6
Monk ging der Gedanke an Miriam Gardiners Verhaftung einfach nicht aus dem Kopf. Er schlief sehr tief, aber als er aufwachte, musste er sofort an sie denken. Er fasste den Entschluss, sie zu besuchen.
Für den Fall, dass die Gefängniswärter Schwierigkeiten machen sollten, würde er ohne Skrupel behaupten, ihr Rechtsbeistand zu sein, den zu sprechen sie berechtigt war.
Monk fand sie allein in einer Zelle vor, die Hände auf dem Schoß gefaltet, das Gesicht bleich, aber so gefasst, dass es fast beängstigend war. Sie schien nicht wütend zu sein, aller Kampfesmut hatte sie verlassen. Sie war weder erfreut noch verärgert, ihn zu sehen, so als spiele seine Anwesenheit überhaupt keine Rolle.
Die Zellentür fiel klirrend hinter ihm ins Schloss, und er hörte, wie der schwere Riegel vorgeschoben wurde. Der Raum war vielleicht fünf mal fünf Schritte groß, schwarzer Steinboden und weiß getünchte Wände. Eine hoch in der Wand gelegene Öffnung, die mit einem schweren Glas versehen war, ließ zwar Licht, aber keine Farbe hinein. Der Himmel dahinter konnte ebenso gut blau wie grau sein. Die Luft war stickig.
»Mrs. Gardiner…«, begann Monk. Er hatte sich genau zurechtgelegt, was er ihr sagen wollte, aber jetzt schien ihm alles gleichermaßen unpassend. Hier war Intelligenz gefordert, wenn er ihr in ihrer Verwirrung und ihrem Schmerz beistehen sollte. »Ich hatte gehofft, Robb würde sie nicht finden, aber da es ihm nun doch gelungen ist, erlauben Sie mir bitte, Ihnen zu helfen.«
Sie sah ihn mit leerer, beinahe ausdrucksloser Miene an.
»Sie können mir nicht helfen, Mr. Monk. Ich spreche nicht von Ihren Fähigkeiten, sondern davon, dass meine Situation es einfach nicht zulässt.«
Er nahm ihr gegenüber Platz. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Wissen Sie, wer Treadwell getötet hat?«
Sie hielt den Blick abgewandt und starrte vor sich hin.
»Wissen Sie es?«, wiederholte er eindringlicher.
»ich kann Ihnen nichts sagen, was irgendjemandem von Nutzen sein könnte, Mr. Monk.« Sie sprach mit großer Entschiedenheit, und in ihren Worten schwang nicht die geringste Hoffnung mit.
»Haben Sie ihn getötet?«, wollte er wissen.
Sie hob langsam den Kopf und sah ihn mit großen Augen an. Bevor sie sprach, wusste er schon, was sie sagen würde.
»Nein.«
»Wer war es dann?«
Sie senkte erneut den Blick.
Seine Gedanken überschlugen sich. Es konnte nur einen einzigen Grund für ihr Schweigen geben: Sie musste jemanden schützen. Hatte sie überhaupt eine Vorstellung davon, was das für sie bedeutete?
»Hat Treadwell Sie bedroht?«, fragte er.
»Nein.« Aber sie schien über diese Frage nicht im Geringsten überrascht zu sein. Wen schützte sie? Cleo Anderson, die fast wie eine Mutter für sie gewesen war? Einen Geliebten von früher oder vielleicht einen Verwandten ihres ersten Mannes?
»Hat er jemand anderen bedroht? Hat er Sie erpresst?«, hakte Monk nach. »Hat Treadwell Sie wegen etwas erpresst, das mit Ihrem Leben hier in Hampstead zusammenhing?«
»Nein.« Wieder hob sie den Kopf. »Es gab nichts, womit er mich hätte erpressen können.« Tränen traten ihr in die Augen, dann versank sie wieder in Apathie. Die nüchterne Zelle mit dem hölzernen Bettgestell und der Strohmatratze, die nackten Wände und die drückende Luft nahm sie kaum wahr. Sie war ganz in sich selbst versunken und hatte keine Vorstellung davon, was geschehen würde, wenn sie sich nicht verteidigte.
Er betrachtete ihre zusammengesunkene Gestalt auf dem Stuhl, halb abgewandt von ihm und teilnahmslos.
»Miriam!« Er streckte die Hand aus und berührte sie. Ihr Körper war wie erstarrt. »Miriam! Was ist passiert? Warum haben Sie das Haus der Stourbridges verlassen? Hatte es etwas mit Treadwell zu tun?«
»Nein…« Ihre Stimme klang ein wenig lebhafter als zuvor.
»Nein«, wiederholte sie. »Es hatte nichts mit Treadwell zu tun. Er war nur so freundlich, mich zu kutschieren.«
»Sie haben ihn einfach darum gebeten, und er war einverstanden?«, fragte er überrascht. »Wollte er nicht wissen, warum?«
»Nein, keine Gründe. Bezahlung.«
»Sie haben ihm Geld gegeben?«
»Mein Medaillon. Es ist nicht wichtig.«
Dass sie sich vielleicht von einem persönlichen Schmuckstück trennte, zeigte, wie groß ihre Verzweiflung gewesen sein musste. Er fragte sich, was aus dem Medaillon geworden war. Man hatte es nicht bei Treadwells Leiche gefunden. Hatte der Mörder es mitgenommen?
»Wo ist es jetzt?«, fragte er sie. »Haben Sie es wieder an sich genommen?«
Sie runzelte die Stirn. »Wo es ist? Ist es denn nicht bei ihm…
bei seiner Leiche?«
»Nein.«
Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Dann weiß ich es nicht. Aber es spielt keine Rolle. Verschwenden Sie Ihre Energie nicht auf diese Frage, Mr. Monk. Vielleicht findet es seinen Weg zu jemandem, der Gefallen daran findet. Ich würde mich freuen, wenn es nicht in irgendeinem Rinnstein landet, aber wenn es so wäre, könnte ich es jetzt auch nicht mehr ändern.«
»Worauf sollte ich denn Ihrer Meinung nach meine Energie verwenden, Miriam?«
Sie schwieg so lange, dass er seine Frage gerade wiederholen wollte, als sie endlich antwortete.
»Sprechen Sie Lucius Mut zu…« Ohne Vorwarnung verlor sie die Beherrschung, beugte den Kopf vor und schlug sich die Hände vors Gesicht. Ein heftiges Schluchzen schüttelte ihren Körper.
Wie viel er darum gegeben hätte, ihr zu helfen. Sie war allein und schutzlos. Er streckte die Hand aus und umfasste ihren Arm.
»Worte werden ihn nicht trösten, wenn Sie auf der Anklagebank sitzen oder wenn der Richter Sie zum Tod durch den Strick verurteilt! Sagen Sie mir die Wahrheit, so lange ich noch etwas tun kann! Warum haben Sie das Haus der Stourbridges verlassen? Und wenn Sie darüber nicht sprechen wollen, sagen Sie mir wenigstens, was in Hampstead passiert ist. Wer hat Treadwell getötet? Wo waren Sie? Warum sind Sie weggelaufen? Vor wem haben Sie Angst?«
Sie brauchte einige Augenblicke, um sich wieder zu fassen. Sie putzte sich die Nase, dann antwortete sie ihm mit einer leisen, erstickten Stimme.
»Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich weggegangen bin, nur dass mir nichts anderes übrig blieb. Was in Hampstead geschah, ist sehr einfach. Treadwell wurde überfallen und ermordet. Vielleicht war es meine Schuld, aber ich habe es nicht getan, das schwöre ich. Ich habe nie in meinem Leben jemandem absichtlich wehgetan.« Sie sah ihn mit rot geränderten Augen an. »Bitte, sagen Sie das Lucius, Mr. Monk. Ich habe noch nie jemandem wissentlich Schmerz zugefügt. Ich möchte, dass er glaubt…« Ihre Worte gingen in einem Schluchzen unter.
»Das glaubt er ohnehin«, beruhigte er sie. »Es ist nicht Lucius, um den Sie sich Sorgen machen müssen. Ich bezweifle, dass er jemals schlecht von Ihnen denken wird. Es sind die anderen, vor allem Sergeant Robb und später dann die Geschworenen, mit denen Sie es zu tun haben werden. Es sei denn, Sie machen eine Aussage. Haben Sie gesehen, wer Treadwell getötet hat? Antworten Sie mir wenigstens mit ja oder nein.«
»Ja. Aber niemand würde mir glauben, selbst wenn ich spräche… und das werde ich nicht.« Ihre Worte klangen unwiderruflich.
»Stellen Sie mich auf die Probe!«, bedrängte er sie. »Sagen Sie mir die Wahrheit und lassen Sie mich entscheiden, ob ich Ihnen glaube oder nicht! Wenn Sie unschuldig sind, muss ein anderer den Mord begangen haben, und wir müssen ihn finden! Wenn man ihn nicht findet, werden Sie gehängt!«
»Ich weiß. Dachten Sie, das wäre mir nicht klar?«
Er fragte sich, ob sie geistig überhaupt zurechnungsfähig sei, ob sie vielleicht labiler war, als Lucius ahnte, aber der Gedanke verflüchtigte sich rasch wieder.
»Werden Sie mit Lucius sprechen? Oder mit Major Stourbridge?«, fragte er.
»Nein!« Sie wich entsetzt zurück und zum ersten Mal hörte er echte Angst in ihrer Stimme. »Nein… das will ich nicht. Wenn Sie mir wirklich helfen wollen, dann fragen Sie mich nicht noch einmal danach.«
»Das werde ich nicht«, versprach er.
»Geben Sie mir Ihr Wort darauf?« Sie sah ihn mit eindringlichem Blick an.
»Ja, das tue ich. Aber ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, dass niemand Ihnen helfen kann, solange Sie nicht die Wahrheit sagen. Wenn Sie schon nicht mit mir sprechen, würden Sie dann mit einem Anwalt reden, mit jemandem, der gesetzlich verpflichtet ist, Stillschweigen zu bewahren?«
Ein Lächeln huschte über ihre Züge und verschwand wieder.
»Es würde keinen Unterschied machen. Es ist die Wahrheit selbst, die verletzt, Mr. Monk, nicht das, was man damit tun kann. Ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind. Ich bin sicher, Sie haben nur die besten Absichten, aber Sie können nicht helfen. Bitte lassen Sie mich jetzt allein.« Sie wandte sich wieder ab, und er war entlassen.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden. Er stand auf, zögerte noch einen Moment, ohne etwas Konkretes im Sinn zu haben, und rief dann nach dem Gefängniswärter, der ihn hinaus ließ.
Direkt vor dem Gefängnistor traf er auf Michael Robb. Er sah müde aus, und es erfüllte Monk mit einer seltsamen Genugtuung, dass der Sergeant offensichtlich keinen Triumph über seinen Sieg empfand.
Sie standen einander auf dem staubigen Fußweg gegenüber.
»Sie waren bei ihr«, stellte Robb fest.
»Sie wird nicht mit Ihnen sprechen«, erwiderte Monk. Es war keine Antwort, sondern eine Feststellung. »Sie wird mit niemandem sprechen. Sie will nicht einmal Stourbridge sehen.«
Robb musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Nein«, entgegnete Monk.
Robb schob die Hände in die Taschen und gab sich bewusst lässig, wie um den Gegensatz zu Monk zu unterstreichen. »Ich werde es herausfinden«, versprach er. »Ganz gleich, wie lange ich dafür brauche, ich werde in Erfahrung bringen, was mit Treadwell passiert ist – oder jedenfalls so viel, um Anklage zu erheben. Es muss etwas in seiner oder in ihrer Vergangenheit geben, das zu dem Mord geführt hat.« Er ließ Monk nicht aus den Augen, als wolle er aus seiner Reaktion herauslesen, was der andere Mann wusste.
»Das müssen Sie wohl«, pflichtete Monk ihm bei. »Im Augenblick haben Sie nicht mehr als einen Verdacht – nicht genug, um jemanden dafür zu hängen.«
Robb zuckte unmerklich zusammen. Es war ein hässliches Wort, eine hässliche Realität. »Ja, ich weiß.« Seine Stimme war sehr leise. »Treadwell mag von Grund auf schlecht gewesen sein und nach allem, was ich weiß, hat er einiges auf dem Kerbholz gehabt und etwas in der Art herausgefordert, aber an dem Tag, an dem wir zulassen, dass Leute auf der Straße das Recht selbst in die Hand nehmen, an dem Tag verlieren wir das Recht, uns zivilisiert zu nennen.« Er brachte seine Worte mit großer Überzeugung vor und forderte Monk förmlich heraus, ihn auszulachen, aber gleichzeitig erfüllten sie ihn auch mit Stolz.
»Ich werde Ihnen nicht im Weg stehen«, antwortete er ruhig und bestimmt. »Keiner von uns kann sich private Rachefeldzüge leisten.« Er begleitete seine Worte mit einem Lächeln und fragte sich, ob Robb auch nur die leiseste Ahnung davon hatte, wie nahe er der Wahrheit kam.
»Sie wäre besser beraten, wenn sie uns alles erzählte«, meinte Robb mit einem Stirnrunzeln. »Können Sie sie nicht dazu überreden? Wenn sie es nicht tut, werde ich ihr ganzes Leben unter die Lupe nehmen müssen, ihre Freunde, ihren ersten Ehemann… alles.«
»Das ist eines der Probleme bei Mordfällen.« Monk nickte.
»Sie erfahren mehr über die Beteiligten, als Ihnen lieb ist, nicht nur die Geheimnisse, die mit dem Verbrechen zusammenhängen, sondern auch all die Dinge, die nichts damit zu tun haben. Unschuldigen Menschen wird ihre Maske heruntergerissen. Man muss alles in Erfahrung bringen, was das Opfer getan haben könnte, um zu verstehen, was zu diesem Mord geführt hat. Natürlich werden Sie Treadwell kennen lernen… und Sie werden vielleicht Mitleid mit ihm empfinden und ihn zugleich hassen.«
»Haben Sie viele Mordfälle aufgeklärt?«, fragte Robb. Es war keine Herausforderung, in seiner Miene lagen Neugier und Respekt.
»Ja«, antwortete Monk. »Einige Morde konnte ich nachvollziehen, andere waren so kaltblütig, dass sie mir Angst machten.«
Robb musterte ihn eindringlich. Sekundenlang blieben beide Männer reglos an ihrem Platz stehen, ohne den Straßenlärm um sich herum wahrzunehmen.
