11

Während Rathbone niedergeschlagen im Gerichtssaal saß, setzte Monk seine Ermittlungsarbeiten fort und versuchte, Einzelheiten über Treadwells Leben in Erfahrung zu bringen. Er hatte die Bewohner des Hauses der Stourbridges bereits ausgiebig befragt und sich auch in der Gegend um den Cleveland Square herum umgehört. Niemand hatte ihm einen Hinweis geben können, der auch nur den geringsten Anhaltspunkt für weitere Erkundigungen geboten hätte. Treadwell war geradezu langweilig durchschnittlich gewesen.

Dann nahm er sich Kentish Town vor, wo Treadwell aufgewachsen war. Es war ein schwieriges Unterfangen, und er hatte kaum Hoffnung etwas herauszufinden. Er befürchtete, dass Miriam Gardiner tatsächlich schuldig im Sinne der Anklage und die arme Cleo Andersen nur mit hineingezogen worden war, weil sie das Mädchen, das sie einst gerettet hatte, so sehr liebte. Sie hatte sich geweigert zu erkennen, dass Miriam unter all ihrer freundlichen Oberfläche und scheinbaren Verletzlichkeit zu einer habgierigen Frau herangewachsen war, die nicht einmal vor Mord zurückschreckte, um zu bekommen, was sie wollte. Liebe konnte blind machen.

Er wanderte durch die Straßen von Kentish Town und ging von einem Gasthaus zum nächsten, um seine Fragen so diskret zu stellen, wie es ihm in der verbleibenden knappen Zeit möglich war. Zweimal war er zu direkt, zu voreilig und wurde scharf zurückgewiesen. Er verließ das Lokal und begann ein Stück weiter noch einmal, vorsichtiger diesmal.

Bei Sonnenuntergang war er müde und erschöpft und seine Füße schmerzten. Er fuhr mit einem Omnibus nach Hause. Monk würde mit diesem Fall kein Geld mehr verdienen, aber es lag ihm persönlich am Herzen, hinter die Wahrheit zu kommen. Lucius Stourbridge hätte ihn auch weiter bezahlt, aber Monk hatte sich geweigert, noch länger Geld für etwas anzunehmen, das er, dessen war er sich fast sicher, nicht würde aufklären können.

Hester sah ihm nur kurz ins Gesicht, als er eintrat, und stellte keine Fragen. Das sagte ihm mehr als alle Worte.

Am zweiten Tag brachte er erheblich mehr in Erfahrung. In der Nähe von Hampstead entdeckte er ein Lokal, in dem Treadwell bekannt war. Von dort aus konnte er einen Mann aufspüren, bei dem Treadwell Spielschulden hatte. Da Treadwell tot war, ließ sich die Schuld jetzt nicht mehr eintreiben.

»Irgendjemand sollte dafür verantwortlich sein«, sagte der Mann verärgert. Seine runden, stechenden Augen waren ein wenig blutunterlaufen. »Gibt es dafür denn kein Gesetz? Man sollte sich seinen Schulden nicht einfach entziehen können, indem man den Löffel abgibt.«

Monk setzte eine verständnisvolle Miene auf. »Nun, normalerweise würde man sich an die Erben des Mannes wenden«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob Treadwell welche hatte…?« Er ließ die Frage so stehen.

»Nein!«, rief der Mann voller Abscheu. »War völlig ungebunden, der Halunke.«

»Wollen Sie etwas trinken?«, fragte Monk. Möglich, dass er nur seine Zeit verschwendete, aber er hatte keine bessere Spur, der er folgen konnte.

»Ha, da hätt ich nichts dagegen«, nahm der Mann die Einladung an. »Reece.« Er hielt Monk die Hand hin, nachdem er sie gründlich an seinem Hosenbein abgewischt hatte.

Monk brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass der Mann sich soeben vorgestellt hatte, dann ergriff er die dargebotene Hand und schüttelte sie. »Monk«, erwiderte er.

