4

Am Morgen verließ Monk das Haus, um seine Suche nach Miriam Gardiner fortzusetzen. Allerdings war da noch eine weitere Schwierigkeit: Er musste sie finden, ohne gleichzeitig Robb zu ihr zu führen. Seine Intelligenz war keineswegs zu unterschätzen.

Pferde waren gescheite Tiere. Wenn Treadwell mit ihnen schon einmal in Hampstead gewesen wäre, hätten sie wahrscheinlich an denselben Ort zurückgefunden.

So fand Monk sich an dem stillen Sommermorgen um sieben Uhr auf der Lyndhurst Road ein, wo er die sonnenbeschienenen Häuser mit ihren gepflegten Gärten und den weiß gestrichenen Treppenaufgängen eingehend betrachtete.

Er hatte Miriams Adresse von Lucius Stourbridge erhalten. Natürlich war dies der erste Ort gewesen, an dem er sich nach ihrem Verbleib erkundigt hatte, aber all seine Fragen waren nur auf Verständnislosigkeit gestoßen. Trotzdem war dies wahrscheinlich die Stelle, an der Robb mit seinen Ermittlungen beginnen würde.

Monk ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen und lauschte den frühmorgendlichen Geräuschen: Küchentüren, die geöffnet und wieder geschlossen, Teppiche, die geklopft wurden. Die Schritte der Laufjungen und das Scheppern eines Kohleneimers hallten auf dem Pflaster wider. Monk beschäftigte nur der Gedanke, wo Miriam sich aufgehalten hatte, als James Treadwell ermordet wurde. War sie zugegen gewesen? Hatte sie ihm diesen einen Schlag versetzt und war dann geflohen? Hatte sie die Kutsche genommen? Wenn ja, warum hatte sie das Gefährt dann in einer Straße zurückgelassen, die dem Tatort so nahe war?

Vielleicht war sie in Panik geraten und einfach davongelaufen. Möglicherweise hatte sie keine Ahnung von Pferden und konnte selbst nicht kutschieren.

Oder war noch eine dritte Person zugegen gewesen? Hatte Miriam den Mord beobachtet und war dann geflohen, vielleicht um sich selbst zu retten? War sie überhaupt Zeugin des Mords gewesen?

Er würde allerdings keine Antwort auf all diese Fragen erhalten, wenn er nur in der Sonne herumstand, während die Welt langsam zum Leben erwachte. Er ging auf das ihm am nächsten gelegene Haus zu und klopfte an die Tür. Ein Dienstmädchen öffnete ihm. Die Frau sah ihn überrascht an, schon im Begriff, einem verirrten Händler zu sagen, wo der für ihn bestimmte Eingang war. Dann fiel ihr Blick zuerst auf Monks Gesicht, anschließend auf seine elegante Jacke und die blank geputzten Stiefel. Dies änderte ihre Meinung.

»Ja, Sir?«, erkundigte sie sich neugierig und strich sich geistesabwesend das Haar zurück. »Ich fürchte, der Herr schläft noch.« Dann wurde ihr wohl bewusst, dass sie bereits zu viel gesagt hatte. »Ich meine, er hat noch nicht gefrühstückt.«

Monk rang sich ein Lächeln ab. »Sie können mir sicher helfen, ohne die übrigen Bewohner des Hauses zu stören. Ich fürchte, ich habe mich verlaufen. Ich kenne mich nicht besonders gut aus hier in der Gegend. Ich suche eine gewisse Mrs. Miriam Gardiner, die, so weit ich weiß, irgendwo hier in der Nähe wohnt.« Er wusste sehr genau, dass sie ungefähr fünf Häuser weiter wohnte, aber er wollte so viel wie möglich von dieser jungen Dienerin erfahren. Sie musste Miriam Gardiner gekannt haben, und sie bekam sicher all den Klatsch und Tratsch der Nachbarschaft zu hören. Wenn zwischen ihr und Treadwell tatsächlich eine Beziehung bestanden hatte, dann waren sie hier, weit entfernt vom Cleveland Square, vielleicht weniger vorsichtig gewesen.

»Mrs. Gardiner? O ja«, antwortete sie fröhlich. Sie trat einen Schritt weiter vor das Haus, um ihm den Weg zu weisen. »Sie müssen dort entlanggehen. Vier Häuser weiter wohnt Mrs. Gardiner. Vielleicht sind es auch fünf, jedenfalls hat sie Hausnummer acht. Gehen Sie einfach geradeaus. Sie können es nicht verfehlen.«

»Wissen Sie zufällig, ob sie im Augenblick zu Hause ist?«, fragte er, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Nein, da bin ich überfragt. Ich hab sie seit einer Woche nicht mehr gesehen. Die Leute sagen, sie wollte sich wieder verheiraten, und wenn Sie mich fragen, ist das eine gute Sache.«

»Ihr zukünftiger Gemahl ist ein älterer Herr, der ungefähr eine Meile von hier entfernt wohnt, stimmt das?«, Monk gab sich bewusst ein wenig naiv.

»Davon weiß ich nichts«, antwortete das Mädchen. »Aber irgendwie glaube ich das nicht. Er kommt immer mit einer richtig eleganten Kutsche vorgefahren, der Herr. Und tolle Pferde hat er! Laufen nebeneinander her, als wären es Maschinen. «

»Haben sie auch die gleiche Farbe?«, erkundigte Monk sich interessiert.

»Die Farbe ist nicht wichtig«, antwortete sie ein wenig ungeduldig. »Größe und Gangart machen ein gutes Paar aus.«

»Verstehen Sie etwas von Pferden?«, fragte er weiter.

»Mein Pa war Kutscher«, erwiderte sie. »Er war der Beste, auch wenn ich das selber sage.«

Er lächelte und diesmal war sein Lächeln echt. Etwas an ihrem Stolz auf ihren Vater gefiel ihm. »Ich nehme an, Sie haben die Pferde ziemlich oft hier gesehen? Taugte der Kutscher was?«

»Einigermaßen«, erwiderte sie mit Sachverstand. »Nicht annähernd so gut wie mein Pa allerdings. Eine zu harte Hand.«

»Haben Sie ihn in letzter Zeit mal hier gesehen? Ich würde gern ein paar Worte mit ihm reden.« Er hielt es für besser, einen Grund für all seine Fragen anzugeben.

»Nein, in den letzten paar Tagen war er nicht mehr hier, so weit ich weiß.« Sie schüttelte den Kopf, als verwundere sie dieser Umstand. »Aber normalerweise sieht man ihn ziemlich oft hier in der Gegend. Ich bin ihm neulich in der High Street begegnet. Diese Pferde würde ich überall erkennen. Er fuhr Richtung Heide.«

»Sie meinen, die Kutsche war nicht auf dem Weg zu Mrs. Gardiners Haus«, fragte er überrascht. »Ist es möglich, dass er in ein Wirtshaus wollte?«

»In der Richtung gibt es kein Wirtshaus«, antwortete sie. »Er muss jemanden da gekannt haben.«

»Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen ganz herzlich.« Er trat zurück. »Auf Wiedersehen.«

Sie sah ihm lächelnd nach, als er davonging, dann kehrte sie ins Haus zurück.

Monk unterhielt sich gerade mit einem Gärtner, der eifrig Unkraut jätete, als er Sergeant Robb um die Straßenecke biegen sah. Er war tief in Gedanken und hatte die Hände in den Taschen vergraben. Seinem konzentrierten Gesichtsausdruck nach zerbrach er sich über etwas den Kopf, das ihm schwer zu schaffen machte.

Monk war dankbar für diesen Umstand, denn sonst hätte Robb ihn sicherlich erkannt, und das wollte er gern vermeiden. Der Sergeant schien genauso gründlich nach Miriam zu suchen wie er selbst. Aber Monk musste sie als Erster finden und sei es nur, um ihr Zeit zu geben, sich auf ihre Aussage bei der Polizei vorzubereiten.

Er bedankte sich bei dem Gärtner, machte auf dem Absatz kehrt und ging so schnell er konnte weiter, ohne allzu große Aufmerksamkeit zu erregen. Er bog in die erste Nebenstraße ein.

Aber Robb überquerte nicht die Straße. Verdammt! Er musste stehen geblieben sein, um mit demselben Gärtner zu sprechen. Der Gedanke war nahe liegend. Dann würde der Mann auch ihm berichten, dass die Kutsche seit mindestens einem Jahr regelmäßig diesen Weg entlangfuhr. Und Robb würde sich erkundigen, mit wem er sich gerade unterhalten habe, und der Gärtner würde sagen, dass er dem anderen Mann dieselbe Information gegeben hatte. Und würde wissen, dass es Monk gewesen war. Wer sonst hätte es sein sollen?