»Ich denke, dieser Mord wird in die erste Kategorie fallen«, bemerkte der Sergeant schließlich. »Ich wünschte, es wäre anders. Ich hoffe keinen Schandfleck in Mrs. Gardiners Leben zu finden, mit dem Treadwell sie erpresst hat und mit dem er ihr Glück zerstören wollte. Aber ich muss trotzdem danach suchen. Und wenn ich etwas in der Art finde, werde ich es dem Gericht vorlegen.«
Monk dachte, wie jung der Sergeant doch war. Und er fragte sich, was er jetzt tun würde, wäre er an Robbs Stelle.
Aber das war er nicht. Er hatte kein weiteres Interesse an dem Fall. Seine Arbeit war getan, wenn auch nicht sehr zufrieden stellend.
»Natürlich werden Sie so handeln«, antwortete er. »Und nun auf Wiedersehen, Sergeant Robb.«
Robb blinzelte in der Sonne. »Auf Wiedersehen, Mr. Monk. Es war interessant, Sie kennen zu lernen.«
Er sah so aus, als wolle er noch etwas hinzufügen, aber dann änderte er seine Meinung und ging an ihm vorbei zum Gefängnistor.
Monk hatte keine weiteren Verpflichtungen in dem Fall, nicht einmal moralische. Miriam hatte jede Aussage verweigert. Er konnte nichts weiter tun.
Monk saß an seinem Schreibtisch und verfasste Briefe, aber er war nur mit halbem Herzen bei der Sache und daher hocherfreut, als es an der Tür läutete. Erst als er öffnete und sah, dass Lucius Stourbridge sein Besucher war, ließ die Freude nach. Konnte er irgendwelche tröstenden Worte sagen, die sein Mitleid ausdrückten? Lucius hatte ihn beauftragt, Miriam zu finden, und das war ihm gelungen, auch wenn das Ergebnis eine Katastrophe war.
Lucius wirkte erschöpft, er hatte dunkle Ringe unter den Augen und die Blässe unter der olivfarbenen Haut verlieh ihm ein fahles Aussehen.
»Ich weiß, Sie haben bereits alles getan, worum ich Sie gebeten habe, Mr. Monk«, begann er, noch bevor Monk ihn hereinbitten konnte. »Und dass Sie bereit waren, Mrs. Gardiner zu helfen, ja sogar ihren Aufenthaltsort vor der Polizei zu verbergen. Aber man hat sie trotzdem gefunden und sie verhaftet…« Seine Stimme brach, und er musste sich räuspern, bevor er fortfahren konnte, »… wegen des Mordes an Treadwell.« Er schluckte. »Ich weiß, dass sie so etwas niemals tun könnte. Bitte, Mr. Monk, ich zahle jeden Preis, ich gebe Ihnen alles, was ich habe, aber bitte, helfen Sie mir, das zu beweisen!« In seinem Blick spiegelte sich innere Qual.
»Es geht nicht um die Bezahlung, Mr. Stourbridge«, antwortete Monk bedächtig. »Bitte, treten Sie ein. Es geht um die Frage, was möglich ist und was nicht. Ich habe bereits mit Mrs. Gardiner gesprochen«, fuhr er fort, während er Lucius ins Wohnzimmer führte. »Sie will mir nicht sagen, was geschehen ist, nur dass sie nicht Treadwells Mörderin ist.«
»Natürlich ist sie das nicht«, protestierte Lucius. »Wir müssen sie retten, bevor man sie…« Er konnte es nicht ertragen, das Wort auszusprechen. »Wir müssen sie verteidigen. Ich… ich weiß nicht, wie oder…« Seine Stimme wurde leiser. »Aber ich kenne Ihre Reputation, Mr. Monk. Wenn irgendein Mensch in London uns helfen kann, dann sind Sie es.«
»Wenn Sie meinen Ruf kennen, dann wissen Sie auch, dass ich die Wahrheit nicht vertuschen werde, wenn ich sie herausfinde«, warnte Monk ihn. »Auch dann nicht, wenn sie nicht nach Ihrem Geschmack ist.«
Lucius reckte das Kinn vor. »Möglich, dass sie nicht nach meinem Geschmack ist, Mr. Monk, aber sie wird nicht darin bestehen, dass Miriam Treadwell ermordet hat. Es war jemand anderer, aber sie wagt nicht, es zu sagen, weil sie aus irgendeinem Grund Angst vor ihm hat.« Seine Stimme bebte ein wenig. »Aber sollte sie doch an seinem Tod schuld sein, dann war es entweder ein Unfall oder eine Bedrohung, der sie nicht im Stande war, etwas entgegenzusetzen.«
»Mr. Stourbridge«, sagte Monk barsch. »Ich weiß nicht, ob ich in diesem Fall die Wahrheit herausfinden kann. Wenn Sie es wünschen, werde ich es versuchen. Aber ich habe weitaus weniger Hoffnung als Sie, dass das Ergebnis für Sie angenehm sein wird. Die Tatsachen legen bisher nicht den Schluss nahe, dass Mrs. Gardiner unschuldig ist.«
Lucius war sehr blass. »Dann finden Sie weitere Fakten heraus, Mr. Monk. Ich kenne Miriam, und diese Fakten werden Miriams Ehre wiederherstellen.«
Monk hätte gern mehr Zeit gehabt, alle Konsequenzen abzuwägen, aber sie hatten keine Zeit. Robb würde bereits auf der Suche nach Beweisen sein und die Krone würde Anklage erheben, wenn diese ausreichten. Es gab nichts, worauf sich eine Verteidigung hätte gründen können.
»Sind Sie sich wirklich sicher?«, versuchte er ihn noch einmal von seinem Vorhaben abzubringen, obwohl er wusste, dass es sinnlos war.
»Ja«, antwortete Lucius sofort. »Ich habe zwanzig Guineen hier, und ich werde Ihnen noch mehr geben, so viel Sie brauchen. Alles, was Sie wollen, Sie müssen es mir nur sagen.« Er hielt Monk einen Lederbeutel voller Münzen hin.
Monk nahm das Geld nicht sofort an. »Als Erstes werde ich Ihre praktische Hilfe benötigen. Wenn Miriam nicht verantwortlich war für Treadwells Tod, dann handelt es sich entweder um einen Zufall, was ich nicht glaube, oder der Mord muss mit Treadwells Charakter und seinem Leben zusammenhängen. Ich werde damit beginnen, dass ich mir diesbezüglich ein möglichst genaues Bild mache. Auf diese Weise kann ich auch verhindern, auf Schritt und Tritt Sergeant Robb zu begegnen und damit vielleicht den Eindruck zu erwecken, seine Ermittlungen zu behindern. Und falls ich etwas in Erfahrung bringe, kann ich immer noch selbst entscheiden, ob ich ihm davon Mitteilung mache oder nicht.«
»Ja… ja«, stimmte Lucius ihm erleichtert zu. »Was kann ich tun?« Er zuckte ein wenig die Achseln. »Ich habe darüber nachgedacht, was für ein Mann Treadwell war, aber mir ist nichts eingefallen. Ich habe ihn fast jeden Tag gesehen, aber ich kann auf diese Frage keine vernünftige Antwort geben.«
»Ich habe nicht erwartet, dass Sie mir diesbezüglich Aufschluss geben können«, erklärte Monk. »Ich würde gern mit den anderen Dienern sprechen und dann so viel wie möglich über Treadwells Leben außerhalb von Bayswater herausfinden. Diese Dinge wüsste ich gern vor der Polizei, wenn sich das machen lässt.«
»Natürlich! Natürlich«, pflichtete Lucius ihm bei. »Ich danke Ihnen, Mr. Monk. Ich werde für immer in Ihrer Schuld stehen. Wenn es etwas gibt…«
Monk unterbrach ihn. »Bitte, danken Sie mir erst, wenn ich es verdient habe. Meine Ermittlungen könnten anders ausfallen, als Sie es sich wünschen.«
»Ich muss es wissen«, sagte Lucius. »Bis morgen früh dann, Mr. Monk…«
»Auf Wiedersehen, Mr. Stourbridge«, erwiderte Monk und begleitete ihn zur Tür.
