1
Der junge Mann stand blass und nervös an der Tür und drehte seinen Hut in den Händen.
»Mr. William Monk, Privatermittler?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Monk und erhob sich. »Treten Sie doch bitte näher, Sir.«
»Lucius Stourbridge«, stellte der Besucher sich vor, während er ins Zimmer trat. Er hatte weder einen Blick für die beiden bequemen Armsessel noch für die Schale mit Blumen, die einen angenehmen Duft im Raum verbreiteten. Diese Dinge waren Hesters Idee gewesen. Monk hatte an der kargen und rein zweckdienlichen früheren Einrichtung des Raums nichts auszusetzen gehabt.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Mr. Stourbridge?«, fragte Monk und zeigte auf einen der beiden Sessel.
Lucius Stourbridge nahm auf der Kante Platz. Er wirkte angespannt. Er musterte Monk besorgt.
»Ich bin verlobt, Mr. Monk«, sagte er. »Meine zukünftige Frau ist der charmanteste, großzügigste und edelmütigste Mensch, den Sie sich nur vorstellen können.« Er senkte den Blick, dann sah er hastig wieder zu Monk auf. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Züge. »Mir ist natürlich klar, dass ich in diesem Punkt voreingenommen bin, und es muss in Ihren Ohren sehr naiv klingen, aber Sie werden feststellen, dass andere Menschen sie beinahe ebenso hoch schätzen wie ich, und auch meine Eltern haben eine ehrliche Zuneigung zu ihr gefasst.«
»Daran zweifle ich nicht, Mr. Stourbridge«, versicherte Monk ihm, aber da er ahnte, was dieser junge Mann von ihm verlangen würde, fühlte er sich äußerst unwohl. Selbst wenn er dringend einen Auftrag brauchte, übernahm er nur sehr widerstrebend Fälle, die mit Eheproblemen zu tun hatten. Aber nachdem er gerade eine ausgesprochen kostspielige, dreiwöchige Hochzeitsreise in die Highlands von Schottland hinter sich hatte, näherte er sich unaufhaltsam dem Punkt, da tatsächlich Dringlichkeit geboten war. Er hatte ein Abkommen mit seiner Freundin und Gönnerin, Lady Callandra Daviot, demzufolge sie seine Börse zumindest so weit füllte, dass es zum Überleben reichte. Als Gegenleistung dafür hielt er sie über seine interessantesten Fälle auf dem Laufenden und schloss sie – so weit sie das wünschte – in die Ermittlungsarbeiten ein. Aber er hatte weder den Wunsch noch die Absicht, von dieser Übereinkunft weiterhin Gebrauch zu machen.
»Welches Problem führt Sie zu mir, Mr. Stourbridge?«, fragte er.
Lucius sah ihn todunglücklich an. »Miriam – Mrs. Gardiner – ist verschwunden.«
Diese Eröffnung verwirrte Monk. »Mrs. Gardiner?«
Lucius schüttelte ungeduldig den Kopf. »Mrs. Gardiner ist Witwe. Sie ist…« Er zögerte und auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Verärgerung und Verlegenheit. »Sie ist einige Jahre älter als ich. Aber das ist unerheblich.«
Wenn eine junge Frau ihrem Verlobten davonlief, war das eine rein private Angelegenheit. Solange kein Verbrechen im Spiel war und kein Grund bestand, eine Krankheit anzunehmen, dann war es ihre eigene Entscheidung, ob sie zurückkehrte oder nicht. Normalerweise hätte Monk sich nicht um die Angelegenheit gekümmert. Allerdings war er sich im Augenblick seines eigenen Glücks so deutlich bewusst, dass er ein für ihn ganz untypisches Mitleid für diesen jungen Mann empfand, der so offensichtlich mit seiner Weisheit am Ende war.
Er konnte sich nicht daran erinnern, je zuvor mit der Welt und dem Leben so zufrieden gewesen zu sein. Gut – es war Sommer 1860, und er wusste bis auf wenige Einzelheiten nichts mehr von seinem Leben vor seinem Kutschunfall im Jahr 1856, nach dem er ohne jede Erinnerung im Krankenhaus erwacht war. Trotzdem vermochte er sich nicht vorzustellen, dass es etwas so Wunderbares geben konnte wie das Glück, das ihn im Augenblick so vollkommen erfüllte.
Nachdem Hester seinen Heiratsantrag angenommen hatte, war er abwechselnd in Jubelstimmung geraten und dann wieder von bösen Ahnungen heimgesucht worden, dass ein solcher Schritt das einzigartige Vertrauensverhältnis, das sie verband, für alle Zeit zerstören würde. Vielleicht konnte es keine andere Beziehung zwischen ihnen geben, die so befriedigend war wie ihre Freundschaft, Seite an Seite in leidenschaftlichem Kampf für die Gerechtigkeit. Er hatte viele trostlose Nächte wach gelegen, von der Angst gequält, etwas zu verlieren, das ihm immer kostbarer schien, je länger er über die Möglichkeit nachdachte, es eines Tages vielleicht nicht mehr zu besitzen.
Aber am Ende hatten sich dann doch alle Ängste zerstreut. Obwohl er in ihr all die Wärme und Leidenschaft gefunden hatte, die er sich nur wünschen konnte, hatte sie ihre Streitlust nicht verloren, vertrat nach wie vor eigensinnig ihre Ansichten, lachte ihn aus und machte dumme Fehler. Es hatte sich im Grunde gar nicht viel verändert, nur dass jetzt eine körperliche Intimität zwischen ihnen herrschte, die er sich nicht im Traum hätte vorstellen können.
Also schickte er Lucius Stourbridge nicht seiner Wege, wie sein Instinkt es ihm vielleicht geraten hätte.
»Vielleicht erzählen Sie mir besser genau, was geschehen ist«, sagte Monk freundlich.
Lucius holte tief Luft. »Ja.« Es kostete ihn einige Mühe, die Fassung wieder zu erlangen. »Ja, natürlich. Gewiss. Es tut mir Leid, ich scheine ein wenig wirr zu reden. Das alles hat mich…
sehr hart getroffen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Letzteres war ziemlich offensichtlich und Monk musste sich bezähmen, diesen Gedanken nicht auszusprechen. Er war von Natur aus nicht besonders geduldig. »Wenn Sie vielleicht damit anfangen könnten, mir mitzuteilen, wann Sie Miss – Mrs. – Gardiner das letzte Mal gesehen haben, dann könnten wir von diesem Punkt aus fortfahren«, schlug er vor.
»Natürlich«, stimmte Lucius zu. »Wir wohnen am Cleveland Square in Bayswater, nicht weit entfernt von Kensington Gardens. Wir hatten zur Feier unserer bevorstehenden Hochzeit eine kleine Gesellschaft gegeben. Es war ein wunderschöner Tag und wir spielten Krocket, als Miriam – Mrs. Gardiner – ohne offenkundigen Grund plötzlich äußerst verstört war und aus dem Garten lief. Ich habe sie nicht gehen sehen, sonst wäre ich ihr gefolgt – um herauszufinden, ob sie vielleicht krank war, ob ich ihr irgendwie helfen konnte…«
»Ist sie denn häufiger krank?«, fragte Monk neugierig. Echte Kranke waren eine Sache, aber Frauen, die zu Ohnmachtsanfällen neigten, waren Geschöpfe, für die er nicht viel übrig hatte. Und wenn er diesem unglücklichen jungen Mann helfen sollte, musste er so viel von der Wahrheit wissen wie nur möglich.
»Nein«, entgegnete Lucius scharf. »Sie erfreut sich bester Gesundheit und ist von sehr ausgeglichenem Temperament.« Monk ertappte sich dabei, dass er ganz leicht errötete. Wenn jemand ihm gegenüber angedeutet hätte, Hester habe möglicherweise eine Neigung zu Ohnmächten, so hätte er mit einiger Schroffheit darauf hingewiesen, dass sie sich in einer Krisensituation zweifellos besser bewährte als die meisten anderen Menschen. Als Krankenschwester auf den Schlachtfeldern der Krim hatte sie das mehr als einmal unter Beweis gestellt. Aber er brauchte sich bei Lucius Stourbridge nicht zu entschuldigen. Das war eine notwendige Frage gewesen.
»Wer hat sie weggehen sehen?«, forschte er weiter.