»Also dann!«, sagte Reece wohlgelaunt. »Ich hätte gerne ein Pint mildes Bier, vielen Dank.«

Als die Pints bestellt und gebracht worden waren, setzte Monk das Gespräch fort. »War er Ihnen denn viel schuldig?«

»Das möcht ich meinen!« Reece nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier, bevor er weitersprach. »Fast zehn Pfund!«

Monk war verblüfft. Das war mehr, als ein Hausmädchen in sechs Monaten verdiente!

»Da sind Sie platt, was?«, bemerkte Reece befriedigt. »Er hat um großes Geld gespielt, dieser Treadwell.«

»Und großes Geld verloren!«, stimmte Monk zu. »Er kann nicht oft in dieser Höhe verloren haben. Hat er nicht auch gelegentlich gewonnen?«

»Manchmal schon. Der wusste sein Leben zu genießen. Wein, Weiber und Pferde. Er muss wohl manchmal gewonnen haben, denke ich. Aber woher soll ich jetzt meine zehn Pfund kriegen, können Sie mir das sagen?«

»Was mich interessiert, ist zunächst mal die Frage, woher Treadwell das Geld hatte«, sagte Monk mit Nachdruck. »Als Kutscher hat er ganz gewiss nicht so viel verdient!«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Reece, dessen Interesse langsam abflaute. Er leerte sein Glas und sah Monk erwartungsvoll an.

Monk tat ihm den Gefallen.

»Er war also Kutscher, wie?«, sagte Reece nachdenklich.

»Na, da muss er wohl noch ‘n bisschen was nebenbei verdient haben. Weiß aber nicht, wie.«

Ein sehr hässlicher Gedanke kam Monk in den Sinn, ein Gedanke, der die von Cleo Andersen gestohlenen Medikamente betraf, insbesondere das Morphium. Hester hatte gesagt, dass im Laufe der Zeit möglicherweise eine beträchtliche Menge verschwunden sein könne. Vielleicht hatte nicht alles seinen Weg in die Häuser der Alten und Kranken gefunden. Jeder, der von einer solchen Droge abhängig war, würde einen hohen Preis zahlen, um sie zu bekommen. Es wäre nur allzu verständlich, wenn Cleo Morphium verkauft hätte, um Treadwell zu bezahlen – oder vielleicht hatte sie es ihm auch direkt gegeben, anstelle von Geld. Der Gedanke behagte ihm keineswegs, aber er wurde ihn auch nicht wieder los.

Den Rest des Tages verbrachte er damit, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie Treadwell seine Freizeit verbracht hatte, die anscheinend ziemlich großzügig bemessen war. Der Kutscher hatte, wie Monk feststellte, dazu geneigt, ziemlich über die Stränge zu schlagen. Aber es schien im Abstand von etwa zwei Wochen immer wieder einige Stunden gegeben zu haben, über deren Gestaltung Monk keine Informationen finden konnte, und er kam zu dem Schluss, dass Treadwell diese Zeit entweder benutzt hatte, um Morphium zu verkaufen oder um andere Opfer zu erpressen.

Das Letzte, was Monk an diesem Tag tat, war ein Besuch bei Cleo. Er wurde vorgelassen, nachdem er dem Gefängniswärter glaubhaft versichert hatte, er sei Rathbones Angestellter. Er hatte zwar keine Beweise für diese Behauptung, aber der Wärter hatte ihn bei einer früheren Gelegenheit mit Rathbone gesehen und hatte keine Einwände. Vielleicht aber war es auch sein Mitgefühl für Cleo, das ihn bewog, ein Auge zuzudrücken.

Cleo war überrascht, ihn zu sehen, aber in ihren Augen glomm keine Hoffnung. Sie sah ausgezehrt und erschöpft aus und hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit der Frau, der er vor zwei Monaten begegnet war.

Ihr Anblick rief Gefühle des Zorns und der Empörung über die Ungerechtigkeit dieser Welt in ihm wach, die heftiger waren, als er erwartet hätte. Wenn er in diesem Fall versagte, würde er sich das so schnell nicht verzeihen, vielleicht bis an sein Lebensende nicht.