Was hatte James Treadwell in dieser Gegend zu suchen gehabt, außer Miriam abzuholen und sie nach ihren Besuchen bei Lucius Stourbridge wieder nach Hause zu bringen? Hatte er Verwandte hier? Waren da eine oder vielleicht sogar mehrere Frauen im Spiel? Oder hatten ihn irgendwelche Geschäfte hierher geführt? Hingen diese mit Miriam zusammen oder nicht?

Ein Gefährt wie dieses würde jedem in Erinnerung bleiben, der etwas von Pferden verstand. Die meisten Leute hier benutzten öffentliche Transportmittel, Hansoms oder sogar Omnibusse. Kurze Strecken legte man meist zu Fuß zurück.

Monk verwandte die nächsten drei Stunden darauf, die nähere Umgebung zu erkunden. Er fragte Stiefeljungen, Diener und auch ein Spülmädchen nach den verschiedenen Häusern. Er hielt einen Mann an, der Kohle für die Küchenfeuer brachte, die selbst an einem so heißen Sommertag brannten. Das Gesicht des Händlers war kohlengeschwärzt und von Schweißspuren durchzogen.

Noch zweimal konnte er es nur knapp vermeiden, Robb über den Weg zu laufen. Er unterhielt sich mit einem Zeitungsjungen und einem Mann, der Schinkenbrote verkaufte. Die meisten der Leute, mit denen er sprach, waren nur allzu gern bereit, ihn wissen zu lassen, dass sie Miriam Gardiner zumindest vom Sehen kannten. Und sie lächelten, als hätten sie dabei eine angenehme Erinnerung.

Aber sie wussten, dass Treadwell ermordet worden war, und keiner von ihnen wollte mit diesem Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden. Ja, sie hatten ihn früher gesehen, aber nein, nicht mehr in letzter Zeit, ganz gewiss nicht an dem Abend, an dem er zu Tode gekommen war. Sie sahen Monk mit ausdruckslosem Blick an und stritten alles ab. Er konnte nur hoffen, dass es Robb genauso erging.

Jetzt blieb ihm nur noch, sich langsam dem Ort zu nähern, an dem die Leiche gefunden worden war, und es dort noch einmal zu versuchen. Er musste jemanden finden, der das Kommen und Gehen dort beobachten konnte und keine Angst davor hatte, das, was er wusste, auch mitzuteilen. Diener, die beim Schwatzen erwischt wurden, brachten sich unweigerlich in Schwierigkeiten. Monk hatte Robb gegenüber einen Vorteil: Er gehörte nicht zur Polizei. Dieser Umstand war jedoch nicht immer von Vorteil. Er konnte nur versuchen zu überreden, erzwingen konnte er nichts.

Er ging langsam den Gehweg hinunter. Es war eine hübsche Gegend, mit kleinen, adretten Reihenhäusern. Die Salons darin würden ordentlich und selten benutzt und voller Gemälde und Stickereien mit gottesfürchtigen Sprüchen sein, und das Leben selbst würde sich überwiegend in den Küchen und Schlafzimmern abspielen.

Er fragte sich, was Treadwell wohl hier gewollt hatte. Hatte er sich mit Freunden getroffen, vielleicht mit einer Frau? Warum auch nicht? Es wäre jedenfalls sehr töricht von ihm gewesen, die Freundschaft einer Frau zu suchen, die im Hause Stourbridge verkehrte, denn es bestand immer die Gefahr, dass jemand etwas bemerkte. Der Küchentratsch hatte schon mehr als einen Dienstboten ruiniert.

War er hergekommen, um etwas zu besorgen oder alte Schulden zu begleichen oder einzufordern? Oder wollte er einfach nur seinem alltäglichen Leben entfliehen, dem Leben, in dem er stets dem Willen anderer gehorchen musste?

Monk überquerte langsam die Straße. Eine junge Frau ging an ihm vorüber. Sie trug die gestärkte Uniform eines Kindermädchens und hielt ein kleines Mädchen an der Hand, das hin und wieder über einen Pflasterstein hopste. Die Schleife in seinem Haar wippte dabei auf und nieder. Die junge Frau lächelte ihm zu. Irgendwo in der Ferne, wahrscheinlich in der Heide, spielte eine Drehorgel.

Wenn Treadwell hierher gekommen war, hätte er Kutsche und Pferde wohl kaum unbewacht zurückgelassen. Selbst wenn er nur Halt gemacht hätte, um sich irgendwo ein Gläschen zu genehmigen, hätte er sie an einem geeigneten Ort, wie zum Beispiel einem Stallhof, unterstellen müssen.

Ein Stückchen weiter die Straße entlang lag ein Laden. Monk befand sich hier nicht mehr als eine Viertelmeile von Miriam Gardiners Haus entfernt. Genau der richtige Punkt, um seine Suche wieder aufzunehmen. Er beschleunigte seinen Schritt. Jetzt hatte er ein Ziel vor Augen.

Er öffnete die Tür und im Innern läutete eine Glocke, die ein wenig blechern klang. Ein älterer Herr trat hinter einem Vorhang hervor und sah Monk erwartungsvoll an.

»Ja, Sir. Wunderschöner Tag heute, nicht wahr? Was kann ich für Sie tun, Sir? Tee, Kerzen, ein halbes Pfund Pfefferminzbonbons vielleicht?« Er deutete mit einer Hand auf das Durcheinander um ihn herum. »Oder eine Postkarte für einen Penny? Vielleicht brauchen Sie ja ein Knäuel Bindfaden oder Siegellack?«

»Bindfaden und Siegellack klingen gut«, pflichtete Monk ihm bei. »Und Pfefferminzbonbons sind auch nicht schlecht an einem so warmen Tag. Vielen Dank.«

Der Mann nickte mehrmals und machte sich auf die Suche nach den genannten Waren.

»Mrs. Gardiner sagte, bei Ihnen würde ich fast alles bekommen, was ich brauche«, bemerkte Monk, der den Mann genau beobachtete.

»Ach, das hat sie gesagt?« Der Krämer antwortete ihm, ohne aufzusehen. »Das ist wirklich eine nette Dame, zweifellos! Ich freue mich für sie, dass sie wieder heiraten wird, und das meine ich ernst. Ist viel zu früh Witwe geworden, das arme Ding. Oh! Da ist der Siegellack.« Er hielt ihn triumphierend in die Höhe.

»Er hat auch eine schöne Farbe. Nicht zu orange. Ich hab’s nicht gern, wenn er zu orange ist. Rot ist besser.«

»Sie kennen sie wahrscheinlich schon lange«, bemerkte Monk beiläufig, während er mit einem Kopfnicken seine Zustimmung zum Kauf des Lacks signalisierte.

»Mein lieber Herr, ich kenne sie, seit sie als kleines Mädchen hierherkam, und das ist nicht gelogen«, stimmte er Monk zu.

»Armes kleines Ding!«

Monk versteifte sich. Was konnte er sagen, um dem Mann weitere Vertraulichkeiten dieser Art zu entlocken, ohne seine Neugier zu verraten?

Der Krämer hatte den Bindfaden gefunden und richtete sich mit einem Knäuel in jeder Hand aus seiner gebückten Haltung auf.

»Bitte schön, Sir!«, sagte er triumphierend und mit strahlender Miene. »Welche Sorte möchten Sie? Das da ist ein guter Bindfaden für Päckchen und dergleichen und der andere ist weicher und eignet sich besser zum Zusammenbinden von Pflanzen. Schneidet nicht in die Stängel, verstehen Sie?«

»Ich nehme beide«, antwortete Monk, dessen Gedanken sich überschlugen. »Und zwei Stangen Siegellack. Wie Sie bereits sagten, die Farbe ist sehr ansprechend.«

»Gut! Gut! Und die Pfefferminzbonbons. Vergessen Sie nur nicht die Pfefferminzbonbons!« Er legte die beiden Knäuel Bindfaden auf die Theke und verschwand wieder darunter, wahrscheinlich auf der Suche nach einer zweiten Stange Siegelwachs. Monk hoffte, dass es nicht die Pfefferminzbonbons waren, die in den staubigen Schubfächern lagerten.

»Ich wusste gar nicht, dass sie so jung war, als es passierte«, sagte Monk beiläufig.

»Mein lieber Herr, nicht mehr als zwölf oder dreizehn war sie, und das ist nicht gelogen«, antwortete der Mann, der auf allen vieren die Regalfächer unter der Theke durchsuchte. Schließlich zog er einen großen Karton voller Umschläge und Leinenpapier hervor. »Armes kleines Geschöpf. Wie winzig sie war, einfach schrecklich. Und sie hatte keinen Menschen auf der Welt. Damals jedenfalls nicht. Aber natürlich hat unsere Cleo sie bei sich aufgenommen.« Er zog einen weiteren Kasten mit verschiedenen Papieren hervor. Monk interessierte sich nicht im Mindesten für den Siegellack, aber er wollte den Redefluss des Mannes nicht unterbrechen. »Eine gute Frau, die Cleo Anderson. Ein Herz aus Gold, lassen Sie sich da bloß nichts anderes einreden«, fuhr der Mann mit großem Nachdruck fort.