»Mein Onkel, Aiden Campbell, der die meiste Zeit und auch im Augenblick bei uns lebt. Und ich glaube, meine Mutter hat sie ebenfalls weggehen sehen und auch ein oder zwei der Diener und andere Gäste.«
»Und war sie krank?«
»Ich weiß es nicht! Darum geht es doch gerade, Mr. Monk! Niemand hat sie seither wieder gesehen. Und es sind jetzt drei Tage vergangen!«
»Und was haben diejenigen, die sie gesehen haben«, hakte Monk geduldig nach, »Ihnen erzählt? Sie kann doch nicht einfach allein aus dem Garten spaziert sein, ohne Geld oder Gepäck, um spurlos zu verschwinden?«
»Oh… nein«, korrigierte Lucius sich, »der Kutscher, James Treadwell, ist ebenfalls verschwunden und mit ihm natürlich eine der Kutschen.«
»Dann sieht es also so aus, als hätte Treadwell sie irgendwohin gefahren«, schlussfolgerte Monk. »Da sie das Krocketspiel aus freien Stücken verlassen hat, hat sie ihn wahrscheinlich darum gebeten, sie zu fahren. Was wissen Sie über Treadwell?«
Lucius zuckte mit den Schultern, schien dabei aber noch blasser zu werden. »Er arbeitet seit drei oder vier Jahren bei der Familie und ist mit der Köchin verwandt – ein Neffe oder so etwas. So weit ich weiß, ist man absolut zufrieden mit ihm. Sie glauben doch nicht, er könnte… ihr etwas angetan hatten?«
Monk hatte keine Ahnung, aber es war sinnlos, dem jungen Mann weiteren Kummer zu bereiten. Er war ohnehin schon verzweifelt genug.
»Ich halte es eher für wahrscheinlicher, dass er sie lediglich dorthin gebracht hat, wo sie hin wollte«, erwiderte er, aber dann wurde ihm klar, dass seine Antwort keinen Sinn ergab. Wenn es wirklich so gewesen wäre, wäre der Kutscher binnen weniger Stunden zurückgekommen. »Aber es sieht tatsächlich so aus, als hätte er ihre Kutsche zu eigenen Zwecken benutzt.« Noch andere, weitaus düsterere Gedanken gingen ihm durch den Kopf, aber es war noch zu früh, um sie auszusprechen. Es gab viel simplere Lösungen für diese alltägliche, private Tragödie, Lösungen, die wahrscheinlicher waren. Am ehesten konnte man sich vorstellen, dass Miriam Gardiner einfach ihre Meinung geändert hatte, was die Heirat betraf, aber nicht den Mut gefunden hatte, es dem jungen Lucius Stourbridge zu sagen.
Lucius beugte sich vor. »Ich mache mir Sorgen um Miriam, Mr. Monk. Wenn es ihr gut geht, warum hat sie sich dann nicht bei mir gemeldet?« Seine Kehle war so zugeschnürt, dass die Worte halb erstickt klangen. »Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Ich habe mit jedem Einzelnen meiner Freunde gesprochen, an den sie sich vielleicht hätte wenden können. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, was ich gesagt oder getan haben könnte, dass sie mir misstraut, und mir ist nichts eingefallen. Wir standen uns sehr nahe, Mr. Monk. Es gibt nichts auf der Welt, wovon ich mehr überzeugt bin als davon. Wir haben uns nicht nur geliebt, wir waren auch die besten Freunde. Ich konnte mit ihr über alles reden, und sie schien mich zu verstehen, ja, sie teilte sogar meine Ansichten und Vorlieben auf eine Weise, die einzigartig ist. Sie war für mich die aufregendste Frau der Welt und trotzdem habe ich mich in ihrer Gegenwart immer wohl gefühlt.« Er errötete leicht. »Das mag in Ihren Ohren absurd klingen…«
»Nein«, sagte Monk hastig, zu hastig. Seine Worte kamen von Herzen, und er war es nicht gewöhnt, so viel von sich selbst preiszugeben, erst recht nicht einem möglichen Klienten gegenüber, noch dazu in einem Fall, den er eigentlich gar nicht übernehmen wollte und von dem er schon jetzt überzeugt war, dass er kein glückliches Ende nehmen konnte.
Lucius Stourbridge sah ihn aufmerksam an und seine großen, braunen Augen waren voller Sorge.
»Nein«, wiederholte Monk mit etwas weniger Nachdruck.
»Ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist, einem anderen Menschen solche Zuneigung entgegenzubringen.« Er sprach schnell weiter, um von Gefühlen zu Tatsachen überzuleiten.
»Vielleicht sollten Sie mir etwas über Ihre Familie erzählen und darüber, wie Sie Mrs. Gardiner kennen gelernt haben.«
»Ja, ja, natürlich.« Lucius schien erleichtert zu sein, etwas Konkretes beitragen zu können. »Mein Vater ist Major Harry Stourbridge. Er war früher bei der Armee, ist aber inzwischen pensioniert. Er hat sich in Afrika und vor allem in Ägypten große Verdienste erworben, wo er zu Beginn seiner Laufbahn viel Zeit verbrachte. Er war auch dort, als ich zur Welt kam.« Ein schwaches Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Ich würde gern selbst eines Tages dorthin reisen. Ich habe ihn mit großer Begeisterung davon erzählen hören.« Mit bekümmerter Miene kam er wieder zu dem eigentlichen Thema zurück.
»Unsere Familie stammt aus Yorkshire – dem West Riding. Dort haben wir auch unser Land. Ein Besitz mit festgelegter Erbfolge natürlich, aber doch eine sehr gute Existenzgrundlage. Wir fahren gelegentlich dorthin, aber meine Mutter zieht es vor, die Saison in der Stadt zu verbringen. Ich nehme an, das gilt für die meisten Menschen, vor allem für Frauen…«
»Haben Sie Geschwister?«, unterbrach ihn Monk.
»Nein. Bedauerlicherweise bin ich ein Einzelkind.«
Monk sprach es nicht aus, dass Lucius aus diesem Grund wohl eines Tages ein erhebliches Erbe antreten würde, aber der Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes machte klar, dass er Monks Gedanken erriet. Seine Lippen wurden schmal. Eine leichte Röte stieg ihm in die Wangen.
»Meine Familie hat keine Einwände gegen meine Heirat«, sagte er mit einer Spur Trotz. Er saß vollkommen bewegungslos auf dem Stuhl und sah Monk unverwandt an. »Mein Vater und ich stehen uns sehr nahe. Er freut sich über mein Glück, außerdem hat er Miriam, Mrs. Gardiner, selbst sehr gern. Er hat weder an ihrem Charakter noch an ihrem Ruf etwas auszusetzen. Dass sie nur eine sehr kleine Mitgift und keinerlei Land mit in die Ehe bringt, ist nicht von Bedeutung. Ich werde mehr als genug für uns beide haben und materieller Besitz bedeutet mir nichts, wenn ich daran denke, dass ich mein ganzes Leben in der Gesellschaft einer Frau verbringen darf, die über Mut, Tugend und Humor verfügt und die ich mehr liebe als irgendeinen anderen Menschen auf Erden.« Bei den letzten Worten wurde seine Stimme ein wenig brüchig und man sah ihm an, wie viel Kraft es ihn kostete, seine Fassung zu wahren.
Monk berührte das Problem des anderen Mannes viel mehr, als er es sich noch vor wenigen Wochen hätte vorstellen können. Obwohl er sich ganz auf Lucius Stourbridges Situation konzentrieren wollte, sah er im Geiste sich selbst und Hester, wie sie im Schein des letzten Sonnenlichts Seite an Seite über einen stillen Strand schlenderten. Der Himmel strahlte im Nordwesten flammendrot und die Hügel in der Ferne waren in einen purpurnen Schimmer gehüllt, der die Luft leuchten ließ. Sie brauchten nichts zu sagen, denn sie wussten auch ohne Worte, dass sie angesichts jener Schönheit beide das Bedürfnis verspürten, diesen Moment festzuhalten – ebenso wie sie das Wissen um die Unmöglichkeit eben jener Hoffnung teilten. Trotzdem verlieh die Tatsache, dass sie zusammen dort waren, dem Augenblick einen Hauch von Ewigkeit.
Und es hatte andere Situationen gegeben: gemeinsames Lachen über das Spiel eines Hundes mit einer vom Wind verwehten Papiertüte, – die Freude über ein köstliches Sandwich nach einem langen Spaziergang; der Aufstieg zum Gipfel eines Berges, – das sprachlose Staunen über die Aussicht von dort und die Erleichterung, nicht mehr weitergehen zu müssen.
Wenn Lucius in seinem Leben ähnliches Glück erfahren und es aus einem Grund verloren hatte, den er nicht verstand, war es kein Wunder, dass er so verzweifelt nach einer Antwort suchte. Wie hässlich oder niederschmetternd die Wahrheit auch sein mochte, bevor er sie nicht kannte, hatte er keine Möglichkeit darüber hinwegzukommen.
