Er konnte die Geschworenen nicht auswählen. Sie mussten Grundbesitzer mit einem gewissen Wohlstand und gesellschaftlichem Ansehen sein und natürlich männlichen Geschlechts. Es war nicht möglich, Personen als Geschworene zu verpflichten, die sich mit Miriam oder Cleo identifizieren würden. So viel zu dem Thema, dass die Geschworenen aus den gleichen Kreisen stammen sollten wie der Angeklagte.

Am Nachmittag lehnte Tobias ab, Lucius Stourbridge in den Zeugenstand zu rufen. Es war eine Tortur, die er einem jungen Mann, der bereits auf unerträgliche Weise gelitten hatte, ersparen wollte.

Die Geschworenen nickten respektvoll. Sie hätten es Tobias nicht verziehen, wenn er anders gehandelt hätte. Und auch Rathbone stimmte dem zu.

Tobias rief den letzten Zeugen auf, Aiden Campbell. Er machte seine Aussage ruhig, zurückhaltend und freimütig.

»Ja, sie besaß großen Charme«, sagte er traurig. »Ich glaube, alle im Haus mochten sie.«

»Einschließlich Ihrer Schwester, Mrs. Stourbridge?« Die Frage blieb unbeantwortet.

Campbell sah sehr bleich aus, und unter den Augen hatte er dunkle Ringe. Er stand sehr aufrecht im Zeugenstand, zitterte aber ganz leicht, und ab und zu musste er innehalten, um sich zu räuspern. Es war für alle Anwesenden im Gerichtssaal offensichtlich, dass der Mann von tiefen Gefühlen bewegt wurde und nahe daran war, die Fassung zu verlieren.

Tobias entschuldigte sich ein ums andere Mal, dass er ihn zwingen musste, Dinge noch einmal zu durchleben, die wahrhaft schrecklich für ihn gewesen sein mussten.

»Ich verstehe«, sagte Campbell und biss sich auf die Unterlippe. »Die Gerechtigkeit verlangt von uns, dass wir diesen Weg bis an sein bitteres Ende gehen müssen. Ich baue darauf, dass Sie das so zügig wie möglich tun werden.«

»Selbstverständlich«, pflichtete Tobias ihm bei. »Können wir uns jetzt den Tagen unmittelbar vor dem Tod Ihrer Schwester zuwenden?«

Campbell schilderte ihnen mit dürren Worten und ohne die Stimme zu erheben von Miriams letztem Besuch am Cleveland Square nach ihrer Entlassung aus dem Polizeigewahrsam, nachdem man die Anklage wegen des Mordes an Treadwell zurückgezogen hatte. Campbell zufolge befand Miriam sich in einem Zustand solch tiefer Verstörung, dass sie kaum noch ihr Zimmer verließ, und wenn doch, so habe sie sich wie in Trance bewegt. Sie sei höflich gewesen, mehr nicht, sei Lucius aus dem Weg gegangen und habe ihm nicht einmal erlaubt, sie in ihrem Kummer Cleo Andersons wegen zu trösten.

»Hing sie sehr an Mrs. Anderson?«, fragte Tobias.

»Ja.« Campbeils Gesicht verriet keine Regung. »Das ist nur natürlich. Sie lebte schließlich seit ihrem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr bei Mrs. Anderson. Sie hätte ein höchst undankbares Geschöpf sein müssen, wäre sie dieser Frau nicht von Herzen zugetan. Wir haben ihre Gefühle in dieser Hinsicht selbstverständlich respektiert.«

»Selbstverständlich«, antwortete Tobias nickend. »Bitte, fahren Sie fort.«

Widerstrebend sprach Campbell weiter. Er berichtete von dem Dinner an jenem Abend, von der Konversation bei Tisch, bei der es um Ägypten gegangen war, und kam schließlich darauf zu sprechen, dass sie nach dem Essen alle ihren eigenen Beschäftigungen nachgegangen waren.

»Und Mrs. Gardiner hat nicht mit Ihnen gespeist?«

»Nein.«

»Sagen Sie uns, Mr. Campbell, hat sich Ihre Schwester in irgendeiner Form darüber geäußert – entweder an jenem Abend oder zu einem früheren Zeitpunkt –, wie sie zu dem Mord an Treadwell stand und zu der Anschuldigung Mrs. Gardiner gegenüber?«

Rathbone erhob sich, um zu protestieren, aber er hatte keine juristische Handhabe, ja im Grunde nicht einmal eine moralische. Er musste sich schweigend wieder setzen.

Campbell schüttelte den Kopf. »Wenn Sie fragen, ob ich weiß, was geschehen ist oder warum, nein, ich weiß es nicht. Verona machte sich wegen irgendetwas große Sorgen. Sie war gewiss nicht sie selbst. Das kann Ihnen jeder der Dienstboten bestätigen.«

Tatsächlich hatten die Dienstboten durchweg Ähnliches gesagt, obwohl Campbell zu der Zeit natürlich nicht im Gericht anwesend war, da er selbst seine Aussage noch nicht gemacht hatte.

»Ich glaube, sie hatte etwas herausgefunden…« Seine Stimme klang belegt, und seine Gefühle schienen ihn zu überwältigen. »Ich persönlich bin der Auffassung, obwohl ich es durch nichts beweisen kann, dass sie vor ihrem Tod herausfand, wer Treadwell getötet hatte, und auch genau wusste, warum. Ich denke, das ist der Grund, warum sie allein auf ihr Zimmer ging: um darüber nachzudenken, was sie deswegen unternehmen sollte.« Er schloss die Augen. »Es war eine tödliche Entscheidung. Ich wünschte bei Gott, sie hätte sich anders entschieden…«

Er hatte im Grunde nur sehr wenig gesagt, auch keine neuen Fakten zutage gefördert und ganz gewiss niemanden angeklagt, und doch war seine Aussage vernichtend. Rathbone konnte es in den Gesichtern der Geschworenen sehen.

Es hatte keinen Zweck, wenn er selbst Campbell befragte. Es gab für ihn nichts, wozu er genauere Auskünfte benötigt, nichts, was er in Zweifel hätte ziehen können. Es war Freitagabend. Er hatte zwei Tage Zeit, um irgendeine Art von Verteidigung aufzubauen, aber er hatte nichts in der Hand, womit er das tun konnte – es sei denn, Monk fände etwas heraus. Und bisher hatte er keine Nachricht von ihm erhalten.

Als das Gericht sich erhob, überlegte er kurz, noch einmal zu versuchen, Miriam die Wahrheit abzuringen, aber dann verwarf er den Gedanken gleich wieder. Es hätte keinen Sinn gehabt. Wie auch immer die Wahrheit aussah, Miriam hatte ihn bereits davon überzeugt, dass sie sich lieber hängen lassen würde als diese Wahrheit preiszugeben.

Also verließ Rathbone stattdessen das Gerichtsgebäude, hielt einen Hansom an und fuhr direkt nach Primrose Hill. Er erwartete keine Hilfe von seinem Vater, er fuhr einfach zu ihm, um den Frieden des stillen Gartens zu genießen, in dem er Kraft für die nächste Woche schöpfen wollte.