»Bitte, machen Sie sich keine Mühe.« Monk war bestürzt, dass er dem alten Krämer so viel Arbeit machte, außerdem hatte er jetzt, was er wollte. »Ich benötige die zweite Stange Siegellack nicht dringend, mir gefiel lediglich die Farbe.«

»Man darf sich nie geschlagen geben«, murmelte der Mann aus den Tiefen der Theke. »Das haben sie einem immer bei Trafalgar eingetrichtert – und bei Waterloo bestimmt auch. Man darf einen Kunden nicht unzufrieden weggehen lassen.«

»Ich nehme an, Sie kennen auch Mr. Treadwell?« Monk versuchte es mit einer letzten weiteren Frage.

»Ich glaube nicht. Ah! Da ist es ja! Ich wusste doch, dass ich noch irgendwo welches habe. Eine halbe Kiste!« Er erhob sich mühsam, die Schultern voller Staub und einen Pappkarton in einer Hand. Er strahlte Monk an. »Bitte schön, Sir. Wie viele hätten Sie denn gern?«

»Drei Stangen, vielen Dank«, erwiderte Monk und fragte sich, wofür um alles in der Welt er sie benutzen konnte. »Gibt es hier in der Nähe einen guten Mietstall?«

Der Mann beugte sich über die Theke und wies mit einer weit ausholenden Geste nach links. »Ungefähr eine Meile in die Richtung, dann die nächste Straße. Sie können’s gar nicht verfehlen. Gegenüber von Mrs. Andersens Haus. Aber das wissen Sie ja sicher, da Sie doch Mrs. Gardiner so gut kennen. Das macht zusammen zehn Pence und einen halben Penny, Sir, bitte sehr. Oh… und hier hätten wir noch die Pfefferminzbonbons. Das sind dann noch einmal zwei Pence, Sir.«

Monk nahm die Bonbons, dankte dem Mann und zahlte, dann machte er sich auf den Weg zu dem Stall, sehr zufrieden mit sich, dass er so viel herausgefunden hatte. Obwohl die Einzelheiten von Miriams Jugend nur insofern bedeutsam waren, als sie ihr außerordentliches Benehmen erklären oder einen Hinweis darauf geben konnten, wo sie sich jetzt befand.

Der Mietstall war genau da, wo der Krämer es gesagt hatte.

»Ja«, meinte ein alter Mann, der an einem Strohhalm sog. Er hatte O-Beine und roch nach Stall, Pferdeschweiß, Heu und Leder. »Er war oft hier. Wirklich schöne Pferde, die beiden. Passten genau zusammen.«

»Er verstand sich gut auf Pferde, nicht wahr?«, fragte Monk beiläufig.

»Nun, gut würde ich nicht sagen«, erwiderte der Stallknecht.

»Ordentlich würde es eher treffen.« Er sah Monk mit zusammengekniffenen Augen an und wartete auf eine Erklärung.

Monk verzog angewidert das Gesicht. »Nicht das, was er mir erzählt hat. Deshalb dachte ich, ich höre mich mal um.«

»Das macht jetzt ohnehin keinen Unterschied mehr.« Der Stallknecht spuckte den Strohhalm aus. »Er ist tot, das arme Schwein. Nicht dass ich viel für ihn übrig gehabt hätte. Er war ein dreister Kerl, wenn Sie mich fragen. Immer das Maul offen.

Aber das hätte ich ihm dann doch nicht gewünscht. Sie sind nicht hier aus der Gegend, sonst wüssten Sie, dass er tot ist. Ermordet hat man ihn. Praktisch auf Mrs. Andersons Grundstück, und das ist eine kreuzbrave Frau. Sie hat meine Annie versorgt, die Mrs. Anderson, und sie war wunderbar zu ihr.« Er schüttelte den Kopf. »Keine Mühe war ihr zu groß.«

Monk ergriff die Gelegenheit. »Eine großartige Frau«, pflichtete er dem anderen Mann bei. »Ich glaube, sie hat auch Mrs. Gardiner bei sich aufgenommen, als sie noch ein Kind war.«

Der Stallknecht suchte sich einen neuen Strohhalm und steckte ihn zwischen die Lippen. »O ja. Sie war ganz durcheinander und irrte herum, als man sie fand. Hat wirres Zeug geredet und wusste kaum ihren eigenen Namen, das arme Ding. Cleo Anderson hat sie zu sich genommen und sie gewaschen und dann großgezogen, als war’s ihre eigene Tochter. Eine Schande, dass dieser nichtsnutzige Aufschneider ausgerechnet vor ihrer Tür sterben musste.«

»Gegen einen Unfall kann man nichts machen«, erwiderte Monk lapidar, aber in Gedanken suchte er nach einem Grund, warum die kleine Miriam so gelitten haben mochte. Hatte sie etwas Ähnliches durchgemacht wie er nach seinem Unfall? Wusste auch sie nicht, wer sie war? War es das, was sie zu Tode erschreckt und von Lucius Stourbridge weggetrieben hatte?

Der Stallknecht spie auch diesen Strohhalm wieder aus. »Aber es war kein Unfall!«, rief er höhnisch. »Ich hab Ihnen doch schon gesagt, er wurde ermordet! Hat eins über die Rübe bekommen.«

»Er hat seine Pferde ziemlich oft hier untergestellt«, bemerkte Monk und zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren.

»Das hab ich Ihnen doch schon gesagt, oder? Klar hat er seine Pferde hergebracht. Meilenweit der beste Stall, meiner hier. Es gibt nichts, was ich über Pferde nicht wüsste.« Er wartete förmlich darauf, dass Monk ihm widersprach.

Monk lächelte und warf einen Blick auf das Tier, das ihm am nächsten stand. »Das sehe ich«, sagte er anerkennend. »So etwas merkt man gleich. Und Ihre Meinung über Treadwell entspricht ziemlich genau dem, was ich selbst schon herausgefunden habe. Ein arroganter Kerl.«

Der Stallknecht schien zufrieden zu sein. Er nickte. »Genau das hab ich auch diesem Polizisten erklärt, der hier war und Fragen gestellt hat. Treadwell war nicht viel wert, hab ich ihm gesagt. Man kann eine Menge über einen Mann erfahren, wenn man weiß, wie er ein Pferd behandelt. Verstehen Sie, er war immer ein bisschen zu sehr von sich selber eingenommen!«

Monk lächelte, und der Stallknecht freute sich, dass ihm nicht widersprochen wurde.

Monk dankte ihm und verabschiedete sich. Während er weiterging, machte er sich Gedanken über das, was er erfahren hatte. Nicht nur über Treadwells Besuche hier in der Gegend, sondern auch über Miriams seltsame Jugend und die Tatsache, dass Treadwell vor dem Haus eben jener Frau ermordet wurde, die die kleine Miriam vor etwa zwanzig Jahren bei sich aufgenommen hatte. Und Sergeant Robb war natürlich auf den gleichen Gedanken gekommen. Monk wusste, dass er äußerst vorsichtig sein musste, wenn er den Polizisten nicht direkt zu Miriam führen wollte.

Als er wieder auf der Straße war, verlangsamte er seinen Schritt. Warum wollte er unbedingt vermeiden, Robb zu Miriam zu führen? Die Antwort war einfach. Weil er befürchtete, sie könne etwas mit Treadwells Tod zu tun haben, und sei es auch nur indirekt. Sie versteckte sich vor Lucius, aber sie versteckte sich auch vor der Polizei. Warum? Was hatte Treadwell ihr bedeutet, abgesehen davon, dass er der Kutscher der Stourbridges war? Was konnte er gewusst – oder geargwöhnt – haben?

Es war Zeit, Cleo Anderson einen Besuch abzustatten. Er wollte Robb nicht in die Arme laufen, daher näherte er sich dem Haus nur langsam.

Er war bereits an der Green Man Hill Street, als er Robb vor sich die Straße überqueren sah und abrupt stehen blieb. Er zog den Kopf ein und hob die Hände, wie um sich eine Zigarre anzuzünden, dann wandte er sich ab, wie man es tat, wenn man Schutz vor dem Wind suchte. Ohne aufzublicken, obwohl die Versuchung groß war, schlenderte er weiter und bog um die nächste Ecke.

Er hielt inne und stellte zu seiner Verärgerung fest, dass er zitterte. Es war absurd. Wie tief war er gesunken, wenn er schon um Straßenecken schlich, um nicht von der Polizei erkannt zu werden? Noch dazu von einem Sergeant! Vor wenigen Jahren hatten alle Sergeants in London seinen Namen gekannt und Habtachtstellung eingenommen, wenn sie ihn sahen. Den Menschen war es wichtig gewesen, was er von ihnen hielt; sie wollten ihm gefallen.

Was sich doch alles geändert hatte!