Um zehn Uhr am nächsten Morgen fand Monk sich in dem Haus am Cleveland Square ein, und mit Lucius’ Unterstützung befragte er sämtliche Diener innerhalb und außerhalb des Hauses nach James Treadwell. Es widerstrebte ihnen, überhaupt von dem Mann zu sprechen, geschweige denn, ihm etwas Böses nachzusagen, aber Monk konnte in ihren Mienen und an der Unbeholfenheit ihrer Ausdrucksweise erkennen, dass der Kutscher zwar nicht allzu beliebt gewesen war, andererseits aber durchaus respektiert wurde, weil er sich auf seine Arbeit verstand.
Langsam entstand das Bild eines Mannes, der wenig von sich selbst preisgab, dessen Humor eher grausam als gutmütig war, der aber genug Sinn für die Hierarchie innerhalb des Hauses besaß, um sich nicht im Ton zu vergreifen oder Gefühle zu verletzen. Er hatte Charme und war gelegentlich großzügig, wenn er im Spiel gewann, was häufig geschah.
Keines der Dienstmädchen beklagte sich über Zudringlichkeiten. Nichts war verschwunden. Für seine wenigen Fehler hatte er nie die Schuld anderen in die Schuhe zu schieben versucht.
Monk durchsuchte Treadwells Räume, die immer noch leer standen, da bisher noch kein Ersatz für ihn gefunden worden war. Seine ganze Habe befand sich dort. Alles war ordentlich aufgeräumt, aber auf dem Nachttisch lag ein aufgeschlagenes Buch über Pferderennen. Neben der Kerze auf dem Fenstersims fand sich eine halb geöffnete Streichholzschachtel, und über der Rückenlehne eines Stuhls hing eine modische Weste. Es war das Zimmer eines Mannes, der damit rechnete zurückzukehren.
Monk untersuchte sowohl die Kleidung als auch die Stiefel mit großer Sorgfalt. Es überraschte ihn, von welch guter Qualität sie waren – in einigen Fällen seiner eigenen Kleidung ähnlich. Diese Dinge konnte Treadwell mit Gewissheit nicht vom Lohn eines Kutschers bezahlt haben. Wenn er beim Spiel so viel Geld gewonnen hatte, musste er sehr viel Zeit darauf verwandt haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass er über eine andere Einkommensquelle verfügt hatte, schien da erheblich größer zu sein.
Monk erkundigte sich, ob die Kleider vielleicht abgelegte Sachen von Lucius oder Harry Stourbridge waren. Es überraschte ihn nicht zu hören, dass dies nicht zutraf. Solche Sachen gingen an Diener, die erheblich länger im Haus waren, und diese pflegten sie für gewöhnlich nicht weiterzugeben.
So weit es Miriam Gardiner betraf, erfuhr Monk nicht mehr als das, was man ihm bereits erzählt hatte: Sie war nicht gewöhnt an den Umgang mit Dienstboten und behandelte Treadwell daher nicht mit der schicklichen Distanz, aber das galt auch für alle anderen Diener der Stourbridges. Niemand hatte beobachtet, dass sie sich dem Kutscher gegenüber anders benahm als gewöhnlich. Alle Diener sprachen sehr gut von ihr und schienen über die gegenwärtige Situation bekümmert zu sein.
Monk verbrachte den folgenden Tag in Hampstead und Kentish Town, wie er es Lucius gesagt hatte. Er ging meilenweit zu Fuß und stellte Fragen, bis sein Mund trocken und seine Kehle rau war. Er kam erst kurz nach neun nach Hause, als es draußen noch hell war, die Nachmittagshitze jedoch von einem leichten Abendwind gelindert wurde.
Zunächst wünschte er sich nichts sehnlicher, als seine Stiefel auszuziehen und seine müden Füße in einen Eimer mit Wasser zu stellen, aber Hesters Anwesenheit hielt ihn davon ab. Es war keine Beschäftigung, die einen Mann attraktiv erscheinen ließ. Er begrüßte sie freudig und ließ sich dann in der Kühle des Wohnzimmers nieder, ein Glas kalte Limonade neben sich, seine Stiefel noch immer fest geschnürt, und beantwortete ihre Fragen.
»Er hatte einen teuren Geschmack, der den Lohn, den Stourbridge ihm zahlte, bei weitem überstieg. Mindestens um das Dreifache.«
Hester runzelte die Stirn. »Glücksspiel?«
»Spieler gewinnen und verlieren. Er scheint sein Geld ziemlich regelmäßig bekommen zu haben. Aber was noch mehr ins Gewicht fällt, er hatte nur alle zwei Wochen einen freien Tag. Für Glücksspiel in dieser Größenordnung braucht man Zeit.«
Sie sah ihn mit ängstlichem Blick an. Ganz gegen ihre Gewohnheit drang sie nicht weiter in ihn.
Er war überrascht. »Ich frage mich, ob er vielleicht eine Mätresse mit dem nötigen Kleingeld hatte, die ihm teure Geschenke machte«, fuhr er fort. »Aber so wie es aussieht, hatte er selbst das Geld und hat die Sachen auch selbst gekauft. Er gab gern Geld aus, und er hat es keineswegs heimlich getan.«
»Also denkst du, dass er es auf ehrlichem Weg erworben hat?« Ihre Augen weiteten sich.
»Nein… Ich denke, er hatte keine Angst, dass jemand seine Unehrlichkeit enthüllen könnte«, korrigierte er sie. »Das Geld war nicht gestohlen, aber es gibt noch andere unehrenhafte Möglichkeiten…«
»Für einen Kutscher? Was soll das sein?«
Die Antwort lag auf der Hand. Warum sprach sie sie nicht aus?
»Erpressung«, erwiderte er.
»Oh.« Sie sah ihn ruhig an. Er hatte das Gefühl, dass sie ihre Gedanken vor ihm verbarg und dass sie etwas mit dem Thema zu tun hatten, über das sie sprachen. Aber wie konnte sie etwas über Treadwell wissen? Allerdings hatte sie in dem Krankenhaus in Hampstead gearbeitet.
»Es scheint das Naheliegendste zu sein«, sagte er und bemühte sich, seiner Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben. »Das oder Diebstahl, wofür er jedoch kaum Zeit gehabt haben dürfte. Er lebte im Haus der Stourbridges, und sie haben keine Diebstähle gemeldet. Er lebte an seinem freien Tag gut, aß teuer, trank, so viel er wollte, besuchte Revuen und las die nächstbeste Frau auf, die ihm gefiel.«
Sie wirkte nicht überrascht, nur traurig.