Er durfte keine Zeit für Worte des Mitleids oder der Ermutigung vergeuden. Außerdem wusste er, dass sie ohnehin verschwendet gewesen wären, denn sie hatten keine Bedeutung für Cleo.

»Wissen Sie, ob Treadwell außer Ihnen noch jemanden erpresst hat?«, fragte er sie, während er ihr gegenüber Platz nahm.

»Nein. Warum? Meinen Sie, der Betreffende hat ihn getötet?« Fast glaubte er, so etwas wie Hoffnung in ihrer Stimme zu hören.

Seine Aufrichtigkeit verbot es ihm, dieser Hoffnung Nahrung zu geben. »Es wäre möglich, und deshalb muss ich wissen, wie viel Sie ihm bezahlt haben«, antwortete er. »Ich habe mir einen ziemlich genauen Überblick darüber verschafft, wie viel er in den letzten zwei oder drei Monaten seines Lebens ausgegeben hat. Wenn die gesamte Summe von Ihnen stammt, dann müssen Sie einen Teil des gestohlenen Morphiums verkauft haben.«

Ihr Körper verkrampfte sich, und sie sah ihn wütend an. »Das hab ich nicht getan! Und ich habe ihm auch keins gegeben!«

»Wir müssen es beweisen«, wandte er ein. »Haben Sie irgendwelche Unterlagen über den Lohn, den das Krankenhaus Ihnen gezahlt hat, über sämtliche Medikamente, die Sie entwendet haben sowie über die Personen, an die Sie die Medikamente weitergegeben haben?«

»Nein – natürlich habe ich nichts dergleichen!«

»Aber Sie kennen alle Patienten, denen Sie Medikamente gebracht haben«, beharrte er.

»Ja…«

»Dann schreiben Sie sie für mich auf. Hier.« Er gab ihr Papier und Bleistift. »Schreiben Sie mir Namen und Adressen auf und welche Medikamente Sie dem Betreffenden gegeben haben und über welchen Zeitraum.«

Sie sah ihn kurz an, dann gehorchte sie und führte den Bleistift mit langsamen, bedächtigen Bewegungen über das Papier.

Würde seine Idee einen Sinn haben, oder suchte er lediglich eine Möglichkeit, sich zu beschäftigen, damit er sich einreden konnte, er bemühe sich, sie zu retten? Was konnte er mit diesen Listen anfangen? Wer würde zuhören, wer würde sich dafür interessieren, ganz gleich, zu welchen Ergebnissen er kam? Beweise waren das Einzige, was vor Gericht zählte. Die Geschworenen hatten Cleo und Miriam im Stillen bereits verurteilt. Man würde sie zwingen müssen, von dieser Überzeugung abzurücken, es genügte nicht, einfach zu sagen, dass es noch eine andere, wenn auch noch so kleine Möglichkeit gab.

Cleo war mit der Liste fertig. Es standen achtzehn Namen darauf.

»Ich danke Ihnen.« Er nahm den Bogen Papier entgegen und warf einen Blick darauf. »Wie viel verdienen Sie im Krankenhaus?«

»Sieben Shilling die Woche.« Sie sagte dies mit einigem Stolz, als sei das für eine Krankenschwester ein guter Lohn.

Er zuckte leicht zusammen, denn er wusste, dass ein Wachtmeister das Dreifache verdiente.

»Wie lange arbeiten Sie?« Die Frage war gestellt, bevor er richtig nachgedacht hatte.

»Zwölf bis fünfzehn Stunden am Tag«, antwortete sie.

»Und wie viel haben Sie Treadwell gezahlt?«

Ihre Stimme klang müde. »Fünf Shilling die Woche.« Ohnmächtiger Zorn packte ihn und weckte in ihm den Wunsch, jemanden zu schlagen, zu verletzen, damit dies alles ungeschehen gemacht werden, damit es nie wieder geschehen konnte.