»Dann werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um herauszufinden, was geschehen ist«, sagte Monk. »Und wenn sie bereit ist, zu Ihnen zurückzukehren…«
»Ich danke Ihnen!«, sagte Lucius erleichtert und seine Miene hellte sich auf. »Ich danke Ihnen, Mr. Monk! Sie brauchen keine Kosten zu scheuen, das verspreche ich Ihnen. Was kann ich tun, um Ihnen behilflich zu sein?«
»Erzählen Sie mir die Geschichte Ihrer Bekanntschaft, erzählen Sie mir alles über Mrs. Gardiner, was Sie wissen«, erwiderte Monk mit einem flauen Gefühl im Magen.
»Selbstverständlich.« Lucius’ Miene wurde weicher und die Anspannung schwand aus seinem Gesicht, als erfülle ihn allein die Erinnerung an ihre erste Begegnung mit Glück. »Ich hatte einen Freund besucht, der in Hampstead lebt, und ich ging auf dem Rückweg über die Heide. Es war ungefähr zu dieser Jahreszeit und ein wunderschöner Tag. Ich begegnete vielen Leuten, spielenden Kindern und einem älteren Ehepaar, das lächelnd in der Sonne saß.« Er lächelte selbst, als er davon erzählte. »Ein kleiner Junge rollte einen Reifen, und ein Hündchen jagte einem Stock hinterher. Ich blieb stehen und beobachtete den Hund. Er war so voller Leben, wie er da mit wedelndem Schwanz durch die Heide sprang, und so zufrieden den Stock zurückbrachte. Ich musste laut lachen, und es dauerte eine ganze Weile, bis mir aufging, dass es eine junge Frau war, die den Stock warf. Einmal landete er vor meinen Füßen, und ich hob ihn auf und warf ihn wieder zurück, einfach weil es so viel Spaß machte zuzusehen. Natürlich kamen wir beide ins Gespräch, diese Frau und ich. Es entwickelte sich alles so natürlich. Wir unterhielten uns über den Hund, und sie erzählte mir, dass er einer Freundin gehöre.«
Sein Blick war entrückt bei der Erinnerung an jenen Tag. »Ein Gesprächsthema führte zum nächsten, und bevor ich mich versah, hatte ich fast eine Stunde mit ihr geredet. Am nächsten Tag ging ich in der Hoffnung, sie dort zu treffen, wieder in die Heide, und sie war tatsächlich da.« Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, eine winzige Geste voller Selbstironie. »Ich bilde mir keinen Augenblick lang ein, dass sie das für Zufall hielt, und ich hatte auch nicht das Gefühl, heucheln zu müssen. So war unsere Beziehung nie. Sie schien zu begreifen, was ich meinte, ganz als hätte sie selbst die gleichen Gedanken und Gefühle. Wir lachten über dieselben Dinge, fanden dieselben Dinge schön oder traurig. Ich habe mich in Gesellschaft eines anderen Menschen nie so wohl gefühlt, so entspannt wie bei ihr.«
Monk versuchte, es sich vorzustellen. Es war gewiss nicht das, was er bei Hester empfunden hatte! Er fand sie anregend und bisweilen eigensinnig, er war zornig oder amüsiert, voller Bewunderung oder sogar Hochachtung, aber zu behaupten, er habe ihre Gesellschaft häufig entspannend gefunden, wäre übertrieben gewesen.
Nein – das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Jetzt, da er sich endlich eingestanden hatte, dass er sie liebte, und nachdem er aufgehört hatte, sie mit Gewalt zu der Art Frau zu formen, von der er geglaubt hatte, dass er sie haben wollte, jetzt, da er sie endlich als das akzeptierte, was sie war, fühlte er sich in ihrer Gesellschaft doch meist sehr wohl.
Und natürlich hatte es auch Zeiten gegeben, da sie für ein gemeinsames Ziel kämpften, und sie hatte dies mit Mut, Phantasie, Mitgefühl und einer Zähigkeit getan, wie er sie bei keiner anderen Frau – bei keinem anderen Menschen – je erlebt hatte. In diesen Zeiten verband sie eine Kameradschaft, wie sie nicht einmal Lucius Stourbridge erahnen konnte.
»Und so entwickelte sich Ihre Freundschaft«, kam er seinem Besucher zuvor. »Nach einer Weile haben Sie sie dann mit Ihrer Familie bekannt gemacht, und Ihre Eltern mochten sie ebenfalls.«
»Ja – so ist es«, stimmte Lucius ihm zu. Er wollte weiter sprechen, aber Monk fiel ihm ins Wort. Er benötigte Informationen, die ihm vielleicht bei seinen Bemühungen helfen konnten, die vermisste Frau zu finden, obwohl er kaum Hoffnung hatte, dass die Sache für Lucius oder einen der anderen Beteiligten einen glücklichen Ausgang nehmen würde. Eine Frau lief ihrem zukünftigen Ehemann nicht weg und blieb mehrere Tage lang verschwunden, ohne ihm eine Nachricht zu schicken, es sei denn, es gab ein ernst zu nehmendes Problem, das sie auf andere Weise nicht lösen konnte.
»Was wissen Sie von Mrs. Gardiners erstem Ehemann?«, fragte Monk.
»Ich glaube, er war etwas älter als sie«, antwortete Lucius, »ein Mann mit bescheidenem geschäftlichem Erfolg, genug, um sie nach seinem Tod versorgt zu wissen. Außerdem hatte er einen guten Ruf und weder Geldnoch Ehrenschulden.« Seine Stimme hatte einen festen Klang, als wolle er Monk dazu bringen, ihm zu glauben.
Monk entnahm dieser kurzen Zusammenfassung, dass der verstorbene Mr. Gardiner aus sehr viel einfacheren Verhältnissen gekommen sein musste als Lucius Stourbridge. Er hätte gern mehr über Miriam Gardiners persönliche Geschichte gewusst, ob sie wie eine Dame sprach und sich wie eine solche benahm, ob sie in der Familie Stourbridge mit einem gewissen Selbstbewusstsein aufgetreten war oder ob sie insgeheim Angst vor seinen Angehörigen hatte. War es jedes Mal eine Qual für sie, wenn sie etwas sagte, weil sie fürchten musste, eine Schwäche zu zeigen? Monk konnte sich etwas Derartiges nur allzu gut vorstellen. Er selbst stammte aus einem Fischerdorf in Northumbria und hatte versucht, in London den Gentleman zu spielen. Eigenartig, dass ihm das gerade jetzt einfiel, wo er an Miriam Gardiner dachte, die vielleicht auch aus einer unteren Gesellschaftsschicht kam und dabei war, sich einer anderen Klasse von Menschen anzupassen, ohne zu verraten, wie viel Anstrengung sie dies kostete. Immer, wenn sie sich an den Tisch setzte, musste auch sie Angst gehabt haben, die falsche Gabel zu benutzen oder eine dumme Bemerkung zu machen, sich als unwissend zu erweisen, was gegenwärtige Ereignisse betraf, oder zu verraten, dass sie niemanden kannte… Aber nach solchen Dingen konnte er Lucius nicht fragen.
»Ich denke, ich suche Sie besser einmal in Ihrem Haus auf, Mr. Stourbridge«, sagte Monk laut. »Ich möchte mit eigenen Augen sehen, wo das Ereignis stattgefunden hat, das Mrs. Gardiner anscheinend so sehr erregte. Außerdem würde ich gern, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, mit Ihren Angehörigen und Dienstboten sprechen, um von ihnen so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen.«
»Aber natürlich!« Lucius sprang auf. »Ich danke Ihnen, Mr. Monk. Ich bin sicher, wenn Sie Miriam nur finden können und ich weiß, dass ihr nichts passiert ist, dann werden wir alle anderen Schwierigkeiten überwinden.« Wieder verdüsterte sich seine Miene, als ihm klar wurde, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass es ihr nicht gut ging. Ihm fiel einfach kein anderer Grund ein, warum sie ihn nicht hätte benachrichtigen sollen. »Wann werden Sie aufbrechen können?«
Monk fühlte sich gedrängt, und doch hatte Lucius Recht: Die Angelegenheit war eilig; tatsächlich konnte es gut sein, dass sie bereits zu spät kamen. Wenn er den Auftrag annehmen wollte, sollte es sofort geschehen. Er würde Hester eine Nachricht hinterlassen und erklären, dass er einen Fall übernommen hatte und zurückkehren würde, sobald er sich einen ersten Überblick verschafft hatte. Er konnte es ihr nicht persönlich sagen, da sie sich im Krankenhaus aufhielt, wo sie mit Callandra Daviot zusammenarbeitete. Er hatte sich kategorisch geweigert zu erlauben, dass sie zu ihrem gemeinsamen Unterhalt etwas beitrug. Das Thema war nach wie vor ein Streitpunkt zwischen ihnen. Zweifellos würde sie früher oder später darauf zurückkommen.