»Ich verstehe.«
»Tatsächlich?«
»Nein… ich meinte nur, ich kann deiner Argumentation folgen. Es sieht tatsächlich so aus, als hätte er vielleicht jemanden erpresst…«
Er konnte die Barriere zwischen ihnen nicht länger ertragen. Er durchbrach sie unvermittelt mit einer Frage, wohl wissend, dass die Antwort ihn vielleicht schmerzen würde. »Was ist los, Hester?«
»Was soll los sein?«, wich sie ihm ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit aus.
War es eine Warnung oder lediglich Selbstschutz?
Er sah ihr in die Augen und versuchte den Ausdruck darin zu deuten, entdeckte aber nur Angst.
»Du bist in der Vergangenheit«, begann er, »unvernünftig gewesen, übereifrig, selbstherrlich, prüde – und auch kritisch –, aber du hast nie taktiert, auch wenn es bisweilen vielleicht klüger gewesen wäre. Und vor allem, du hast nie gelogen.«
Sie errötete, hielt aber seinem Blick stand. »Ich weiß nicht, wen er erpresst oder ob er überhaupt etwas Derartiges getan hat, aber ich fürchte, ich habe so eine Ahnung. Es ist etwas, das ich bei meiner Arbeit, bei der Versorgung der Kranken, erfahren habe, daher kann ich es dir nicht sagen. Es tut mir Leid.« Ihre Miene drückte tatsächlich Bedauern aus, und er wusste auch, dass sie ihre Meinung nicht ändern würde.
»Hester – weißt du etwas über ein Verbrechen, das begangen wurde?«
»Kein Verbrechen in moralischer Hinsicht«, antwortete sie sofort. »Es ist nichts geschehen, das einem Christenmenschen zuwider sein müsste.«
»Höchstens einem Polizisten«, ergänzte er ohne zu zögern. Ihre Augen weiteten sich. »Bist du denn ein Polizist?«
»Nein…«
»Dachte ich mir doch. Nicht dass es einen Unterschied machen würde. Es wäre nicht richtig, dir davon zu erzählen, selbst wenn du bei der Polizei wärst. Ich kann es nicht.«
Er schwieg. Es war zum Verzweifeln. Sie hielt vielleicht das fehlende Mosaiksteinchen in Händen, das dem Ganzen einen Sinn geben könnte. Sie wusste es, und doch wollte sie es ihm nicht sagen. Sie hatte ihre Grundsätze und stellte diese noch über ihre Liebe zu ihm. Aber es tat nicht wirklich weh, denn er war sich ganz sicher, dass er es nicht anders hätte haben wollen.
»William?«
»Ja?«
»Weißt du am Ende doch etwas?«
»Nein. Warum fragst du?«
»Du lächelst.«
»Oh!« Er war überrascht. »Tu ich das? Nein, ich weiß nichts. Ich nehme an, ich bin einfach nur… glücklich…« Er beugte sich vor und zu ihrer größten Überraschung küsste er sie leidenschaftlich.
Der nächste Tag war der zehnte Tag, seit Monk den Auftrag, Lucius Stourbridges Verlobte zu suchen, übernommen hatte. Jetzt saß sie unter Mordanklage im Gefängnis, und Monk wusste kaum mehr über den Tag ihrer Flucht als am Anfang. Er konnte sich weniger denn je vorstellen, was der Auslöser dieser Flucht gewesen sein mochte, außer jemand hätte mit Enthüllungen bezüglich ihrer Vergangenheit gedroht, Enthüllungen, von denen sie befürchtete, sie würden entweder sie selbst ruinieren oder jemanden, den sie liebte. Aber sie schwieg, trotz der Verhaftung, dem nachfolgenden Gerichtsverfahren und der möglicherweise drohenden Hinrichtung.
Welches Geheimnis konnte so schrecklich sein?
Ihm fiel keine Antwort auf die Frage ein, während er mit einem Hansom zum Polizeirevier von Hampstead fuhr.
Er erreichte sein Ziel kurz vor neun, nur um zu erfahren, dass Sergeant Robb am vergangenen Abend bis Einbruch der Dunkelheit gearbeitet hatte und deshalb noch nicht wieder erschienen war. Monk bedankte sich bei dem diensthabenden Sergeant und machte sich auf den Weg zu Robbs Haus. Die Sonne schien, und er schritt zügig aus, denn er hatte keine Zeit zu verlieren.
Es gab nur wenig, was er Robb mitteilen wollte, – nur dass er Treadwells extravagante und teure Vorlieben entdeckt hatte. Er hatte mit sich gerungen, ob er das Thema anschneiden sollte oder nicht. Es gab Miriam ein starkes Motiv, wenn sie erpresst wurde. Aber ein Mann, der einen Menschen erpresste, tat dies vielleicht noch mit anderen, sodass es weitere Verdächtige geben würde. Vielleicht hatte einer dieser Verdächtigen ihm aufgelauert, und Miriam war vom Tatort geflohen, nicht weil sie schuldig war, sondern weil sie ihre Unschuld nicht beweisen konnte.
Es war ein schwacher Hoffnungsschimmer. Was, wenn es irgendwo ein uneheliches Kind gab, ein Kind von Miriam und Treadwell? Oder wenn Treadwell auch nur gewusst hätte, dass es ein solches Kind von einem anderen Mann gab? Das hätte genügt, um ihre Heirat mit Lucius Stourbridge zu verhindern.
Aber war irgendeine Erpressung den Tod wert?
Oder war sie lediglich in Panik geraten und glaubte nun, es sei alles verloren? Das wäre durchaus möglich.
Monk konnte die anderen möglichen Opfer nicht allein ermitteln, falls Treadwell tatsächlich ein Erpresser gewesen war. Dazu brauchte man die zahlenmäßige Überlegenheit der Polizei sowie deren Autorität.
Als er Robbs Haus erreichte, klopfte er an die Tür. Es vergingen einige Sekunden, bis Robb selbst öffnete. Er wirkte müde und gehetzt und obwohl er Monk höflich begrüßte, nahm seine Anspannung noch zu.
»Was gibt es? Fassen Sie sich bitte kurz. Ich bin ohnehin spät dran, und ich muss meinem Großvater noch das Frühstück machen.«
Monk hätte gern Hilfe angeboten, aber er verfügte über keinerlei Fähigkeiten, die in diesem Fall von Nutzen gewesen wären. Er war sich seines Unvermögens deutlich bewusst.
»Ich habe einige Dinge über James Treadwell in Erfahrung gebracht, und ich dachte, Sie möchten sie vielleicht gern hören. Ich könnte sie Ihnen mitteilen, während Sie das Frühstück zubereiten«, bot Monk an.
Robb akzeptierte den Vorschlag widerstrebend.
Monk entschuldigte sich bei dem alten Mann für sein Eindringen, dann setzte er sich und berichtete, was er während der vergangenen zwei Tage herausgefunden hatte. Während Michael das Brot strich, den Tee aufbrühte und seinem Großvater beim Essen half, wanderte Monks Blick über den Raum. Er bemerkte die offen stehende Schranktür und den kleinen Vorrat an Medikamenten. Außerdem lagen in einer Schale auf dem Tisch neben dem Spülstein mehrere Eier, und auf dem Boden stand eine Flasche Sherry. Michael versorgte seinen Großvater sehr gut. Es musste ihn jeden Penny seines kargen Polizeilohns kosten.