»Er hat viel mehr als das ausgegeben«, sagte er leise und mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich muss wissen, woher das Geld kam.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Er ist regelmäßig zu mir gekommen, und ich hab ihn bezahlt. Er hat nie eine andere Person erwähnt. Aber das wäre wohl auch nicht zu erwarten gewesen…«

Es lag Monk auf der Zunge, sie noch einmal zu fragen, ob sie Treadwell Morphium zum Verkauf gegeben habe, aber er wusste, die Antwort würde dieselbe sein wie zuvor. Er erhob sich und verabschiedete sich. So sehr es ihn selbst schmerzte, er konnte ihr keine Versprechungen machen, er konnte ihr nicht einmal ein Wort der Hoffnung sagen.

An der Tür blieb er noch einmal stehen und überlegte, ob er sie nach Miriam fragen sollte, aber was gab es da zu sagen?

Sie blickte erwartungsvoll zu ihm auf.

Am Ende konnte er nicht anders, er musste fragen. »Könnte es Miriam gewesen sein?«

»Nein«, sagte sie sofort. »Sie hat niemals etwas getan, wofür er sie hätte zahlen lassen können!«

»Nicht einmal, um Sie zu schützen?«, fragte er leise.

Sie saß vollkommen reglos da. Man konnte an ihrer Miene ablesen, dass sie die Antwort auf diese Frage nicht wusste – sie mochte eine Meinung haben, aber sie wusste es nicht.

Monk nickte. »Ich habe verstanden.« Er klopfte an die Tür, damit der Wärter ihn hinaus ließ.

Als er nach Hause kam, war er immer noch damit beschäftigt, das Problem im Kopf hin und her zu wälzen.

»Es hat noch eine andere Geldquelle gegeben«, sagte er beim Abendessen zu Hester. »Aber es könnte Miriam gewesen sein, was uns kein bisschen weiterhelfen würde.«

»Und wenn nicht?«, fragte Hester. »Wenn wir beweisen könnten, dass es jemand anderes war? Dann müssten die Geschworenen das berücksichtigen!«

»Nein, genau das würden sie nicht tun«, antwortete er ruhig, während er beobachtete, wie sich auf ihrem Gesicht Enttäuschung abzeichnete. »Es sei denn, wir könnten den Betreffenden vor Gericht bringen und einwandfrei beweisen, dass er sich an jenem Abend in der Nähe der Heide befand, und zwar allein. Wir haben zwei Tage Zeit, bevor Rathbone seine Verteidigung vortragen muss.«

»Was haben wir sonst noch in der Hand?« Ihre Stimme wurde ein wenig lauter, so verzweifelt war sie.

»Nichts«, gab er zu.

»Dann lass es uns wenigstens versuchen! Ich kann es nicht ertragen, hier zu sitzen und die Hände in den Schoss zu legen! Was wissen wir bis jetzt?«

Sie arbeiteten bis lange nach Mitternacht und listeten alles auf, was Monk über Treadwells Lebenswandel in den letzten drei Monaten vor seinem Tod in Erfahrung gebracht hatte. Wenn alle Informationen auf Papier festgehalten waren, konnte man leichter feststellen, ob es irgendwo Lücken gab.

»Wir müssen herausfinden, zu welchen Zeiten er frei hatte«, sagte Hester, während sie sich weitere Notizen machte.

»Irgendjemand im Haus der Stourbridges müsste dir darüber Auskunft geben können.«

Monk dachte, dass es wahrscheinlich Zeitverschwendung war, aber er stimmte ihr zu. Er hatte ohnehin nichts Besseres zu tun.

»Weißt du, in welchen Mengen die Medikamente gestohlen wurden?«, fragte er und fügte, bevor sie es abstreiten konnte, hinzu: »Oder könntest du dahinter kommen, wenn du es wolltest?«

»Nein, aber ich nehme an, Phillips könnte es, falls es weiterhelfen würde. Meinst du, es wäre wirklich wichtig?«

»Wahrscheinlich nicht, aber was haben wir denn sonst in der Hand?«

»Ich gehe gleich morgen ins Krankenhaus und frage Phillips«, erklärte Hester energisch, als könne sie damit etwas ändern.