Im Augenblick jedenfalls hatte Monk selbst einen Fall, der seine Aufmerksamkeit beanspruchte, und er musste sich fertig machen, um Lucius Stourbridge zu begleiten.
Das Haus der Stourbridges am Cleveland Square in Bayswater war ansprechend und zeugte von Wohlstand. Man sah, dass Geld für seine Besitzer keine Rolle spielte. Das Gebäude stammte aus einer früheren und bescheideneren Zeit. Monk gefiel es auf Anhieb, und er hätte es sicher länger bewundert, wäre ihm Lucius nicht zur Haustür vorausgeeilt. Er öffnete sie, ohne auf einen Lakaien oder ein Dienstmädchen zu warten.
»Kommen Sie herein«, forderte er ihn auf. Dann trat er einen Schritt zurück und machte eine Handbewegung, als wolle er Monk zur Eile antreiben.
Monk ging hinein, hatte aber keine Zeit, sich den eichenvertäfelten Korridor mit den Familienporträts anzusehen. Er nahm im Vorübergehen wahr, dass ein Bild besonders hervorstach – das Bild eines Reiters in der Uniform der Husaren zur Zeit von Waterloo. Wahrscheinlich handelte es sich um einen früheren Stourbridge, der ebenfalls eine militärische Laufbahn eingeschlagen hatte.
Lucius ging rasch über den dunkel gekachelten Fußboden auf die Tür am anderen Ende des Korridors zu. Monk folgte ihm und konnte nur einen hastigen Blick auf die schöne Stuckdecke und die breite Treppe werfen.
Lucius klopfte an die Tür und drehte gleich darauf den Knauf, um sie zu öffnen. Erst dann drehte er sich zu Monk um. »Bitte, treten Sie ein«, drängte er. »Sie wollen sicher meinen Vater kennen lernen und sich vielleicht von ihm bestätigen lassen, was ich Ihnen erzählt habe.« Er trat beiseite, das Gesicht von Sorgenfalten durchzogen und mit steifer Haltung. »Vater, das ist Mr. William Monk. Er hat sich bereit erklärt, uns zu helfen.« Monk ging an ihm vorbei durch die Tür. Er sah flüchtig bequeme, viel benutzte Möbel, die nicht der Wirkung halber im Raum standen, sondern um es den Bewohnern so angenehm wie möglich zu machen. Aber im nächsten Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit schon von dem Mann gefesselt, der sich aus einem der dunklen Ledersessel erhob, um ihn zu begrüßen. Er war schlank und von kaum mehr als durchschnittlicher Größe, aber er strahlte eine Energie und Eleganz aus, die Achtung weckten. Er war ähnlich gebaut wie Lucius, ähnelte ihm sonst aber in keiner Weise. Monk schätzte ihn auf Anfang fünfzig, obwohl das blonde Haar noch kaum eine graue Strähne aufwies. Um die blauen Augen zog sich ein Kranz feiner Linien, als hätte er sie jahrelang zusammengekniffen, um sie vor grellem Licht zu schützen.
»Guten Tag, Mr. Monk«, sagte er sofort und hielt ihm die Hand hin. »Harry Stourbridge. Von meinem Sohn weiß ich, dass Sie ein Mann sind, der uns vielleicht bei unserem familiären Ungemach helfen kann. Ich freue mich sehr, dass Sie sich bereit gefunden haben, es zu versuchen, und ich bin Ihnen überaus dankbar dafür.«
»Guten Tag, Major Stourbridge«, sagte Monk steif. Er schüttelte Stourbridge die Hand und bemerkte, als er ihn ein wenig genauer betrachtete, eine Sorge in seiner Miene, die auch seine Höflichkeit nicht kaschieren konnte. Es gab keine Anzeichen von Erleichterung darüber, dass Miriam Gardiner verschwunden war. Auch ihn beunruhigte dieser Vorfall zutiefst.
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Monk, obwohl ihm schmerzlich bewusst war, wie wenig das unter Umständen sein konnte.
»Nehmen Sie doch Platz.« Stourbridge deutete auf einen der Sessel. »Das Mittagessen wird in einer Stunde serviert. Möchten Sie uns Gesellschaft leisten?«
»Vielen Dank«, akzeptierte Monk die Einladung. Auf diese Weise würde er Gelegenheit haben, die verschiedenen Familienmitglieder zusammen zu beobachten und sich eine Meinung über ihre Beziehungen zu bilden. Vielleicht konnte er auf diese Weise auch herausfinden, wie Miriam Gardiner sich als Lucius’ Frau in diesen Haushalt eingefügt hätte. »Aber vorher, Sir, möchte ich gern über einige vertrauliche Dinge mit Ihnen sprechen.«
»Natürlich, natürlich«, stimmte Stourbridge zu. Er blieb stehen und ging rastlos durch den Raum, durch dessen hohe Fenster das Sonnenlicht fiel. »Lucius, vielleicht möchtest du deine Mutter sehen…?« Es war ein höflicher und beiläufig vorgebrachter Vorschlag, der dem jungen Mann einen Vorwand liefern sollte, um sich zu verabschieden.
Lucius zögerte, denn es fiel ihm offensichtlich schwer, sich von dem einzigen Thema loszureißen, das ihn im Augenblick bewegte.
»Sie hat dich vermisst«, hakte Stourbridge nach. »Es würde sie sicher freuen zu hören, dass Mr. Monk uns helfen will.«
»Ja… ja, natürlich«, pflichtete Lucius ihm bei. Dann sah er Monk mit dem Anflug eines Lächelns an, ging durch den Raum und zog die Tür hinter sich zu.
Harry Stourbridge wandte sich zu Monk um und das Sonnenlicht, das auf sein Gesicht fiel, zeichnete die feinen Linien nach und ließ seine Müdigkeit deutlicher zu Tage treten.
»Fragen Sie, was Sie wollen, Mr. Monk. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Miriam zu finden, und ihr, wenn sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt, alle erdenkliche Hilfe anbieten. Wie Sie sehen, bedeutet sie meinem Sohn sehr viel. Ich kann mir keine andere Frau vorstellen, die ihn so glücklich machen könnte.«
Monk stellte fest, dass er an der Aufrichtigkeit des anderen Mannes nicht den geringsten Zweifel hegte, was die emotionale Last, die auf ihm ruhte, umso schwerer machte. Warum war Miriam Gardiner ohne ein Wort der Erklärung aus diesem Haus geflohen? War der Auslöser ein plötzliches Ereignis gewesen oder eine Ansammlung kleiner Dinge, die in ihrer Gesamtheit zu viel für sie waren? Was konnte es gewesen sein, dass sie nicht einmal diesen Menschen, die sie liebten, eine Erklärung gegeben hatte?
Und wo steckte der Kutscher James Treadwell?
Stourbridge sah Monk erwartungsvoll an. Aber der wusste nicht recht, wo er beginnen sollte. Harry Stourbridge war ganz anders, als er erwartet hatte, und seine Gefühle gingen ihm unerwartet nah.
»Was wissen Sie über Mrs. Gardiner?«, fragte er schroffer, als er beabsichtigt hatte. Mitleid würde weder Lucius noch seinem Vater weiterhelfen. Monk war hier, um das Problem anzugehen, nicht um sich irgendwelchen Gefühlen hinzugeben.
»Sie meinen, über ihre Familie?« Stourbridge verstand sofort, woran er dachte. »Sie hat nie von ihren Eltern gesprochen. Ich nehme an, es waren ziemlich einfache Leute. Ich glaube, sie starben, als Miriam noch jung war. Das Thema machte sie offensichtlich immer ein wenig traurig, und keiner von uns wollte weiter in sie dringen.«
»Jemand muss doch für sie gesorgt haben, als sie aufwuchs«, hakte Monk nach. Er hatte keine Ahnung, ob diese Fragen von Belang waren, aber es gab so wenige Spuren, die er verfolgen konnte.
»Natürlich«, stimmte Stourbridge zu und nahm endlich wieder Platz. »Eine gewisse Mrs. Andersen hat sie zu sich genommen und sie mit großer Freundlichkeit behandelt. Miriam hat sie immer noch regelmäßig besucht. In Mrs. Andersons Haus hat sie übrigens auch Mr. Gardiner kennen gelernt; sie war damals etwa siebzehn und hat ihn zwei Jahre später geheiratet. Er war erheblich älter als sie.« Er schlug die Beine übereinander und beobachtete Monk voller Sorge. »Natürlich habe ich selbst Erkundigungen eingezogen. Lucius ist mein einziger Sohn, und sein Glück liegt mir sehr am Herzen. Aber ich habe nichts herausgefunden, was die gegenwärtigen Ereignisse erklären könnte. Walter Gardiner war ein stiller, zurückhaltender Mann, der erst relativ spät heiratete, mit fast vierzig, und einen exzellenten Ruf genoss. Er war eher schüchtern und ein wenig unbeholfen in Gesellschaft von Frauen. Er arbeitete sehr hart in seinem Laden – wo er übrigens Bücher verkaufte – und hatte bescheidenen geschäftlichen Erfolg. Miriam ist gut versorgt. Nach allem, was man hört, war sie sehr glücklich mit ihm. Ich habe niemanden ein schlechtes Wort über die beiden reden hören.«
»Hatten sie Kinder?«, fragte Monk neugierig.