Michael nahm den Teller und die Tasse und spülte sie, mit dem Rücken zum Raum, in einer Schüssel ab.
Der alte Mann sah Monk an. »Eine wunderbare Frau, Ihre Gattin. Sie gibt einem nie das Gefühl, lästig zu sein. Kommt hierher und hört sich meine alten Geschichten an, und ihre Augen leuchten wie Sterne. Ich hab die Tränen über ihre Wangen laufen sehen, als ich ihr vom Tod des Admirals erzählt habe und wie wir nach Trafalgar mit den Flaggen auf halbmast nach England zurückkamen.«
»Sie hat es genossen, Ihnen zuzuhören«, erwiderte Monk aufrichtig.
»Sie hat ja selbst so manche Schlacht miterlebt«, sagte der alte Mann nun mit einem Lächeln. »Sie hat mir davon erzählt. Ganz ruhig und gefasst war sie dabei, aber ich konnte in ihren Augen sehen, was sie wirklich empfunden hat. So etwas kann man nämlich sehen. Menschen, die den Krieg ganz nah miterlebt haben, reden nicht viel darüber. Nur manchmal müssen sie es tun, und ich konnte sehen, dass es bei ihr so war.«
Stimmte das? Hester hatte selbst heute noch das Bedürfnis, über ihre Erfahrungen auf der Krim zu sprechen. Sie teilte diese Dinge mit einem alten Mann, den sie kaum kannte, statt mit ihm oder mit Callandra. Aber andererseits hatten sie beide den Krieg nicht miterlebt. Sie konnten nicht verstehen, was dieser Mann ohne weiteres begriff.
»Dann war sie wohl mehrmals hier«, sagte er laut.
Der alte Mann nickte. »Sie kommt jeden Tag vorbei, vielleicht nur für eine halbe Stunde oder so, um nach mir zu sehen. Nicht viele Menschen interessieren sich für Alte und Kranke außerhalb ihrer eigenen Familie.«
»Nein«, pflichtete Monk ihm mit einem seltsam beklommenen Gefühl bei. »Hat sie Sie nach anderen Matrosen und Soldaten gefragt?«
»Sie meinen, nach alten Männern wie mir? Ja, das hat sie. Hat sie es Ihnen nicht erzählt?«
»Ich fürchte, ich habe nicht so genau hingehört, wie ich es vielleicht hätte tun sollen.«
Robb lächelte und nickte. Auch er hatte so mancher Frau nicht richtig zugehört. Er verstand.
»Natürlich interessiert sie das alles«, fuhr Monk fort und hasste sich gleichzeitig für den Gedanken an möglicherweise verschwundene Medikamente und Erpressung, die er im Hinterkopf hatte und die er nicht ignorieren konnte. »Sie ist eine gute Krankenschwester. Das Wohl ihrer Patienten geht über ihr eigenes Wohl, wie bei einem guten Soldaten – die Pflicht kommt als Erstes.«
»Das ist richtig«, nickte der alte Mann, und seine Augen strahlten. »Sie ist eine wirklich gute Frau. Ich habe einige gute Krankenschwestern in meinem Leben kennen gelernt. Sie kommen ab und zu bei einem vorbei, um zu sehen, wie’s geht.«
»Und diese Schwestern – bringen sie auch Medikamente mit?«
»Natürlich«, pflichtete Robb ihm bei. »Ich kann mir ja nicht selbst welche holen und der Junge, Michael, würde gar nicht wissen, was ich brauche, nicht?«
Ihm war überhaupt nicht bewusst, dass irgendetwas nicht stimmen könnte. Er sprach lediglich von der Freundlichkeit, die ihm zuteil geworden war. Die finsteren Gedanken lauerten einzig in Monks Kopf.
Michael hatte inzwischen alles abgewaschen und aufgeräumt, so dass er möglichst wenig zu tun haben würde, wenn es ihm gegen Mittag gelang, sich für kurze Zeit nach Hause zu stehlen. Er stellte eine Tasse Wasser in Reichweite des alten Mannes auf den Tisch, legte noch eine Scheibe Brot daneben und versicherte sich ein letztes Mal, dass er es so bequem wie nur möglich hatte. Dann wandte er sich an Monk.
»Ich muss jetzt aufs Revier. Ich werde über das nachdenken, was Sie mir erzählt haben. Es könnte noch eine dritte Person dabei gewesen sein, als Treadwell getötet wurde, aber es gibt keine Beweise dafür, nichts, was auf die Identität dieser Person schließen ließe. Und warum ist Miriam Gardiner weggelaufen? Warum sagt sie uns nicht wenigstens jetzt die Wahrheit?«
Monk fielen mehrere Antworten auf diese Frage ein, aber nicht eine einzige davon war überzeugend oder hätte ihre Unschuld bewiesen. Die Befürchtung, die langsam Gestalt annahm, gefiel ihm noch weniger, aber er konnte sich den Tatsachen nicht länger verschließen. Er erhob sich, verabschiedete sich von dem alten Mann, wünschte ihm alles Gute und kam sich dabei wie ein Heuchler vor. Dann folgte er Michael Robb hinaus auf die sonnenbeschienene, lärmende Straße.
Hundert Meter weiter trennten sie sich, Robb wandte sich nach links, und Monk ging nach rechts, Richtung Krankenhaus. Er war sich jetzt beinahe sicher, den Grund für Hesters Besorgnis zu kennen und auch zu wissen, warum sie mit ihm nicht darüber sprechen konnte. Im Krankenhaus waren Medikamente verschwunden. Man ging davon aus, dass sie gestohlen worden waren, entweder um die Sucht des Diebes selbst zu befriedigen oder um sie zu verkaufen, was wahrscheinlicher war. Hester hatte John Robb mehrmals in seinem Haus besucht und musste auch den Medizinschrank bemerkt haben. Der alte Mann hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass die Medikamente von einer Krankenschwester gebracht wurden. Man konnte daraus leicht den Schluss ziehen, dass die Diebstähle nicht aus egoistischen Motiven begangen wurden, sondern um mittellose alte und kranke Menschen damit zu versorgen.
John Robb hatte keine Ahnung davon. Abgesehen von den Schuldgefühlen hätte sein Stolz niemals zugelassen, eine Hilfe anzunehmen, die mit solchen Risiken verbunden war. Er nahm die Medikamente an, weil er davon ausging, dass sie bereits bezahlt waren.
Hester hatte sich sehr präzise ausgedrückt, als sie leugnete, von irgendeinem Verbrechen zu wissen – »nicht in moralischer Hinsicht«, hatte sie gesagt. Vor dem Gesetz jedoch war es eindeutig Diebstahl.
Die Frage war nun, konnte Treadwell davon gewusst haben? Warum nicht? Er verbrachte die meisten seiner freien Tage in Hampstead. Seine Leiche war auf dem Weg vor dem Haus einer Krankenschwester gefunden worden – Cleo Anderson. Monk erinnerte sich lebhaft an sie, an ihre Verteidigung Miriams und ihr nachdrückliches Leugnen zu wissen, wohin Miriam nach ihrer Flucht vom Cleveland Square gegangen sein könnte. Es war ihm verhasst, dieser Sache nachzugehen, aber die Schlussfolgerung lag auf der Hand. Es war Cleo Anderson, die von Treadwell erpresst worden war, und es war alles andere als Zufall, dass man ihn auf dem Weg vor ihrem Haus fand. Er war in dem Wissen dorthin gekrochen, dass er sterben würde, und bis zum letzten Atemzug entschlossen, sie in Verdacht zu bringen und gleichzeitig eine gewisse Gerechtigkeit für sich selbst zu erreichen, Gerechtigkeit und Rache. Sein Leichnam würde die Polizei unausweichlich zu Cleo führen.