Er kam sich lächerlich vor, wie er da auf dem Gehweg stand und so tat, als zünde er sich eine imaginäre Zigarre an, nur damit Robb sein Gesicht nicht sah. Und doch machte ihm der Mann, der er damals gewesen war, rückblickend nur wenig Freude. Robb hätte ihn gefürchtet, wahrscheinlich Respekt vor seinem Können gehabt, aber vor allem hätte er ihn gefürchtet, auf Grund der Macht, die er besaß, und seiner Entschlossenheit sie einzusetzen. Ebenso wie alle seine Untergebenen Angst vor seiner scharfen Zunge gehabt hatten.

Wenn Robb zu Cleo Anderson gegangen war, sei es wegen Miriam oder einfach weil Treadwell vor ihrem Haus gefunden worden war, dann hatte es keinen Sinn, hier zu warten, bis er den Heimweg antrat. Es konnte ein oder zwei Stunden dauern, daher war es besser, irgendwo zu Abend zu essen und dann später zurückzukehren.

Er aß sehr gut und nutzte dann noch ein klein wenig Wartezeit, um weitere Erkundigungen über Miriam einzuholen. Er gab vor, eine Schwester zu haben, die jüngst geheiratet hatte und erwog, in diese Gegend zu ziehen. Er erfuhr mehr als erwartet. Miriams Name tauchte im Zusammenhang mit einer botanischen Gesellschaft auf, mit den Freunden einer Missionsgruppe in Afrika und einem Zirkel, der sich jeden Freitag traf, um literarische Werke zu erörtern. Zudem hatte sie verschiedene Pflichten in ihrer Gemeinde übernommen. Natürlich, er hätte selbst an die Kirche denken sollen. Diesen Fehler wollte er am nächsten Tag wettmachen.

Alles in allem war er sehr zufrieden mit sich, als er im Licht des frühen Abends auf Cleo Andersons Türschwelle stand.

In Anbetracht der Tatsache, dass Cleo Anderson bereits ein Gutteil ihres Abends auf die Beantwortung von Sergeant Robbs Fragen verwandt hatte, öffnete sie Monk die Tür mit bemerkenswerter Freundlichkeit. Einen Augenblick lang kam ihm der Gedanke, dass sie ihn vielleicht für einen Patienten hielt. Schließlich war es ihr Beruf, sich um Kranke zu kümmern.

Sie brauchte nicht lange, um festzustellen, dass er ein Fremder war und auch nicht aus der unmittelbaren Nachbarschaft stammte. Obwohl ihre Augen bei seinem Anblick ein klein wenig schmaler wurden, schickte sie ihn nicht fort.

»Ja, Sir, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie und blieb so stehen, dass sie jederzeit die Tür zuschlagen konnte, falls er sich mit Gewalt Zutritt zum Haus verschaffen wollte.

Er machte absichtlich einen großen Schritt zurück.

»Guten Abend, Mrs. Andersen«, erwiderte er. In diesem Augenblick beschloss er sie nicht anzulügen. »Mein Name ist William Monk. Mr. Lucius Stourbridge hat mich beauftragt, Miriam Gardiner ausfindig zu machen. Wie Sie vielleicht wissen, ist sie aus seinem Haus verschwunden, wo sie zu Gast war, und er ist ganz außer sich vor Sorge um sie.« Er hielt inne, weil plötzlich ein Schatten von Furcht in ihre Augen trat. Ihr Atem beschleunigte sich, ihre Haltung wurde starr. Aber andererseits hatte man Treadwells Leiche vor ihrem Haus gefunden, und sie machte sich bestimmt Sorgen um Miriam, außer, sie hätte bereits gewusst, dass sie sich in Sicherheit befand, dass ihr keine Gefahr drohte.

»Können Sie mir helfen?«, fragte er leise.

Eine Sekunde lang stand sie reglos da, dann trat sie einen Schritt zurück und zog die Tür weiter auf. »Es ist besser, Sie kommen herein«, forderte sie ihn widerstrebend auf.

Er folgte ihr in einen schmalen Flur, von dem drei Türen abzweigten. Sie öffnete die mittlere, die in ein sauberes und überraschend helles Wohnzimmer mit gemütlichen Sesseln vor dem Kamin führte. An der einen Wand standen mehrere Schränke, in deren mit Messingschlüssellöchern versehenen Türen kein einziger Schlüssel steckte.

»Mr. Stourbridge schickt Sie?«, erkundigte sie sich unsicher. Der Gedanke schien nichts Tröstliches für sie zu haben. Sie war immer noch so angespannt wie zu Beginn ihrer Unterredung und hielt die Hände verkrampft hinter ihrem Rücken verborgen.

Er war viele Meilen gegangen und seine Füße brannten, aber er hätte niemals unaufgefordert Platz genommen. Es wäre ein Zeichen von schlechter Erziehung gewesen. »Er macht sich furchtbare Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte«, antwortete er. »Vor allem angesichts dessen, was mit dem Kutscher, Treadwell, geschehen ist.«

So sehr Cleo Andersen sich um Selbstbeherrschung bemühte, sog sie bei dieser Bemerkung doch scharf den Atem ein. »Ich weiß nicht, wo sie ist!« Sie rang um Fassung. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie zu der Krocketgesellschaft nach Bayswater gefahren ist. Davon hatte sie mir natürlich erzählt.« Sie sah ihm in die Augen.

Er hatte das ungute Gefühl, dass sie log, wusste aber nicht, warum. Die Angst in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. Er sprach so sanft wie möglich.

»Mr. Stourbridge hegt sehr tiefe Gefühle für Mrs. Gardiner. Er würde nichts tun, was nicht in ihrem Interesse läge oder zu ihrem Wohlergehen beitrüge.«

Seine Stimme klang plötzlich belegt, so sehr nahm ihn diese Situation mit, und auch seine Gastgeberin hatte mit den Tränen zu kämpfen. »Das weiß ich. Er ist ein sehr netter junger Herr.« Sie blinzelte. »Aber das ändert nichts, weiß Gott.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schwieg dann jedoch.

»Sie sind diejenige, die Miriam als Kind gefunden hat, nicht wahr?«, sagte er leise und mit großem Respekt. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.

Sie zögerte. »Ja, aber das ist viele Jahre her. Sie war damals erst zwölf oder dreizehn und in einen Unfall verwickelt. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen war. Sie befand sich in einem Zustand, den Sie sich gar nicht vorstellen können. Es ist niemand da gewesen, der zu ihr gehörte und sich um sie gekümmert hat. Ich habe sie aufgenommen. Das musste ich einfach, das arme kleine Ding.« Sie ließ Monk keine Sekunde aus den Augen. »Niemand hat je nach ihr gefragt oder nach ihr gesucht. Zu Anfang habe ich jeden Tag damit gerechnet, aber es vergingen Wochen und schließlich Monate, und niemand kam. Also habe ich einfach für sie gesorgt, als wäre sie mein eigenes Kind.«

In Monk stiegen Erinnerungen auf: Er hatte in dem schmalen Bett gelegen und zur Decke hinaufgestarrt und sein erster Gedanke war gewesen: Ich bin im Arbeitshaus. Dann hatte er sich umgesehen, die in Reih und Glied stehenden Betten bemerkt und begriffen, dass es heller Tag war und in allen Betten Menschen lagen. In einem Arbeitshaus wäre so etwas undenkbar gewesen! Er musste sich also in einem Hospital befinden. Aber er konnte sich an nichts erinnern! Nicht einmal an seinen Namen. Nichts war je zurückgekehrt, nur Bruchstücke hier und da, Ängste und Träume, Einzelheiten, nach denen er zu greifen versuchte, Gefühle, die ihm jetzt abhanden gekommen waren. Konnte Miriam Gardiner etwas Ähnliches widerfahren sein? Kannte sie ihren wirklichen Namen?

Vielleicht sah sie etwas in seinen Augen aufblitzen, eine Art von Verstehen, denn ihre Abwehr ließ ein wenig nach. »Sie war fast von Sinnen vor Angst, das arme kleine Wesen«, fuhr sie fort. »Sie konnte sich nicht erinnern, was passiert war.«

Cleo Anderson hatte sie bei sich aufgenommen und sie großgezogen, bis sie eine achtbare und so wie es schien glückliche Ehe mit einem reputablen Herrn aus der Nachbarschaft eingegangen war. Dann war sie Witwe geworden, hatte aber über genügend finanzielle Mittel verfügt, um recht zufrieden zu leben… bis sie bei einem Spaziergang durch Hampstead Heath Lucius Stourbridge getroffen hatte.

Aber es waren die Ereignisse von vor einer Woche, die zählten, und die Frage, wo Miriam jetzt sein konnte.

»Kannten Sie James Treadwell?«, fragte Monk Cleo Anderson.

Ihre Antwort kam sofort. »Nein.«

Sie war zu schnell, aber er wollte sie nicht mit seinem Verdacht konfrontieren. Er musste ihr Zeit lassen, ihre Meinung zu ändern.