Ein Schatten legte sich über Stourbridges Augen. »Nein. Bedauerlicherweise nicht. Das ist ein Segen, der nicht jeder Ehe vergönnt ist.« Er holte tief Luft, bevor er weiter sprach. »Meine Frau und ich haben nur das eine Kind.« Der Schmerz in seinem Gesicht war für Monk unübersehbar. Kinder waren ein Thema, über das er selbst wenig nachgedacht hatte. Er besaß weder einen Titel noch Grundbesitz, die es zu vererben galt, und er empfand es nicht als Mangel, keine Familie zu haben. Andererseits war Hester aber auch keine gewöhnliche Frau. Er hatte sie geheiratet, ohne über die Annehmlichkeiten des häuslichen Lebens nachzudenken. Hätte er es getan, so wäre Hester gewiss nicht die Frau seiner Wahl gewesen! Bei diesem Gedanken musste er unbewusst lächeln. Man konnte nie vorhersehen, was die Zukunft bringen mochte. Vielleicht würde er in einigen Jahren sogar an Kinder denken. Jetzt aber war er ehrlich genug, sich einzugestehen, dass es ihm missfallen würde, wenn Hester ihre Zeit und ihre Gefühle in eine andere Richtung wenden müsste.
Stourbridge wartete auf eine Antwort.
»Sie ist ein wenig älter als Ihr Sohn«, sagte Monk, der sich bemühte, den Sachverhalt so beiläufig wie möglich anzusprechen. »Wie viel älter ist sie genau?«
Eine gewisse Erheiterung blitzte in Stourbridges Augen auf.
»Neun Jahre«, erwiderte er. »Wenn Sie fragen wollen, ob sie ihm einen Erben schenken könnte, dann ist die Antwort: Ich weiß es nicht. Natürlich sähen wir es gern, wenn Lucius einen Sohn hätte, aber das ist nicht unsere Hauptsorge. Es gibt nie eine Garantie für so etwas, Mr. Monk, ganz gleich, wen man heiratet, und wir haben bei Miriam nie den Eindruck erweckt, dass wir einen Enkel von ihr verlangten.«
Monk erhob keine Einwände, aber er würde sich selbst davon überzeugen, ob Mrs. Stourbridge die Gefühle ihres Mannes teilte. Bisher hatten seine Fragen nichts zu Tage gefördert, worin er einen Grund für Miriam Gardiners Verschwinden entdecken konnte. Er wünschte, er hätte ein klareres Bild von ihr. Durch die Augen von Lucius und Harry Stourbridge gesehen, war sie die ideale Frau. Hatten diese Männer unter der Oberfläche, die sie so bewunderten, überhaupt etwas von der wirklichen Frau wahrgenommen? Hatte es überhaupt Sinn, Harry Stourbridge nach mehr als den nackten Tatsachen zu fragen?
»War dies Mrs. Gardiners erster Besuch in diesem Haus?«, fragte er plötzlich.
Stourbridge schien ein wenig überrascht zu sein.
»Nein, keineswegs. Sie war etwa ein halbes Dutzend Mal hier gewesen. Wenn Sie denken, wir hätten sie nicht willkommen geheißen, oder der Gedanke, bei uns zu leben, hätte sie mit Unbehagen erfüllt, dann befinden Sie sich im Irrtum, Mr. Monk.«
»Hätte sie denn hier gelebt, in diesem Haus?«, erkundigte sich Monk, dem plötzlich eine ganze Reihe von Gründen einfielen, warum diese Aussicht ihr vielleicht unerträglich erschienen war. Nachdem sie so lange ihre eigene Herrin gewesen war, mochte der Verlust ihrer Privatsphäre ihr schwer gefallen sein. In Hesters Fall wäre es sicher so gewesen! Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie den größten Teil ihres Lebens unter einem fremden Dach hätte zubringen wollen.
Harry Stourbridge lächelte.
»Nein, Mr. Monk. Ich habe Ländereien in Yorkshire, und Lucius liebt das Leben im Norden. Miriam war vor einigen Monaten einmal dort – ich gestehe, das Wetter hat sich bei ihrem Besuch nicht von seiner besten Seite gezeigt –, aber sie war ganz bezaubert von der Gegend und freute sich darauf, dorthin zu ziehen und Herrin ihres eigenen Hauses zu sein.«
Also war es nicht die Angst vor dem Verlust einer gewissen Freiheit gewesen, die Miriam Gardiner vertrieben hatte. Monk versuchte es noch einmal. »War bei ihrem letzten Besuch hier irgendetwas anders als sonst, Major Stourbridge?«
»Nicht dass ich wüsste, nur dass alles eine Spur festlicher war.« Sein Gesicht verzog sich vor Kummer, und er senkte die Stimme. »Sie wollten in vier Wochen heiraten. Es sollte eine stille Hochzeit werden, eine reine Familienangelegenheit. Miriam wollte weder eine große Gesellschaft noch allzu hohe Unkosten. Sie fand beides unschicklich und überflüssig. Sie liebte Lucius sehr, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.« Er sah seinen Gast verwirrt an. »Ich weiß nicht, was passiert ist, Mr. Monk, aber sie ist nicht weggegangen, weil sie aufhörte, ihn zu lieben, oder weil sie plötzlich nicht mehr an seine Liebe zu ihr glaubte.«
Jeder Einwand wäre sinnlos gewesen. Stourbridge war fest von dem überzeugt, was er sagte. Es würde ungemein schmerzlich für ihn werden, falls die Tatsachen erwiesen, dass er sich irrte, und Monk hoffte, dass er nicht derjenige sein würde, der es ihm sagen musste. Er hätte diesen Fall nicht übernehmen dürfen. Er konnte sich keine glückliche Lösung des Rätsels vorstellen.
»Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Kutscher, James Treadwell«, bat er stattdessen.
Stourbridge hob seine hellen Augenbrauen. »Treadwell? Ja, ich verstehe, worauf Sie hinaus wollen. Ein wirklich tüchtiger Kutscher. Ein guter Fahrer, kennt sich mit Pferden aus, aber ich gestehe, er ist kein Mann, für den ich viel Sympathie hege.« Er stützte sich mit den Ellbogen auf die Armlehnen seines Sessels und legte die Fingerspitzen zusammen. »In der Armee habe ich Männer wie ihn kennen gelernt. Sie sitzen auf dem Pferd wie ein Zentaur, können ein Schwert handhaben und reiten durch jedes Gelände, aber man kann sich nicht auf sie verlassen. Sie setzen immer sich selbst an die erste Stelle, nicht das Regiment. Und wenn die Schlacht sich zu ihrem Nachteil entwickelt, drücken sie sich.«
»Aber Sie haben ihn behalten?«
Stourbridge zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Man wirft niemanden auf die Straße, weil man seine Art zu kennen glaubt. Man könnte sich irren. Ich hätte ihn nicht als Kammerdiener haben mögen, aber ein Kutscher ist etwas ganz anderes. Außerdem ist er der Neffe meiner Köchin, und sie ist eine brave Frau. Sie ist seit fast dreißig Jahren bei der Familie. Hat als Spülmädchen angefangen, als meine eigene Mutter noch lebte.«
Monk verstand. Wie alle anderen Dinge, die er hier erfahren hatte, war dieser Umstand leicht zu begreifen und ganz alltäglich. Er hatte keine Fragen mehr an den Major und bat nur noch um einen Bericht über den Tag, an dem Miriam Gardiner verschwunden war.