Vielleicht hatte Miriam am Ende doch nichts mit dem Mord zu tun, aber da sie wusste, warum Cleo die Medikamente gestohlen hatte, und da sie ihr für ihre Güte sehr viel schuldete, konnte sie ihre eigene Freilassung unmöglich auf Cleos Kosten erwirken. Das wäre eine Erklärung für ihr Schweigen! Die Schuld war zu groß.
Monk beschleunigte seinen Schritt und drängte sich zwischen Fußgängern hindurch, die in der warmen Vormittagssonne einherschlenderten, Hausierern, die Sandwiches, kandierte Äpfel und Pfefferminzgetränke feilboten, und Händlern, die lauthals ihre Ware anpriesen. Er nahm all diese Leute kaum wahr. Der Lärm drang wie von ferne an sein Ohr, nicht mehr als ein undeutliches Summen. Er wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Er ging die Krankenhaustreppe hinauf und trat durch das breite Tor ein. Fast sofort wurde er von einem jungen Mann begrüßt, der eine Weste trug und sich die blutbefleckten Hemdsärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt hatte.
»Guten Morgen, Sir!«, sagte er beflissen. »Brauchen Sie einen Arzt oder einen Chirurgen? Was können wir für Sie tun, Sir?«
In Monk stieg Panik auf, und er konnte sich nur mit Mühe dieses Gefühls erwehren. Gott sei Dank brauchte er weder den einen noch den anderen.
»Ich erfreue mich bester Gesundheit, vielen Dank«, sagte er hastig. »Ich würde gern mit Lady Callandra Daviot sprechen, falls sie hier ist.«
»Wie bitte?« Der junge Mann sah ihn verwirrt an. Es war ihm offensichtlich nie in den Sinn gekommen, dass jemand eine Frau, irgendeine Frau, aufsuchen könnte, statt eines ausgebildeten Mediziners.
»Ich würde gern mit Lady Callandra Daviot sprechen«, wiederholte Monk sehr deutlich. »Oder wenn sie nicht hier ist, dann mit Mrs. Monk. Wo kann ich warten?« Er hasste das Krankenhaus. Die grauen Korridore rochen nach Essig und Lauge und erinnerten ihn an ein anderes Hospital, dasjenige, in dem er nach dem Unfall erwacht war, ohne seine eigene Identität zu kennen. Die Panik jener Tage war schon lange abgeklungen, ließ sich aber in seiner Phantasie nur allzu leicht wieder heraufbeschwören.
»Oh, versuchen Sie es mal in der Richtung«, erwiderte der junge Mann und deutete mit einer nachlässigen Geste dorthin, wo die Warteräume der Ärzte lagen. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Monk ging in den Warteraum, wo ein halbes Dutzend Menschen saß, starr vor Angst, zu krank oder zu verängstigt, um miteinander zu plaudern. Glücklicherweise tauchte Callandra schon nach wenigen Augenblicken auf.
»William! Was tun Sie denn hier? Ich nehme an, Sie wollen Hester sprechen? Ich fürchte, sie ist nicht da.« Sie zögerte. »Sie besucht einen Patienten.«
»Alt und krank, nehme ich an, und arm«, erwiderte er trocken. Sie kannte ihn zu gut, um die tiefere Bedeutung dieser Werte zu überhören. »Was ist passiert, William?«, fragte sie. Obwohl er stand und sie um etwa zwanzig Zentimeter überragte, brachte sie es dennoch fertig, ihm das Gefühl zu geben, dass er besser wahrheitsgemäß antworten sollte.
»Ich glaube, aus der Krankenhausapotheke sind in letzter Zeit gewisse Medikamente verschwunden.« Es war eine Feststellung.
»Hester hat Sie doch nicht in dieser Angelegenheit konsultiert?« Sie war erstaunt und konnte es offensichtlich nicht glauben.
»Nein, natürlich nicht. Warum? Haben Sie das Problem gelöst?«
»Ich glaube nicht, dass Sie sich darüber den Kopf zerbrechen müssen«, antwortete sie ernst. »Zumindest jetzt noch nicht.«
»Warum? Weil eine Krankenschwester die Medikamente gestohlen hat?« Die Worte klangen herausfordernd.
»Wir wissen nicht, wer es ist«, antwortete sie. »Und da Hester Sie, wie Sie mir versichert haben, nicht gebeten hat, für uns zu ermitteln, brauchen wir uns auch nicht über das Thema zu unterhalten. Sie können sich doch unmöglich dafür interessieren.«
»Da irren Sie sich. Bedauerlicherweise muss ich mich dafür interessieren.« Seine Stimme wurde leiser. »Ich wünschte, ich könnte diese Diebstähle auf sich beruhen lassen. Es geht nicht darum, dass Ihnen diese Dinge fehlen, sondern darum, dass die Betreffende möglicherweise wegen der Diebstähle erpresst wurde, obwohl ich glaube, dass sie die Arznei für den denkbar besten Zweck benutzt hat.«
»Erpressung!« Callandra sah ihn entsetzt an.
»Ja… und Mord. Es tut mir Leid.«
Sie schwieg, aber der ernste Ausdruck ihres Gesichts verriet ihre Angst, und Monk vermeinte in ihren Augen zu lesen, dass sie eine Vermutung hatte. Sie ahnte bereits, was hinter den Diebstählen lag, hinter dem ständigen Verschwinden von Medikamenten im Laufe von Monaten, ja vielleicht Jahren. Es war geschehen, um Menschen zu helfen, von deren Not sie selbst, Callandra Daviot, überzeugt war.
»Wissen Sie, wer für die Diebstähle verantwortlich ist?«, fragte er.
Sie sah ihm in die Augen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete sie.
Sie wussten beide, dass es eine Lüge war und dass Callandra nichts mehr zu diesem Thema sagen würde. Er erwartete es im Grunde auch nicht von ihr.
»Und Hester weiß auch nichts!«, fügte sie entschieden hinzu.
»Nein… das dachte ich mir«, gab er mit dem Anflug eines Lächelns zu. »Aber Sie können mir vielleicht weiterhelfen, was die Frage betrifft, welche Medikamente verschwunden sind und in welcher Menge.«
Sie zögerte.
»Es wäre Ihnen doch gewiss nicht angenehm, wenn ich jemand anderen danach frage?«, sagte er ohne mit der Wimper zu zucken.
Sie wusste, dass es eine Drohung war. Er würde seine Worte wahr machen, ganz gleich, wie sehr es ihm widerstrebte.
»Ja«, kapitulierte sie. »Kommen Sie mit, dann gebe ich Ihnen eine Liste. Es beruht natürlich alles auf Vermutungen!«
»Selbstverständlich«, erwiderte er.