»Sie waren also alles, was Miriam nach dem Unfall an Familie hatte.« In seiner Stimme schwang aufrichtige Bewunderung mit.

»Das ist wahr«, stimmte sie sanft zu. »Und sie war für mich wie das eigene Kind, das ich nie hatte. Und niemand hätte sich eine bessere Tochter wünschen können.«

»Dann müssen Sie also sehr glücklich gewesen sein, als sie einen guten Mann wie Mr. Gardiner heiratete«, bemerkte er.

»Natürlich. Und er war wirklich ein guter Mann! Ein wenig älter als Miriam, aber er hat sie geliebt, wirklich. Und sie mochte ihn ebenfalls.«

»Es muss sehr angenehm für Sie gewesen sein, dass Miriam nach ihrer Verheiratung in der Nähe blieb.«

Sie lächelte. »Natürlich. Aber es ist mir egal, wo sie lebt, so lange sie nur glücklich ist. Und sie liebt Mr. Lucius mehr, als ich Ihnen sagen kann. Ihr Gesicht leuchtete auf, wenn sie nur seinen Namen aussprach.« Diesmal brach sie in Tränen aus.

»Was ist passiert, Mrs. Anderson?«, fragte Monk beinahe flüsternd.

»Ich weiß es nicht.«

Im Grund hatte er gar nichts anderes erwartet. Diese Frau schützte das einzige Kind, das sie großgezogen und geliebt hatte.

»Aber Sie müssen Treadwell gesehen haben, wenn auch nur aus der Ferne, wenn Miriam Sie besuchte«, beharrte er.

Sie zögerte nur einen Moment. »Ich habe einen Kutscher gesehen, mehr nicht.«

Das konnte die Wahrheit sein. Vielleicht war Treadwell hierher gekrochen, weil er von Miriam erfahren hatte, dass Cleo Krankenschwester war.

Wer hatte Treadwell getötet… und warum? Warum hier?

»Was haben Sie Sergeant Robb erzählt?«, fragte er.

Ihre Haltung entspannte sich ein wenig. Sie trug ein schlichtes, beinahe uniformähnliches Kleid, wie er es Hester im Dienst oft hatte tragen sehen. Das Gefühl der Vertrautheit, das es in ihm weckte, gab ihm einen Stich.

»Das gleiche, das ich Ihnen sage«, antwortete sie. »Ich habe Miriam nicht mehr gesehen, seit sie zu ihrem Besuch bei Mr. Lucius und seiner Familie aufgebrochen ist. Ich weiß nicht, wo sie sich jetzt befindet, und ich habe keine Ahnung, was dem Kutscher zugestoßen ist oder von wem und warum er getötet wurde – ich kann nur sagen, dass ich Miriam kenne, seit sie ein kleines Mädchen war, und ich habe nie erlebt, dass sie die Beherrschung verlor oder gegen jemanden die Hand erhoben hätte, und darauf würde ich mein Leben verwetten.«

Monk glaubte ihr, zumindest was den letzten Teil ihrer Aussage betraf. Er akzeptierte es, dass sie Miriam für unschuldig hielt. Was er allerdings stark bezweifelte, war ihre Behauptung, nicht zu wissen, wo Miriam sich gegenwärtig aufhielt. Wenn mit Miriam alles in Ordnung gewesen wäre, wäre sie zweifellos nicht auf diese Weise aus dem Haus der Stourbridges geflohen, und sie hätte sich mit Sicherheit bei Lucius gemeldet. Wenn sie in Schwierigkeiten steckte, ganz gleich welcher Art, hätte sie sich als Erstes an Cleo Anderson gewandt, die Frau, die sie einst gerettet hatte.

»Ich hoffe, Sie werden nichts Derartiges tun müssen«, erwiderte er ernst, dann wünschte er ihr, ohne weitere Fragen zu stellen, eine gute Nacht.

Ein paar Häuser weiter kaufte er einem Straßenhändler ein Sandwich ab und plauderte ein wenig mit dem Mann, während er aß. Dann nahm er einen Omnibus zurück in die Fitzroy Street und war dankbar, sich endlich setzen zu können, so überfüllt das schwankende Gefährt auch war.

Er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Wohin konnte Miriam sich wenden? Sie hatte Angst. Sie vertraute niemandem, mit Ausnahme vielleicht von Cleo. Gewiss vertraute sie Lucius Stourbridge nicht. Sie würde Orte meiden, die ihr vollkommen fremd waren; andererseits würde sie auch keine Freunde aufsuchen, da man sie dort zuerst suchen konnte.

Die korpulente Frau, die neben ihm saß, schwitzte stark. Sie tupfte sich mit einem großen Taschentuch das Gesicht ab. Ein kleiner Junge blies durchdringend auf einer Pfeife, und seine Mutter befahl ihm vergeblich, damit aufzuhören. Ein älterer Mann mit einem Zylinder sog hörbar durch eine Zahnlücke die Luft ein. Monk sah den Jungen mit der Pfeife wütend an, woraufhin dieser sofort aufhörte. Der Mann mit der Zahnlücke lächelte erleichtert.

Miriam würde sich an jemanden wenden, dem sie trauen konnte, jemanden, dem auch Cleo traute, vielleicht an jemanden, der ihr für einen früheren Freundschaftsdienst noch einen Gefallen schuldete. Cleo war Krankenschwester. Wenn sie auch nur im Entferntesten wie Hester war, konnte sie darauf bauen, dass eine ganze Reihe von Menschen, ohne Fragen zu stellen, Schweigen bewahren würden. Das war der Punkt, an dem er beginnen musste, bei den Leuten, die Cleo Anderson gepflegt hatte. Er lehnte sich zurück und entspannte sich, ohne jedoch den kleinen Jungen aus den Augen zu lassen, für den Fall, dass er von neuem seine Pfeife an die Lippen führte.

Als Monk am nächsten Tag seine Arbeit wieder aufnahm, war es bereits sehr warm, obwohl der Uhrzeiger noch nicht ganz auf neun stand. Er hörte die Stimme des Lumpensammlers hinter sich verklingen, als er sich langsam von der Heide entfernte und Richtung Süden fuhr. Im Schatten hoher Bäume funkelte noch immer der Tau, aber die freien Grasflächen waren trocken.

Monk machte sich nicht die Mühe, Patienten mit großen Familien aufzusuchen, und natürlich ließ er auch jene außer Acht, deren Krankheit zum Tod geführt hatte. Cleo Anderson genoss einen guten Ruf. Kaum jemand hatte ein schlechtes Wort für sie. Auch Miriam war bei den Leuten sehr beliebt. Wie es schien, hatte sie Cleo häufig bei ihren Krankenbesuchen begleitet, vor allem nachdem sie selbst Witwe geworden war und sich nicht länger um das Wohlergehen von Mr. Gardiner kümmern musste.

Monk folgte jeder Spur, die vielleicht zu Miriam führen konnte. Bis zum späten Vormittag war er Sergeant Robb zweimal über den Weg gelaufen und fragte sich, ob dieser ihn ebenfalls bemerkt hatte. Auch wenn er ihn vielleicht nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, so musste er doch zahlreichen Hinweisen entnommen haben, dass er die gleichen Spuren verfolgte?

Kurz nach Mittag bog er um die Ecke der Prince Arthur Road und blieb jäh stehen. Zehn Meter vor ihm warf Robb einen nervösen Blick auf seine Uhr. Dann blickte er widerstrebend zu einem Haus auf der anderen Straßenseite hinüber, biss sich auf die Unterlippe und ging mit sehr eiligem Schritt in die entgegengesetzte Richtung.

Einen Moment war Monk verwirrt, dann begriff er, dass Robb sich auf den Heimweg machte. Sein Großvater musste seit dem frühen Morgen allein gewesen sein und würde Hilfe sowie etwas zum Essen benötigen.

Monk war voller Mitleid für den Sergeant und auch für den alten Mann, der Tag für Tag allein zu Hause saß und auf seinen Enkel wartete, der verzweifelt zwischen seiner Arbeit und der Pflicht, seinen Großvater zu pflegen, hin und her gerissen war.

Aber Monks erste Pflicht galt Miriam Gardiner, denn dafür hatte Lucius Stourbridge ihn engagiert, und er hatte ihm sein Wort gegeben. Monk suchte sie, weil es sein Auftrag war, Robb, weil er sich von ihr Informationen zur Aufklärung von Treadwells Tod erhoffte oder sie vielleicht sogar als Komplizin entlarven wollte. Es war unerlässlich, dass Monk sie als Erster fand.

Er schlenderte zu dem Haus hinüber, das Robb beobachtet hatte. Er wusste nicht, wer hier lebte oder was Robb zu finden gehofft hatte, aber die Zeit war zu knapp, um vorsichtig Erkundigungen einzuziehen. Dies war eine Chance, sich einen Vorteil zu verschaffen. Er klopfte an die Tür und trat einen Schritt zurück, um abzuwarten.