»Ich kann Ihnen die Gästeliste zeigen, wenn Sie es wünschen«, erbot sich Stourbridge. »Aber es war niemand da, den Miriam nicht gekannt hätte, wirklich niemand, der kein Freund gewesen wäre. Glauben Sie mir, Mr. Monk, wir haben uns alle den Kopf zerbrochen, um einen Grund für Miriams Erregung zu finden, aber all unsere Bemühungen waren umsonst. Niemand weiß etwas von einem Streit, nicht einmal von irgendeiner unglückseligen oder taktlosen Bemerkung!« Instinktiv sah er aus dem Fenster, dann wandte er sich wieder Monk zu. »Miriam stand ein wenig abseits. Wir anderen spielten entweder Krocket oder beobachteten das Spiel, als Miriam plötzlich aufstöhnte, so weiß wie Papier wurde und einen Augenblick wie angewurzelt dastand. Dann drehte sie sich jäh um und lief aufs Haus zu. Sie schwankte und wäre beinahe gestolpert.« Stourbridges Stimme brach. »Seither hat sie keiner von uns gesehen!«
Monk beugte sich vor. »Sie haben diesen Vorfall mit eigenen Augen gesehen?«
»Nein, nicht persönlich. Hätte ich es gesehen, wäre ich ihr gefolgt.« Stourbridge sah Monk schuldbewusst an, als mache er sich Vorwürfe deswegen. »Aber mehrere andere Personen haben mir davon erzählt, und zwar immer mit den gleichen Worten. Miriam stand abseits. Niemand sprach mit ihr, niemand trat an sie heran.« Er runzelte die Stirn, und in seinen Augen stand ein Ausdruck der Verwirrung. »Ich habe alle Möglichkeiten erwogen, Mr. Monk. Wir haben Sie hinzugezogen, weil wir mit unserem Latein am Ende sind.«
Monk erhob sich. »Ich werde alles in meiner Kraft Stehende tun, Sir«, sagte er mit einem Gefühl des Unbehagens. Als Lucius Stourbridge ihm den Fall das erste Mal geschildert hatte, war Monk eine Auflösung des Rätsels unmöglich erschienen; jetzt war er mehr denn je davon überzeugt. Was auch immer Miriam Gardiner widerfahren sein mochte, es hatte seine Wurzel in ihren eigenen Gefühlen, und ihre zukünftige Familie würde wahrscheinlich nie erfahren, was ihre überstürzte Flucht herbeigeführt hatte. Aber selbst wenn sie es erführen, würde es ihnen kein Glück bringen. Monk ärgerte sich allmählich über diese junge Frau, die so gedankenlos einen Weg eingeschlagen hatte, von dem sie hätte wissen müssen, dass sie ihn nicht bis zum Ende gehen konnte. Sie hatte mindestens zwei anständigen und ehrenhaften Menschen wehgetan, wenn nicht sogar mehreren.
Auch Stourbridge erhob sich. »Mit wem möchten Sie als Nächstes sprechen, Mr. Monk?«
»Mit Mrs. Stourbridge, wenn Sie so freundlich wären«, antwortete Monk, ohne zu zögern. Er wusste aus Erfahrung und von Hester, dass Frauen einander auf eine Weise beobachteten, wie Männer es nicht taten, – sie deuteten das Mienenspiel ihrer Geschlechtsgenossinnen und verstanden auch Dinge, die unausgesprochen blieben.
»Natürlich.« Stourbridge trat in den Korridor hinaus. »Um diese Zeit hält sie sich in ihrem Salon auf.«
Monk folgte ihm die breite, geschwungene Treppe hinauf, und diesmal hatte er Gelegenheit, sich die wunderschöne Stuckdecke und die Schnitzereien auf den Pfosten des Treppengeländers genauer anzusehen.
Stourbridge ging den Flur entlang voraus. Durch ein hohes Fenster konnte man den gepflegten Rasen sehen, und Monk erhaschte einen Blick auf Krockettore, die immer noch an Ort und Stelle standen. Der Garten sah so friedlich aus im hellen Licht der Sonne, ein Ort stillen Glücks. Im Schutz einiger Bäume wuchsen Azaleen, deren letzte Blüten die dunkle Erde darunter bedeckten.
Stourbridge klopfte an die dritte Tür im Korridor und zog sie auf ein Murmeln von der anderen Seite hin auf. Dann führte er Monk hinein.
»Meine Liebe, dies ist Mr. Monk«, stellte er ihn vor. »Er will uns helfen, Miriam zu finden.«
Mrs. Stourbridge saß auf einem großen, chintzbezogenen Sessel. Auf dem Kirschbaumtisch neben ihr lag ein Sammelalbum mit Gedichten und Fotografien, in dem sie offenbar geblättert hatte, bevor sie unterbrochen wurde. Die Ähnlichkeit mit ihrem Sohn war unübersehbar. Sie hatte die gleichen dunklen Augen, und die Wangen und der Hals bildeten die gleiche sanft geschwungene Linie. Wenn Lucius sie tatsächlich dem Vorschlag seines Vaters folgend besucht hatte, war er nicht lange geblieben. Sie musterte Monk voller Besorgnis. »Guten Tag«, sagte sie ernst. »Bitte, treten Sie näher. Sagen Sie mir, wie Sie meinem Sohn helfen können.«
Monk setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. Er war bequemer, als die gerade Rückenlehne vermuten ließ, und unter anderen Umständen hätte der helle, warme Raum behaglich gewirkt. Jetzt zermarterte er sein Gehirn nach Fragen, die er dieser Frau stellen konnte und die ihm helfen würden zu verstehen, was Miriam Gardiner zu einer so ungewöhnlichen Flucht getrieben haben mochte.
Stourbridge entschuldigte sich und ließ sie allein. Mrs. Stourbridge sah Monk ruhig und abwartend an.
»Würden Sie mir bitte Mrs. Gardiner beschreiben?«, bat Monk. Er wollte ein Bild vor sich haben, nicht nur, um sich Miriam Gardiner besser vorstellen zu können, sondern auch um zu erfahren, wie Mrs. Stourbridge sie sah.
Sie schien überrascht zu sein. »Wo wollen Sie nach ihr suchen, Mr. Monk? Wir haben keine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnte. Natürlich haben wir es bei ihr zu Hause versucht, aber sie ist nicht dorthin zurückgekehrt. Ihr Hausmädchen hat nichts mehr von ihr gehört, seit sie zu ihrem Besuch bei uns aufbrach.«
»Ich hätte gern die Meinung einer anderen Frau über sie erfahren«, erklärte er. »Ihre Einschätzung ist wahrscheinlich weniger romantisch und vielleicht akkurater als das, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe.«
»Oh. Ich verstehe. Ja, natürlich.« Sie lehnte sich zurück. Sie war schlank, wahrscheinlich Mitte vierzig und von einer natürlichen Anmut, die sich in der Art und Weise ausdrückte, wie sie die Hände hielt und die ausladenden Röcke über dem Sessel ausgebreitet hatte. Während Monk ihr intelligentes Gesicht betrachtete, ging ihm durch den Kopf, dass ihr Bild von Miriam Gardiner wahrscheinlich klarer und unsentimentaler sein würde, vielleicht die erste Darstellung, die ihm wirklich Aufschluss über den Charakter der verschwundenen Frau geben würde.
»Sie ist durchschnittlich groß«, begann Mrs. Stourbridge, die ihre Worte sorgfältig erwog. »Vielleicht eine Spur üppiger, als eine junge Frau sich das wünschen würde. Ich nehme an, mein Sohn hat Ihnen bereits erzählt, dass sie mindestens neun Jahre älter ist als er?«
»Mindestens?«, hakte er nach. »Sie meinen, sie hat neun Jahre zugegeben, aber Sie persönlich denken, es könnten mehr sein?«
Sie zuckte fast unmerklich mit den Schultern, ohne ihm jedoch zu antworten. »Sie hat wunderbares Haar, blond und dicht und mit sehr hübschen Naturwellen«, fuhr sie fort. »Blaue Augen, einen ziemlich guten Teint und gesunde Zähne. Insgesamt vermittelt ihr Gesicht den Eindruck von Großzügigkeit, freundlichem Wesen und durchschnittlich guter Gesundheit. Sie kleidete sich recht ansprechend, aber ohne Extravaganz. Ich denke, sie verfügt über ein bescheidenes Einkommen, mit dem sie gut zu wirtschaften vermag.«
»Das hört sich an, als sei sie ein Ausbund an Tugend, Mrs. Stourbridge«, bemerkte Monk ein wenig trocken. »Ich sehe noch immer keine Frau aus Fleisch und Blut vor mir, nur eine Auflistung bewundernswerter Eigenschaften.«
Sie hob pikiert die Augenbrauen und musterte ihn mit einem kühlen Blick, den er ruhig erwiderte. Nach und nach entspannte sie sich.