Monk beschäftigte sich bis zum Abend und während des größten Teils des nächsten Tages zuerst mit Callandras Medikamentenlisten, dann versuchte er herauszufinden, wen Cleo Andersen besucht hatte und unter welchen Krankheiten ihre Patienten litten. Er brauchte den Kranken und Armen nicht viele Fragen zu stellen. Sie sprachen nur allzu bereitwillig von einer Frau, die viel Zeit und Geduld aufwendete, um sich um sie zu kümmern, und die ihnen so oft Medikamente brachte, die der Arzt ihr mitgegeben habe. Niemand stellte deswegen Fragen, niemand hatte Zweifel daran, woher sie das Chinin nahm, das Morphium und all die anderen Pulver und Infusionen. Die Leute waren einfach dankbar.
Je mehr er erfuhr, desto mehr war es Monk verhasst, was er da tat. Wieder und wieder schob er es hinaus, die alles entscheidende Frage zu stellen, die ihm einen Beweis geliefert hätte. Er schrieb nichts auf. Er kümmerte sich nicht um einen Zeugen für seine Gespräche und nahm keine Beweisstücke mit.
Am Nachmittag des zweiten Tages wandte er seine Aufmerksamkeit Cleo Anderson selbst zu, ihrem Haus, ihren Ausgaben, der Frage, was sie einkaufte und wo. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass sie irgendeinen Lohn für ihre Arbeit oder die Medikamente verlangte. Dennoch erstaunte es ihn, wie überaus bescheiden ihr Leben war, viel bescheidener, als er es bei einer Krankenschwester mit ihrem Lohn erwartet hätte. Sie trug offensichtlich nur abgelegte Kleider, die ihr dankbare Verwandte einer Patientin schenkten, die gestorben war. Ihre Ernährung bestand aus den einfachsten Dingen, und auch hier wurde sie oft in den Häusern derer versorgt, die sie pflegte: Brot, Hafermehlbrei, ein wenig Käse und Eingemachtes. Es schien, als esse sie häufig im Krankenhaus und sei dankbar dafür.
Das Haus war ihr Eigentum, eine Hinterlassenschaft aus besseren Zeiten, aber es war im Lauf der Jahre baufällig geworden und brauchte dringend ein neues Dach.
Niemand hatte je gesehen, dass sie trank oder um Geld spielte.
Also, wo blieb das Geld?
Monk hatte keinen Zweifel daran, dass es in den Taschen von James Treadwell gelandet war, zumindest zu dessen Lebzeiten. Seit seinem Tod vor zwei Wochen hatte Cleo Anderson einen Küchentisch aus zweiter Hand erworben, einen neuen Krug, eine Schüssel und zwei Handtücher, alles Dinge, die sie sich seit Jahren nicht mehr geleistet hatte, wie ihre Nachbarn zu berichten wussten.
Monk fand sich kurz vor halb fünf vor ihrem Haus ein, als er Michael Robb auf sich zukommen sah. Der Sergeant ging sehr langsam, als sei er müde, und seine Füße schienen zu schmerzen. Er war erhitzt und sah niedergeschlagen aus. Er blieb vor Monk stehen. »Hätten Sie es mir gesagt?«, fragte er.
Es war nicht notwendig, etwas zu erklären. Monk wusste nicht, ob er es getan hätte oder nicht, aber er war sich, wie sehr es ihm auch missfiel, ganz sicher, dass Robb Bescheid wusste.
»Ich kann nichts beweisen«, antwortete er. Das war für einen Mann wie ihn eine ungewöhnlich vage Bemerkung. Im Allgemeinen stellte er sich der Wahrheit, wie bitter sie auch sein mochte. Dies schmerzte ihn mehr, als er selbst erwartet hatte.
»Aber ich habe Beweise«, entgegnete Robb müde. »Genug, um sie zu verhaften. Bitte, stehen Sie mir nicht im Weg. Zumindest können wir Miriam Gardiner entlassen. Sie können Mr. Stourbridge darüber in Kenntnis setzen. Er wird erleichtert sein… nicht dass er je an ihre Schuld geglaubt hätte.«
»Ja…« Monk wusste, dass Lucius glücklich sein würde, aber das Glück würde nicht lange dauern, denn Miriam hatte alles getan, um Cleo Anderson nicht mit in die Sache hineinzuziehen. Ihre Trauer würde sehr tief gehen und wahrscheinlich von Dauer sein.
Auf dem Weg zum Revier teilte Robb Monk mit, zu welchen Ergebnissen die Polizei bisher gekommen war. Man hielt Miriam für eine unentbehrliche Zeugin des Verbrechens, die selbst unter Druck die Wahrheit verschwiegen hatte. Sie war offensichtlich keine Mörderin, befand sich jedoch in einem Zustand, der an Hysterie grenzte, und wenn man sie entließ, dann nur in die Obhut eines verantwortungsbewussten Menschen, der sich um sie kümmern würde. Überdies musste man sicherstellen, dass sie als Zeugin vor Gericht erscheinen würde, wie das Gesetz es verlangte. Lucius und sein Vater schienen dafür am geeignetsten zu sein.
Diese Idee stieß bei Miriam auf leidenschaftlichen Widerstand. Sie stand mit bleichem Gesicht im Büro des Superintendent und wandte sich Monk zu, als dieser mit Robb den Raum betrat.
»Bitte, Mr. Monk, ich gebe Ihnen jede Garantie, die Sie verlangen, ich verspreche Ihnen alles, was Sie wollen, aber zwingen Sie mich nicht, zum Cleveland Square zurückzukehren! Ich will gern Tag und Nacht im Krankenhaus arbeiten, wenn Sie mir gestatten, dort zu wohnen.«
Der Superintendent des Polizeireviers sah erst sie, dann Robb mit ernster Miene an.
»Ich glaube…«, begann Robb.
Aber der Superintendent wollte seine Meinung gar nicht hören. »Sie befinden sich offensichtlich in einem Zustand äußerster Erregung«, sagte er an Miriam gewandt. Er sprach sehr langsam und deutlich. »Mr. Stourbridge ist Ihr zukünftiger Ehemann. Er kann am besten für Sie sorgen und wird Ihnen in Ihrem Kummer beistehen, nachdem die Frau verhaftet wurde, die Ihnen in der Vergangenheit mit so viel Freundlichkeit begegnet ist. Das hat Sie sehr mitgenommen. Sie brauchen Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Miriam fuhr herum und sah Monk an. In ihren Augen brannte eine wilde Verzweiflung, als müsse sie ihm dringend etwas mitteilen, was sie jedoch in Anwesenheit der anderen nicht tun konnte.
Ihm fiel keine Ausrede ein, um allein mit ihr zu reden. Major Stourbridge und Lucius waren bereits eingetroffen und warteten darauf, sie zum Cleveland Square zu bringen. Links von ihr stand ein Wachtmeister und rechts der diensthabende Sergeant. Die Absicht der beiden Männer war es, sie zu stützen, falls sie plötzlich ohnmächtig würde.
Es gab nichts, was er tun konnte. Hilflos sah er zu, wie sie aus dem Raum geführt wurde. Die Tür öffnete sich und Lucius Stourbridge trat vor. Sein Gesicht war erfüllt von Zärtlichkeit und Glück. Harry Stourbridge stand hinter ihm und lächelte, als sei ein Albtraum zu Ende.
Miriam stolperte, taumelte einen Schritt nach vorn und Wachtmeister und Sergeant mussten sie beinahe tragen. Als Lucius sie berührte, zuckte sie zusammen.