Das Dienstmädchen, das ihm kurz darauf mit ängstlichem Blick öffnete, konnte nicht älter als vierzehn oder fünfzehn sein, aber sie bemühte sich, einen selbstbewussten Eindruck zu machen.

»Ja, Sir?«

Er lächelte. »Guten Tag. Mrs. Gardiner hat mich gebeten, Ihrer Herrin eine Nachricht zu überbringen, falls sie im Haus ist.« Er wünschte, er hätte wenigstens den Namen der Familie gewusst.

Einen Augenblick lang sah die junge Frau ihn verständnislos an, aber sie wollte gern hilfsbereit sein. »Sind Sie sicher, dass Sie das richtige Haus erwischt haben, Sir? Hier wohnt niemand außer dem alten Mr. Hornchurch.«

»Oh.« Er war verwirrt. Was konnte Robb von dem alten Mr. Hornchurch gewollt haben?

Ihre Miene hellte sich auf. »Vielleicht meinte sie die Haushälterin, Mrs. Whitbread, die tagsüber herkommt und für Mr. Hornchurch kocht. Sie war sehr krank im vorletzten Winter, und Mrs. Gardiner hat sie damals gepflegt.«

Er spürte, wie ihm vor Erleichterung ganz flau im Magen wurde. Bevor er wieder richtig durchatmen konnte, schluckte er.

»Ja. Natürlich. Das hätte ich erwähnen sollen. Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich Mrs. Whitbread in ihrem eigenen Heim besuchen würde? Können Sie mir sagen, wie ich von hier aus dorthin komme?« An wen sollte Miriam sich in ihrer Lage wenden, wenn nicht an Menschen, denen sie in ihrer Not beigestanden hatte?

Das Mädchen sah ihn zweifelnd an. »Vielleicht. Ich werde sie fragen. Sie hat es nicht gern, wenn jemand zu ihr nach Hause kommt. Ich schätze, wenn man mit seiner Arbeit fertig ist, möchte man gern für sich sein.«

»Natürlich«, pflichtete er ihr bei. Er stand noch immer ein gutes Stück von der Treppe entfernt. »Aber Sie könnten ihr doch sicher eine Nachricht übermitteln, wenn Sie so freundlich sein wollten?«

»Das kann ich ganz sicher«, stimmte sie erleichtert zu.

Er nahm ein Stück Papier und einen Bleistift aus der Tasche und schrieb. »Sagen Sie Sergeant Robb nichts über Miriam«, dann faltete er das Papier zweimal zusammen, knickte die Enden um und gab es dem Mädchen. »Es ist wichtig, dass Mrs. Whitbread die Nachricht sofort erhält«, schärfte er der jungen Frau ein. »Und wenn die Polizei Sie besucht, seien Sie sehr vorsichtig, was Sie sagen.«

Ihre Augen weiteten sich. »Das mach ich«, versprach sie.

»Man soll nie mit denen sprechen, das sagt mein Vater auch immer. Das ist das Beste. Ich habe nichts gehört und nichts gesehen.«

»Sehr klug«, nickte er und lächelte ihr noch einmal zu, »vielen Dank.« Dann drehte er sich um und wandte sich zum Gehen.

Er würde warten, bis Mrs. Whitbread ihre Arbeit beendet hatte, und ihr dann folgen. Seine Hoffnung, dass sie ihn vielleicht zu Miriam. führen könnte, war sehr groß. In der Zwischenzeit würde er sich etwas zu essen besorgen und sich möglichst von Robb fern halten, wenn dieser wieder auftauchte, um selbst mit Mrs. Whitbread zu sprechen.

Er schlenderte über den Gehsteig und kaufte einem Händler ein Sandwich mit Rindfleisch und Zwiebeln ab. Es war frisch, und er verzehrte es mit beträchtlichem Appetit. Und weil es so gut mundete, leistete er sich noch ein zweites. Er fragte sich, wie Robb Mrs. Whitbread gefunden haben mochte. Es war eine anerkennenswerte Leistung und nötigte ihm einigen Respekt ab.

Er musste in Sichtweite von Mr. Hornchurchs Haus bleiben, gleichzeitig aber durfte Robb ihn bei seiner Rückkehr nicht bemerken.

Er nahm an, dass dieser auf demselben Weg zurückkommen würde, über den er ihn hatte weggehen sehen, daher war er mehr als überrascht, als er Robbs Stimme direkt hinter sich hörte und ihn, als er herumfuhr, mit grimmiger Miene vor sich stehen sah.

»Warten Sie auf mich, Inspektor Monk?«, fragte er eisig. Monk war, als hätte man ihn geohrfeigt. Mit einem einzigen Satz hatte Robb gezeigt, dass er von Monks Vergangenheit bei der Polizei wusste. Und er wusste auch, dass er für seine Tüchtigkeit wie auch für seine Skrupellosigkeit bekannt gewesen war. Er sah es in seinem wachsamen, herausfordernden Blick. Monk spürte auch den Zorn des anderen Mannes und noch etwas anderes, das vielleicht Furcht war.

Hatte es einen Sinn zu lügen? Er wollte sich Robb nicht zum Feind machen, weder aus praktischen noch aus persönlichen Gründen. Seine erste Sorge galt Miriam. Möglicherweise hing ihre Freiheit, vielleicht sogar ihr Leben, von seinem Verhalten ab.

Er verlagerte sein Gewicht, um ein wenig lockerer zu wirken. Dann hob er die Augenbrauen. »Eigentlich hatte ich gehofft, Ihnen aus dem Weg gehen zu können«, sagte er wahrheitsgemäß.

Robbs Mund verzog sich. »Sie dachten, ich würde auf demselben Weg zurückkommen, auf dem ich weggegangen war? Das war auch meine Absicht, hätte ich Sie nicht vorhin gesehen, und ich gebe zu, das war reiner Zufall. Aber ich kenne die Gegend hier besser als Sie, das ist ein Vorteil. Ich habe mich gefragt, ob Sie mir folgen würden. Es schien das Naheliegende zu sein, wenn Ihnen selbst nichts eingefallen wäre.« In seiner Stimme lag Verachtung. »Warum haben Sie hier auf mich gewartet? Ich nehme an, Sie wussten, dass ich zu meinem Großvater gehen würde.«

Monk zuckte zusammen und stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, dass die Worte des anderen ihn kränkten. Das hatte er nicht verdient. Sicher, er versuchte Robb bei der Suche nach Miriam zuvorzukommen, aber damit hatte Lucius Stourbridge ihn schließlich beauftragt. Und das war Robb bekannt.

»Natürlich wusste ich, wo Sie hinwollten«, antwortete er mit beinahe ausdrucksloser Stimme. »Aber ich bin Ihnen deshalb nicht nachgegangen, weil ich Ihnen von Anfang an nicht gefolgt bin. Überrascht es Sie denn, dass meine Ermittlungen mich an dieselben Orte führen wie Sie?«

»Nein«, sagte Robb sofort. »Sie haben einen weithin bekannten Ruf, Inspektor Monk.« Er äußerte sich nicht näher über die Art dieses Rufs, aber der Ausdruck in seinen Augen sagte alles.

Die Erinnerungen an Runcorn kehrten zurück, an seinen stets latenten Zorn, den er unter einer dünnen Tünche von Selbstbeherrschung verbarg, die Angst, die durch die Fassade aufschimmerte, die Erwartung, dass Monk ihm, egal, was er tat, immer zuvorkommen würde, dass er seine Autorität untergraben und die Antwort als Erster finden würde. Diese Gefühle hatten sich im Lauf der Jahre so tief eingeprägt, dass sie keiner bewussten Überlegung mehr bedurften, sondern reiner Instinkt waren – so wie man zusammenzuckte, bevor man geschlagen wurde.

Nach dem Unfall hatte Monk hier und da Dinge über sich selbst erfahren und sie zusammengefügt, wobei er sich manchmal gewünscht hätte, sie seien nicht wahr. Aber er hatte diese Eigenschaften doch im letzten Jahr abgelegt! Er besaß zwar immer noch eine scharfe Zunge und konnte Narren nicht ertragen – aber er war nicht ungerecht! Robb beurteilte ihn nach seiner Vergangenheit.

»Offensichtlich«, erwiderte er kühl. Er wusste auch, dass er in dem Ruf stand, sein Handwerk zu verstehen. »Dann sollte es Sie nicht überraschen, dass ich dieselben Schlussfolgerungen gezogen habe wie Sie und auf dieselbe Person gestoßen bin, ohne Ihre Fährte verfolgen zu müssen!«

Robb straffte die Schultern und versteifte sich. In seiner Miene spiegelten sich Verachtung und Abneigung, aber gleichzeitig auch die Erkenntnis, dass er es mit einem überlegenen Feind zu tun hatte.