»Ich verstehe«, erwiderte sie. »Natürlich. Sie haben mich gefragt, wie sie aussieht. Sie war eine sehr angenehme Erscheinung. Auch charakteristisch hatte ich nichts an ihr auszusetzen, aber sie war durchaus zu unabhängigem Denken fähig. Sie fragen mich, ob sie Fehler gehabt hätte? Natürlich hatte sie die. Sie war bisweilen halsstarrig und hatte zu bestimmten gesellschaftlichen Themen eigenwillige und unpassende Ansichten. Sie pflegte einen allzu vertrauten Umgang mit den Dienstboten, was hier und da zu Schwierigkeiten führte. Ich denke, sie hatte noch viel zu lernen, was die Führung eines Hauses von der Größe und dem hohen Standard betraf, die meinem Sohn vorgeschwebt hätten.« Sie sah Monk direkt in die Augen. »Höchstwahrscheinlich wäre sie nicht unsere erste Wahl auf der Suche nach einer Ehefrau für ihn gewesen. Es gibt passendere junge Frauen in unserer Bekanntschaft, aber wir waren nicht unglücklich mit ihr, Mr. Monk, und sie kann sich das auch nicht eingebildet haben.«
»Hätte sie ihm einen Erben schenken können?« Es war eine indiskrete Frage und ein Thema, das häufig tiefe Gefühle weckte. Zu allen Zeiten waren Frauen aus diesem Grund verstoßen worden.
Mrs. Stourbridge war ein wenig blass geworden, aber ihre Hände auf dem Schoß verkrampften sich nicht.
»Natürlich würde ein jeder sich das wünschen, aber wenn man einen Menschen akzeptiert, muss man das mit ganzem Herzen tun. Es war nicht ihre Schuld. Wenn ich davon überzeugt gewesen wäre, dass sie ihm mit voller Absicht ein Kind verwehrt hätte, dann hätte ich ihr einen Vorwurf daraus gemacht, aber in einem Punkt bin ich mir vollkommen sicher, nämlich dass sie ihn liebte. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist oder warum, Mr. Monk. Ich würde viel darum geben, wenn Sie sie finden und uns zurückbringen könnten, unversehrt und so sanft und liebevoll, wie sie es vorher war.«
Monk zweifelte nicht an ihrer Aufrichtigkeit. Ihre Stimme verriet eine tiefe Besorgnis, die er spüren konnte, obwohl sie sich erst seit wenigen Minuten kannten und er nichts von ihr wusste.
»Ich werde tun, was ich kann, Mrs. Stourbridge«, versprach er. »Ich glaube, Sie gehörten nicht zu denen, die Mrs. Gardiner von der Gesellschaft haben weggehen sehen?«
»Nein. Ich unterhielt mich gerade mit Mrs. Washburne, die meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Sie ist keine einfache Frau.«
»Wirkte Mrs. Gardiner irgendwie ängstlich vor der Gesellschaft?«
»Ganz und gar nicht. Sie war ausgesprochen glücklich.« In ihren Zügen lag nicht der Schatten eines Zweifels.
»War sie mit allen Gästen bekannt?«
»Ja. Wir haben gemeinsam die Gästeliste zusammengestellt.«
»Ist irgendjemand gekommen, der nicht eingeladen war? Vielleicht als Begleitung eines der geladenen Gäste?«
»Nein.«
»Gab es irgendwelche Meinungsverschiedenheiten oder Unannehmlichkeiten, irgendeinen unerwünschten Vorfall?«
»Nein.« Sie schüttelte leicht den Kopf, ohne jedoch den Blick von ihm abzuwenden. »Es war ein sehr schöner Tag. Das Wetter war strahlend. Niemand hat die Geselligkeit durch unangemessenes Betragen verdorben. Ich habe sämtliche Diener befragt, und niemand hat etwas anderes bemerkt oder gehört als die üblichen trivialen Gespräche. Das Einzige, wovon berichtet werden konnte, war eine Meinungsverschiedenheit zwischen Mr. Wall und Reverend Mr. Dabney wegen eines Krocketschlags, der angeblich eine recht erbärmliche Leistung darstellte. Es hatte nichts mit Miriam zu tun.«
»Sie spielte selbst nicht?«
Der Anflug eines Lächelns ging über Mrs. Stourbridges Gesicht, aber es lag keine Kritik darin.
»Nein. Sie zog es vor zuzusehen. Ich denke, sie hat nie wirklich zu spielen gelernt und wollte es nicht gern zugeben.«
Er wechselte das Thema. »Zu dem Kutscher, Treadwell. Er ist nicht zurückgekommen, und wie ich höre, weiß auch in seinem Fall niemand, was mit ihm geschehen sein könnte.«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Das ist wahr. Kein ganz zufriedenstellender junger Mann. Wir haben ihn eingestellt, weil er der Neffe der Köchin ist, einer sehr treuen und zuverlässigen Frau. Man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen.«
»Und natürlich ist Ihre Kutsche ebenfalls verschwunden?«
»So ist es.«
»Ich werde Ihren Stallburschen um eine Beschreibung der Kutsche und des Fahrers bitten.« Diese Richtung der Nachforschungen schien ihm viel versprechender zu sein. »Gab es vielleicht eine Zofe, die sich besonders um Mrs. Gardiner kümmerte, wenn sie hier zu Gast war?«
»Ja, Amelia. Wenn Sie mit ihr sprechen möchten, werde ich nach ihr schicken.«
»Vielen Dank. Und ich würde auch gern mit Ihrer Köchin reden. Vielleicht weiß sie etwas über Treadwell.«
Es klopfte an der Tür, die geöffnet wurde, bevor sie Zeit zu einer Antwort hatte. Der Mann, der eintrat, war groß und breitschultrig und ein wenig zu voll um die Hüften. Seine Gesichtszüge waren sehr ausgeprägt und die Familienähnlichkeit nicht zu übersehen.
»Das ist mein Bruder, Mr. Monk«, sagte Mrs. Stourbridge.
»Sie müssen der Privatermittler sein, den Lucius hinzugezogen hat.« Der Mann sah Monk ernst an und in seiner Stimme schwang eine Traurigkeit mit, die man beinahe für Verzweiflung halten konnte. »Aiden Campbell«, stellte er sich vor und reichte Monk die Hand. »Ich fürchte, Sie werden kaum Erfolg haben«, fuhr er mit einem entschuldigenden Blick in Richtung seiner Schwester fort. Dann wandte er sich wieder Monk zu. »Mrs. Gardiner hat das Haus aus freien Stücken verlassen. Obwohl wir sonst nur wenig über die genauen Umstände wissen, scheint das zumindest unbestreitbar zu sein. Vielleicht überkamen sie plötzlich schwer wiegende Zweifel, was ihre bevorstehende Heirat betraf, die sie bis zu diesem Augenblick hatte unterdrücken können. Wir werden vielleicht nie erfahren, was ihren jähen Sinneswandel ausgelöst hat.« Er sah Monk stirnrunzelnd an. »Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Suche nach ihr nicht zu weiterem Unglück führen wird.« Er holte tief Luft. »Keiner von uns möchte das. Bitte, seien Sie sehr vorsichtig bei Ihren Ermittlungen, Mr. Monk. Sie würden vielleicht Entdeckungen machen, von denen wir besser nichts erfahren sollten. Ich hoffe, Sie verstehen mich?«
Monk verstand ihn nur zu gut. Er teilte Campbells Ansicht. Jetzt wünschte er, er wäre klug genug gewesen, seinem ursprünglichen Gefühl nachzugeben und den Fall abzulehnen, als Lucius ihn mit den Tatsachen vertraut gemacht hatte.
»Ich bin mir dieser Möglichkeiten bewusst, Mr. Campbell«, antwortete er leise. »Ich teile Ihre Meinung, dass ich Mrs. Gardiner vielleicht nicht werde finden können und dass sie, falls ich es doch tue, möglicherweise zu ihrem Entschluss stehen wird. Ich habe jedoch Mr. Stourbridge mein Wort gegeben, dass ich nach ihr suchen werde.« Als er den Unwillen in Campbells Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ich habe ihm meine Ansicht bezüglich der Erfolgsaussichten mitgeteilt, und ich werde ihm offen über meine Fortschritte beziehungsweise deren Ausbleiben Bericht erstatten.«
Campbell schwieg weiterhin, vergrub die Hände in den Taschen und starrte zu Boden.
»Aiden«, sagte seine Schwester sanft, »ich weiß, du glaubst nicht, dass sie zurückkommen wird, und dass die Suche nach ihr nur weiteres Unglück nach sich ziehen könnte, aber weder Harry noch Lucius werden das akzeptieren. Sie haben beide das Gefühl, alles in ihrer Macht Stehende tun zu müssen, um herauszufinden, wo sie ist, ob es ihr gut geht und warum sie weggegangen ist – Harry tut es wahrscheinlich nur für Lucius, aber er ist nichtsdestoweniger fest entschlossen. Ich glaube, wir sollten sie lieber unterstützen, anstatt ihnen das Gefühl zu geben, allein dazustehen.«
Er hob den Blick und sah sie fest an. »Natürlich.« Er lächelte, aber die Mühe, die dieses Lächeln ihn kostete, entging Monk nicht. »Natürlich, Verona. Du hast vollkommen Recht. Die Sache muss ihren Lauf nehmen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mr. Monk? Vielleicht führe ich Sie am besten zum Stall, damit Sie sich dort nach James Treadwell erkundigen können. Möglich, dass er hinter der ganzen Geschichte steckt.«
Monk nahm das Angebot an, dankte Mrs. Stourbridge und entschuldigte sich. Dann folgte er Campbell die Treppe hinunter und durch eine Nebentür zu den Stallungen. Der Tag draußen war strahlend hell, und in der stickigen Hitze des Hofs mischten sich die Gerüche von Heu, Pferdeschweiß und dem durchdringenden Gestank von Mist. Er hörte ein Pferd wiehern und mit den Füßen stampfen.