»Und ich werde auch alle Personen auf deiner Liste aufsuchen und sie fragen, welche Medikamente sie nehmen. Du versuchst herauszufinden, was Treadwell mit seiner freien Zeit angefangen hat.« Sie forderte ihn förmlich heraus, ihr zu sagen, dass es nutzlos sei, dass sie die Hoffnung aufgeben solle. Die Heftigkeit, mit der sie sprach, die verhaltene Wut in ihrer Stimme, sagten ihm, dass sie ihrem Plan blind folgen würde – wider alle Vernunft.

Am Morgen machte Monk sich schon früh auf den Weg nach Bayswater, um zu erkunden, zu welchen Zeiten Treadwell dienstfrei gehabt hatte und festzustellen, ob es Hinweise darauf gab, wo sich der Kutscher vielleicht sonst noch aufgehalten haben konnte und wer ihm so hohe Geldsummen gezahlt haben mochte. Monk verfolgte sein Ziel mit großer Umsicht. Er ging auf die kleinste Einzelheit ein, weil er sich davor fürchtete, mit seinen Nachforschungen zum Ende zu kommen. Zu groß war die Angst, dass er bestätigt finden würde, was er ohnehin schon wusste: dass es keinen Sinn hatte zu versuchen, Cleo Anderson oder Miriam Gardiner retten zu wollen.

Hester ging geradewegs ins Hospital. Phillips würde dort sein, obwohl es Samstag war. Für gewöhnlich nahm er sich nur die Sonntage frei, und auch dann meist nur die Vormittage. Trotzdem musste sie eine halbe Stunde nach ihm suchen, bis sie ihn fand – nachdem sie drei Medizinstudenten nach ihm gefragt hatte, die sich gerade in einer lebhaften Diskussion über Anatomie befanden.

»Ausgezeichnet!«, sagte einer von ihnen gerade mit leuchtenden Augen. »Wir können uns wirklich glücklich schätzen, hier zu sein. Mein Vetter studiert in Lincoln, und er sagt, sie müssten dort wochenlang auf eine Leiche warten, die sie sezieren können, und alle Zeichnungen der Welt sind praktisch wertlos, verglichen mit einem echten Körper.«

»Ich weiß«, pflichtete ein anderer ihm bei. »Und Thorpe ist einfach wunderbar. Seine Erklärungen sind immer so klar.«

»Liegt wahrscheinlich daran, dass er es schon so oft gemacht hat«, gab der Erste zurück.

»Entschuldigen Sie bitte!«, unterbrach Hester sie, »wissen Sie, wo Mr. Phillips ist?«

»Phillips? Ist das der Rothaarige, der ein wenig stottert?«

»Ich meine Phillips den Apotheker!« Sie konnte sich nur mit Mühe beherrschen. »Ich muss dringend mit ihm sprechen.«

Der erste junge Mann wandte sich stirnrunzelnd zu ihr um und musterte sie jetzt genauer. »Sie sollten nicht nach Medikamenten suchen, – wenn einer der Patienten etwas…«

»Ich brauche keine Medikamente!«, fuhr sie ihn an. »Ich muss mit Mr. Phillips sprechen. Wissen Sie nun, wo er ist, oder nicht?«

Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wurde hart. »Nein, ich weiß es nicht.«

Einer der anderen Studenten beschloss, ihr behilflich zu sein, welche Gründe auch immer dahinter stecken mochten.

»Er ist unten im Leichenschauhaus«, antwortete er. »Dem neuen Assistenten ist ein wenig mulmig geworden. Er hat ihm eine Kleinigkeit gegeben, die ihn wieder auf die Beine bringen soll. Wahrscheinlich ist er immer noch da.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Hester schnell. »Ich danke Ihnen sehr.« Und dann lief sie den Korridor entlang, durch den Nebeneingang hinaus und die Treppe hinunter, die in einen kalten, unterirdischen Raum führte. Dort wurden die Toten untergebracht, bis der Bestattungsunternehmer kommen konnte, um die Formalitäten zu erledigen.