»Sie haben mir gegenüber einen Vorteil, Mr. Monk. Sie kennen meinen einzigen wunden Punkt. Sie müssen die Angelegenheiten so angehen, wie Sie es für richtig halten, aber ich lasse mich nicht erpressen, auf die Verfolgung des Mörders von James Treadwell zu verzichten – ob es sich dabei nun um Mrs. Gardiner handelt oder nicht.« Er sah Monk mit ruhigem Blick an.

Monk war plötzlich übel. So ein Mensch konnte er nicht gewesen sein! Ein Mensch, der schäbig genug war, einen jungen Mann zu erpressen, weil dieser einen Teil seiner Dienstzeit darauf verwandte, seinen alten kranken Großvater zu versorgen?

Sein Mund war mit einem Mal trocken geworden, und es fiel ihm schwer, Worte zu finden. Was hatte er sagen wollen? Er würde dem anderen nicht mit Bitten kommen, das wäre ebenso demütigend wie sinnlos gewesen.

»Worüber Sie mit Ihren Vorgesetzten sprechen, ist Ihre Angelegenheit«, erwiderte er eisig, »wenn Sie überhaupt mit ihnen über etwas sprechen. Ich persönlich hielt es nie für nötig, meinen Vorgesetzten Erklärungen abzugeben. Meine Arbeit hat für mich gesprochen.« Er klang arrogant und er wusste es. Aber was er sagte, entsprach der Wahrheit.

Er sah einen Anflug von Anerkennung in Robbs Gesicht aufschimmern und Vertrauen.

»Und Sie werden feststellen, dass ich eine Menge Fehler gemacht habe«, fuhr er mit schneidender Stimme fort. »Aber Sie werden niemanden finden, der Ihnen sagen wird, ich hätte mich auf das Niveau eines Erpressers herabgelassen.«

Ganz allmählich entspannte sich Robbs Haltung. Er sah Monk immer noch argwöhnisch an, aber während langsam die Furcht von ihm wich, verschwand auch die Feindseligkeit aus seinen Augen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Es tut mir Leid – vielleicht habe ich Ihre Fähigkeiten unterschätzt.« Das war das Äußerste an Entschuldigung, was Monk von ihm zu hören bekommen würde.

Monk ging es allerdings nicht um seine Fähigkeiten, sondern um seine Ehre, aber es hätte keinen Sinn gehabt, diese Frage im Augenblick weiterzuverfolgen. Wichtiger als alles andere war es, in Sichtweite des Hauses zu bleiben, damit er Mrs. Whitbread folgen konnte, wenn sie das Haus verließ. Gleichzeitig durfte er Robb keine Gelegenheit geben, sich seinerseits auf Monks Fährte zu setzen. Und auch das spielte natürlich nur dann eine Rolle, wenn das Dienstmädchen an der Tür Robb nicht die gleiche Information wie ihm gab. Das Ergebnis hing wahrscheinlich von Mrs. Whitbreads Geistesgegenwart ab.

Er sah Robb an, lächelte dann und verabschiedete sich. Er würde einen Kreis um das Haus machen und äußerst vorsichtig zurückkehren.

Mrs. Whitbread brach um Viertel vor fünf auf. Robb war nirgends zu sehen. Während Monk ihr in sicherem Abstand folgte, fiel seine Müdigkeit, die er inzwischen verspürte, von ihm ab, und seine Sinne schärften sich. Ein Gefühl der Hoffnung erfüllte ihn.

Sie waren nicht weit gegangen, vielleicht eineinviertel Meilen, als Mrs. Whitbread, eine hagere Frau mit einem sanften Gesicht, sich einem kleinen Haus auf der Kemplay Road näherte und mit einem Schlüssel die Haustür öffnete.

Monk wartete ein paar Sekunden, sah sich nach beiden Seiten um und trat dann, als er niemanden entdecken konnte, an die Tür. Er klopfte.

Einen Moment später stand Mrs. Whitbread vor ihm und musterte ihn argwöhnisch. »Ja?«

Er hatte lange darüber nachgedacht, was er sagen sollte. Es lag auf der Hand, dass Miriam weder von der Polizei noch von Lucius Stourbridge gefunden werden wollte. Wenn sie Letzterem gegenüber vertraut hätte, hätte sie sich schon lange bei ihm gemeldet. Entweder fürchtete sie, er werde sie an die Polizei verraten, oder aber sie wollte ihn schützen.

»Guten Abend, Mrs. Whitbread«, sagte Monk mit fester Stimme. »Ich habe eine dringende Nachricht von Mrs. Anderson – für Miriam. Ich muss sie sofort sprechen.« Cleo Anderson war der einzige Name, der vielleicht Vertrauen weckte.

Sie zögerte nur kurz, dann zog sie die Tür weiter auf.

»Sie kommen besser herein«, sagte sie hastig. »Man kann nie wissen, wer einen beobachtet. Ich hatte heute erst einen Besuch von der Polizei, in dem Haus, in dem ich arbeite.«

Monk trat ein, und sie schloss die Tür hinter ihm. »Ich weiß, ich war derjenige, der sie unbeabsichtigt auf Ihre Spur gebracht hat. Haben Sie dem Polizisten etwas gesagt?«

»Natürlich nicht«, antwortete sie und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Denen traue ich nicht über den Weg. Kann ich mir gar nicht leisten.«

Er sagte nichts, sondern folgte ihr durch den Flur in die Küche. Am Herd stand, mit weit aufgerissenen Augen, die Frau, nach der er gesucht hatte. Er wusste sofort, dass es Miriam Gardiner war. Sie entsprach ganz genau Lucius’ Beschreibung: durchschnittlich groß, sanft gerundete Figur, ein schön proportioniertes, weiches Gesicht, in dem jedoch eine gewisse Stärke verborgen lag. Auf den ersten Blick wirkte sie sehr sanftmütig, eine Frau, die denen, die sie liebte, gehorchte und ihnen gefallen wollte, aber sie besaß eine natürliche Würde. Schon in diesen wenigen Augenblicken wurde Monk klar, warum Lucius Stourbridge so leidenschaftlich nach ihr suchte, ungeachtet der Umstände, unter denen James Treadwell zu Tode gekommen sein mochte.

»Mrs. Gardiner«, sagte er leise, »ich bin nicht von der Polizei. Aber ich komme auch nicht von Mrs. Anderson. Ich habe in diesem Punkt gelogen, weil ich befürchtete, Sie würden nicht mit mir sprechen. Aber ich komme von Lucius Stourbridge.«

Sie erstarrte und schien plötzlich nicht mehr wahrzunehmen, dass die Deckel der Töpfe auf dem Herd laut klapperten. Bis auf dieses Geräusch war es vollkommen still im Raum. Miriams Angst war beinahe mit Händen zu greifen.

Monk wusste, dass Mrs. Whitbread mit vor Zorn funkelnden Augen neben ihm stand. Er war froh, dass die Stielpfanne an der Wand gegenüber für sie außer Reichweite war, denn er hätte es ihr durchaus zugetraut, dass sie damit auf ihn losging.

»Ich bin nicht hier, um Sie nach Bayswater zurückzubringen«, sagte er sanft und ohne den Blick von Miriam abzuwenden. »Ich will Sie auch nicht zur Polizei bringen. Wenn Sie wünschen, dass ich Mr. Stourbridge nicht mitteile, wo Sie sich befinden, werde ich das auch nicht tun. Ich werde ihm lediglich sagen, dass Sie noch leben und unverletzt sind. Er macht sich große Sorgen um Sie und das wird ihn zumindest beruhigen, auch wenn es wohl kaum etwas erklärt.«

Miriam erwiderte seinen Blick. Ihr Gesicht war leichenblass. Die Qual, die er darin las, weckte ernste Zweifel in ihm. War es richtig, was er hier tat? Er hatte Angst vor dem, was er möglicherweise enthüllen würde.

»Er weiß nicht, was er glauben soll«, fuhr Monk behutsam fort, »abgesehen davon, dass Sie nicht wissentlich etwas Böses tun könnten.«

Sie holte Luft und begann zu weinen. Ungeduldig wischte sie die Tränen fort, aber es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

»Ich kann nicht zurückkommen.« Es war eine Feststellung, an der es nichts zu rütteln gab. In ihrer Stimme lag nicht der Schimmer einer Hoffnung, dass sich etwas an ihrer Entscheidung ändern würde.

»Ich kann versuchen, die Polizei von Ihnen fernzuhalten«, sagte er, als sei dies eine Antwort auf ihre Worte. »Aber es wird mir vielleicht nicht gelingen. Sie sind mir dicht auf den Fersen.«

Mrs. Whitbread ging um ihn herum und nahm die Töpfe vom Herd. Sie sah Monk mit Abscheu an.

Miriam machte ihr Platz.

»Was ist passiert?«, fragte Monk, so sanft er konnte.

Sie räusperte sich. Ihre Stimme war heiser. »Geht es Cleo – Mrs. Anderson – gut?«

»Ja.«

Es hatte keinen Sinn ihr zu sagen, dass Cleo Anderson in Gefahr war, falls Robb den Eindruck gewann, dass sie ihm Informationen vorenthielt oder dass es kein Zufall war, dass man Treadwell vor ihrem Haus gefunden hatte.