Ein rothaariger Junge, der in einer Hand eine Bürste hielt, blickte neugierig zu ihm auf.
»Beantworte Mr. Monks Fragen, Billy«, befahl Campbell. »Er ist hier, um Major Stourbridge zu helfen, Treadwell und die verschwundene Kutsche zu finden.«
»Die sehen Sie nie wieder, wenn Sie mich fragen«, antwortete Billy voller Abscheu. »So ‘ne Kutsche ist ganz schön was wert.«
»Du glaubst, er hat die Kutsche verkauft und sich davongemacht?«, fragte Monk.
Billy sah ihn mit unverhohlener Verachtung an. »Klar glaub ich das! Was ‘n sonst? Er ist hier weg, als war der Teufel hinter ihm her! Niemand hat ihn geschickt! Der kommt bestimmt nicht zurück! Wenn er nicht die Biege gemacht hat, wo is’ er dann?«
»Vielleicht hatte er einen Unfall?«, meinte Monk.
»Das erklärt aber nicht, warum er überhaupt weg ist.« Billy sah ihn trotzig an. »Wenn er nicht tot ist, hätt’ er uns sagen müssen, was passiert ist, oder?«
»Falls er nicht zu schwer verletzt ist«, setzte Monk den Gedankengang fort.
Billys Augen wurden schmal. »Dann sind Sie also ein Freund von ihm?«
»Ich hab ihn nie kennen gelernt. Ich wollte deine Meinung von ihm hören, die offensichtlich nicht allzu hoch ist.«
Billy zögerte. »Hm – kann nicht sagen, dass ich ihn mögen würd’«, meinte er ausweichend. »Andererseits kann ich auch nichts Schlechtes über ihn sagen. Bloß dass er weg ist – was schlimm genug ist.«
»Und Mrs. Gardiner?«, fragte Monk.
Billy seufzte. »Das war ‘ne nette Dame, die, o ja. Wenn er ihr was angetan hat, dann hoff ich, er ist tot – und ich hoffe, er hatte einen schlimmen Tod.«
»Du glaubst nicht, dass sie freiwillig mit ihm gegangen ist?« Billy warf einen kurzen Blick auf Campbell, dann sah er wieder Monk an. »Was sollte ‘ne Dame wie die mit ‘nem windigen Kerl wie dem? Er hat sie ab und zu durch die Gegend kutschiert, aber das war ja seine Arbeit!«
»Hielt sie Treadwell auch für einen windigen Kerl?«
Billy dachte kurz nach. »Hm, vielleicht nicht. Die war immer ‘n bisschen freundlicher als nötig. Naiv, wenn Sie wissen, was ich meine?«
»Mrs. Gardiner war mit den Dienstboten immer eine Spur zu vertraulich, Mr. Monk«, erklärte Campbell die Bemerkung des Jungen. »Gut möglich, dass sie Treadwells Charakter nicht zu beurteilen vermochte. Es hat ihr wahrscheinlich niemand erzählt, dass er seine Stelle hier vor allem der Tatsache verdankte, dass er ein Verwandter der Köchin war, die in diesem Haus sehr geschätzt wird.« Er lächelte und biss sich auf die Unterlippe. »Gute Köchinnen sind ein Segen, auf den kein Haus so ohne weiteres verzichten mag, und sie hat der Familie schon treu gedient, bevor meine Schwester hierher kam.« Er sah sich im Stall um, und sein Blick verweilte auf dem leeren Kutschenplatz. »Die Tatsache bleibt bestehen, dass Treadwell verschwunden ist und mit ihm eine sehr wertvolle Kutsche, zwei gute Pferde und das gesamte Geschirr.«
»Haben Sie den Vorfall der Polizei gemeldet?«, fragte Monk. Campbell vergrub die Hände in den Taschen und richtete sich ein klein wenig höher auf. »Noch nicht. Offen gesagt, Mr.
Monk, ich halte es für unwahrscheinlich, dass mein Schwager in dieser Hinsicht etwas unternehmen wird. Er versucht um Lucius’ willen den Anschein zu erwecken, dass Mrs. Gardiner nichts Schlimmes zugestoßen ist und am Ende alles eine zufrieden stellende Erklärung finden wird. Ich selbst hege in dieser Beziehung leider ernste Zweifel.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging über den Stallhof zum Garten, wo weder Billy noch jemand anderer sie hören konnte. Monk folgte ihm, und erst als sie den geschotterten Weg, der den Rasen begrenzte, erreicht hatten, sprach Campbell weiter.
»Ich befürchte, dass die Antwort sich als überaus einfach erweisen wird: Mrs. Gardiner war sehr charmant und auf ihre Weise attraktiv, aber sie stammte eben doch nicht aus Lucius’ Kreisen. Wahrscheinlich ist ihr, nachdem die Verliebtheit abgeklungen war, klar geworden, dass sie ihn niemals würde glücklich machen können, dass sie einfach nicht in sein Leben passte. Erklärungen wären in diesem Fall für alle Beteiligten schmerzlich gewesen, und sowohl Lucius als auch Major Stourbridge hätten es als eine Frage der Ehre betrachtet, den Versuch zu machen, ihre Meinung zu ändern. Mrs. Gardiner wusste all das und hat ihnen die Sache erleichtert, indem sie einfach weglief.«
Er sah Monk von der Seite an, und in seinem Gesicht stand ein beinahe mitleidiger und ein wenig trauriger Ausdruck. »Es ist nicht unbedingt ein ehrloses Verhalten. Auf ihre Weise hat sie das Beste getan, was man tun konnte. Es kann kein Zweifel bestehen, dass sie Lucius liebt. Jeder konnte sehen, wie sehr sie aneinander hingen. Sie schienen ungewöhnlich viel gemein zu haben, sie dachten ähnlich, hatten einen ähnlichen Geschmack und sogar den gleichen Sinn für Humor. Aber sie ist älter als er und bereits Witwe, und sie kommt aus einer sehr – einfachen – Gesellschaftsschicht. Auf diese Weise bleibt es eine große Liebe. Die Erinnerung daran wird niemals durch die Konfrontation mit alltäglichen Dingen getrübt werden. Denken Sie gut nach, Mr. Monk, bevor Sie eine Tragödie heraufbeschwören.«
Monk stand im Licht der späten Morgensonne in diesem friedlichen Garten voller Vogelgezwitscher, in dem vielleicht eine selbstlose Entscheidung getroffen worden war. Die Lösung schien die wahrscheinlichste zu sein.
»Ich habe Major Stourbridge bereits gesagt, dass ich, wenn ich Mrs. Gardiner finde, keinen Versuch unternehmen werde, sie gegen ihren Willen zu einer Rückkehr zu überreden«, antwortete er. »Ebenso wenig werde ich ihm Bericht über Dinge erstatten, von denen sie es nicht wünscht. Es wäre gut möglich, dass sie auch ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht zu enthüllen wünscht.«
Campbell antwortete nicht sofort. Nach einer Weile blickte er auf und musterte Monk, als fälle er ein Urteil, das für ihn von großer Bedeutung war.
»Ich baue darauf, dass Sie diskret sein werden und nicht vergessen, dass Sie es mit tiefen Gefühlen zu tun haben und mit Männern, für die der Begriff Ehre ein hohes Gut ist.«
»Ich werde es nicht vergessen«, erwiderte Monk und wünschte sich zum wiederholten Male, Lucius Stourbridge hätte einen anderen um Hilfe gebeten. Er verfluchte sich, dass er sich von seiner Sentimentalität und nicht dem Verstand hatte leiten lassen, als er den Fall übernahm. Anscheinend hatte die Ehe ihm bereits den Geist vernebelt!
»Es ist Zeit für den Lunch«, sagte Campbell und sah zum Haus hinüber. »Ich nehme an, Sie bleiben zum Essen?«
»Ich muss noch mit den Dienstboten sprechen«, antwortete Monk grimmig. »Auch wenn ich nichts von ihnen erfahre.«