Miriam schien sich ein wenig zu entspannen. Ihre Wangen röteten sich wieder.

»Wo haben Sie Treadwell das letzte Mal gesehen?«, fragte er. Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte kaum merklich den Kopf.

Er sprach mit Bedacht sehr leise und geduldig, um möglichst wenig einschüchternd zu klingen.

»Sie werden diese Fragen irgendwann beantworten müssen, wenn nicht mir, dann der Polizei. Er wurde ermordet, erschlagen …« Monk brachte den Satz nicht zu Ende. Sie war so aschfahl geworden, dass er fürchtete, sie werde in Ohnmacht fallen. Er machte einen Satz auf sie zu und hielt sie an den Armen fest, dann schob er sie rückwärts zu einem Küchenstuhl, wo er sie noch einen Augenblick stützte, bevor sie sich auf den Stuhl sinken ließ.

»Raus!«, hörte er Mrs. Whitbreads wütende Stimme.

»Verlassen Sie mein Haus!« Sie griff nach der Stielpfanne und machte einen Schritt auf ihn zu.

Er wich nicht zurück, behielt sie aber im Auge. »Setzen Sie den Kessel auf«, befahl er. »Mich wegzuschicken, ist keine Lösung. Wenn die Polizei auftaucht, und das wird sie, dann kommt sie nicht in Freundschaft, wie ich es tue. Die Polizei wird nur nach Beweisen suchen und Gerechtigkeit fordern – oder was sie dafür hält.«

Miriam schloss die Augen. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um langsam ein und auszuatmen und nicht ohnmächtig zu werden.

Mrs. Whitbread füllte widerstrebend den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Sie musterte Monk argwöhnisch, bevor sie schließlich Tassen und eine Kanne aus dem Schrank kramte. Dann ging sie mit klappernden Absätzen zur Speisekammer, um die Milch zu holen.

Monk setzte sich auf den Stuhl Miriam gegenüber.

»Was ist passiert?«, wiederholte er. »Wo war Treadwell, als Sie ihn das letzte Mal sahen? Lebte er zu diesem Zeitpunkt noch?«

»Ja…«, flüsterte sie, aber als sie den Blick hob, stand ein so tiefes Entsetzen darin, dass ihre Worte ihm wenig tröstlich erschienen.

»Waren Sie dabei, als er getötet wurde?«

Sie schüttelte den Kopf, eine Bewegung, die Monk kaum wahrnehmen konnte.

»Wissen Sie, wer ihn getötet hat oder warum?« Sie sagte nichts.

Mrs. Whitbread kam mit einem Krug Milch zurück. Sie funkelte Monk wütend an, aber sie unterbrach ihn nicht. Sie ging durch den Raum und goss ein wenig kochendes Wasser in die Kanne, um sie wärmen.

»Wer hat Treadwell getötet?«, fragte Monk noch einmal.

»Und warum?«

Miriam sah ihn mit großen Augen an. »Ich kann es Ihnen nicht sagen«, flüsterte sie. »Ich kann Ihnen gar nichts sagen. Ich kann nicht mit Ihnen kommen. Bitte gehen Sie. Ich kann nicht helfen – es gibt nichts – nichts, was ich tun könnte.«

In ihrer Stimme lag eine solche Hoffnungslosigkeit, dass alle Einwände auf seinen Lippen erstarben.

Der Kessel begann zu pfeifen. Mrs. Whitbread nahm ihn vom Herd und drehte sich zu Monk um.

»Gehen Sie jetzt«, sagte sie ruhig, aber ihr Blick war hart. »Es gibt hier nichts für Sie zu erfahren. Sagen Sie Lucius Stourbridge, was immer Sie ihm sagen wollen, aber gehen Sie jetzt. Wenn Sie zurückkommen, wird Miriam nicht mehr hier sein. Es gibt genug andere Leute, die sie verstecken werden. Wenn Mr. Stourbridge der Freund ist, der er zu sein behauptet, wird er sie in Ruhe lassen. Sie finden sicher selbst hinaus.« Sie hielt noch immer den Kessel in der Hand, aus dem Dampf quoll. Es war nicht direkt eine Drohung, aber Monk deutete ihre Geste richtig.

Er erhob sich, warf einen letzten Blick auf Miriam und ging dann zur Tür. Erst da fiel ihm Robb wieder ein, und er änderte seine Meinung. Der Eingang durch die Küche führte wahrscheinlich in einen Kohlenkeller und von dort aus weiter in eine Gasse jenseits der Hauptstraße.

»Ich werde Mr. Stourbridge mitteilen, dass Sie gesund und wohlauf sind«, sagte er leise. »Mehr nicht. Aber die Polizei ist mir dicht auf den Fersen. Ich bin dem Sergeant, der mit dem Fall betraut ist, in den letzten zwei Tagen ständig begegnet.«

Mrs. Whitbread verstand, was er damit sagen wollte. Sie nickte. »Gehen Sie nach links«, wies sie ihn an. »Dann kommen Sie wieder auf die Straße. Passen Sie auf, dass Sie nicht über die Ascheneimer stolpern.«

»Und mehr hat sie nicht gesagt?« Hester sah ihn ungläubig an, als er ihr berichtete, was er erlebt hatte. Sie saßen in dem behaglichen Raum, in dem er seine Klienten empfing und der ihnen gleichzeitig als Wohnzimmer diente. Die Fenster standen offen, um die warme Abendluft einzulassen. Man konnte das Rascheln der Blätter von einem Baum in der Nähe hören und in der Ferne das gelegentliche Klappern von Hufen, wenn ein Wagen über die Straße rollte.

»Nein«, antwortete er und sah zu ihr hinüber. Sie hatte keine Näharbeit auf dem Schoß, wie es bei anderen Frauen vielleicht der Fall gewesen wäre. Sie griff nur dann zur Nadel, wenn es nicht zu vermeiden war. Sie konzentrierte sich ganz auf seinen Bericht, mit geradem Rücken und aufmerksamem Blick.

»Wie war sie denn?«, fragte sie.

Er zuckte zusammen. »Wie sie war?«

»Ja«, sagte sie ungeduldig. »Sie hat dir keinerlei Erklärungen gegeben! Hat sie dir nicht gesagt, warum sie aus Kensington weggegangen ist? Du hast sie doch gefragt, nehme ich an?«

Er hatte sie nicht gefragt. An dem Punkt wusste er bereits, dass sie es ihm nicht sagen würde.

»Du hast es nicht getan!« Hesters Stimme wurde eine Oktave höher.

»Sie hat sich standhaft geweigert, irgendetwas preiszugeben«, erwiderte er. »Nur dass sie nicht dabei war, als Treadwell getötet wurde. Ich glaube, sie wusste nicht einmal, dass er tot war. Als ich es ihr mitteilte, war sie so entsetzt, dass es ihr die Stimme verschlug. Es fehlte nicht mehr viel, und sie wäre in Ohnmacht gefallen.«

»Sie weiß etwas darüber!«, sagte Hester sofort.

Das war eine unbegründete Schlussfolgerung und doch hatte er den gleichen Eindruck gehabt. Er sah Hester an und lächelte unglücklich.

»Das heißt, du hast nichts Neues erfahren«, sagte sie.

»Ich habe immerhin erfahren, dass Mrs. Whitbread sie notfalls mit Gewalt verteidigt hätte. Außerdem hätte sie für Miriam sogar Ärger mit der Polizei auf sich genommen«, stellte er fest. »Und dann wäre da noch die Tatsache, dass Robb sie mit ziemlicher Sicherheit früher oder später finden wird.«

»Also, wie war sie?«, fragte sie noch einmal.

Er machte keine Ausflüchte, keine Bemerkung über die Unergründlichkeit weiblicher Logik.

»Ich habe nie jemanden gesehen, der solche Angst hatte«, antwortete er aufrichtig, »oder solche Qualen litt. Aber ich glaube nicht, dass sie mir – oder irgendjemandem sonst – erzählen wird, was geschehen oder warum sie weggelaufen ist. Lucius Stourbridge wird es auf keinen Fall erfahren.«

»Was wirst du tun?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Plötzlich wurde ihm klar, dass er seine Entscheidung bereits getroffen hatte.

»Ich werde Stourbridge mitteilen, dass ich sie gefunden habe, dass sie wohlauf ist und dass sie versichert, nichts mit Treadwells Tod zu tun zu haben, aber ich werde ihm nicht verraten, wo sie sich aufhält. Außerdem wird sie, bis ich ihm Bericht erstatte, kaum mehr dort sein. Ich habe sie gewarnt, dass Robb mir dicht auf den Fersen ist.« Er brauchte nicht zu erwähnen, welches Risiko er mit dieser Warnung eingegangen war. Hester wusste es.

»Die arme Frau«, sagte sie leise. »Die arme Frau.«