»Hallo, Mrs. Monk. Sie sehen ein wenig spitz aus heute Morgen«, sagte Phillips gut gelaunt. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin froh, dass ich Sie gefunden habe.« Sie drehte sich um und sah den blassgesichtigen jungen Mann an, der mit ausgestreckten Beinen am Boden saß. »Geht es Ihnen wieder besser?«, fragte sie ihn.

Er nickte verlegen.

»Er hat sich erschrocken«, sagte Phillips mit einem Grinsen.

»Eine der Leichen bewegte sich und unser junger Freund hier, Jake, wäre um ein Haar in Ohnmacht gefallen. Es hat ihm anscheinend niemand gesagt, dass manchmal noch Gase entweichen. Die Gasbildung hört nicht auf, mein Sohn, bloß weil man tot ist.«

Jake rappelte sich mühsam auf, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und versuchte, so auszusehen, als könne er nun seinen Dienst wieder aufnehmen.

Hester ließ ihren Blick über die Tische wandern. Zwei Leichen lagen unter ungebleichten Laken.

»Es waren nicht besonders viele in letzter Zeit«, bemerkte Phillips, der ihrem Blick gefolgt war.

»Gut!«, antwortete sie.

»Nein – sie sind nicht hier gestorben, sondern wurden für die Studenten hergebracht«, klärte er ihren Irrtum auf. »Der alte Thorpe tobt vor Wut. Er kann einfach keine kriegen.«

»Woher bekommt er sie denn normalerweise?«

»Weiß Gott! Leichenräuber!«, sagte er mit einem Anflug schwarzen Humors.

Jake starrte ihn mit offenem Mund an. Er stieß einen leisen Pfiff aus.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte er heiser. »Sie meinen Grabräuber?«

»Nein, natürlich meine ich das nicht, Sie dummer Junge!«, sagte Philipps kopfschüttelnd. »Sehen Sie zu, dass Sie wieder an die Arbeit kommen.« Er wandte sich an Hester. »Was kann ich für Sie tun, Mrs. Monk?« Alle Heiterkeit verschwand aus seinem Gesicht. »Haben Sie Cleo Anderson gesprochen? Können wir irgendetwas für sie tun, außer auf ein Wunder hoffen?«

»Eines bewirken«, sagte sie kläglich. Dann drehte sie sich um und ging wieder die Treppe hinauf.

Er folgte ihr und als sie draußen an der frischen Luft waren, fragte er, was sie gemeint habe.

»Es wurde noch eine andere Person erpresst, da sind wir uns fast sicher«, erklärte sie und blieb neben ihm stehen. »Treadwell hat erheblich mehr Geld ausgegeben, als er Cleo abgepresst oder selbst verdient hat…«

Ein Hoffnungsschimmer ließ Phillips’ Gesicht aufleuchten.

»Sie meinen, diese andere Person könnte ihn getötet haben? Wie sollen wir herausfinden, wer es war?« Er sah sie voller Zuversicht an, als baue er felsenfest darauf, dass sie die Antwort kannte.

»Ich weiß es nicht. Ich begnüge mich im Augenblick damit, lediglich zu beweisen, dass eine solche Person existiert.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Wenn Sie es tun mussten… nein, wenn Sie es wollten, könnten Sie dann die genaue Menge der Medikamente ermitteln, die, sagen wir, in den letzten vier Monaten vor Treadwells Tod verschwunden ist?«

»Vielleicht… wenn ich einen wirklich guten Grund dafür hätte«, erwiderte er vorsichtig. »Allerdings würde ich mir erst darüber Gedanken machen, wenn mir klar wäre, warum es so wichtig ist.«

»Wenn Sie sich aber keine Gedanken machen, kommen wir nicht weiter«, erklärte sie unglücklich. »Wenn man sie wegen Mordes hängt, spielt es keine Rolle mehr, ob man sie auch noch wegen Diebstahls anklagt.«

Er erbleichte, aber er wich ihrem Blick nicht aus. »Was können Sie tun?«, fragte er sehr leise. »Mir liegt wirklich viel an Cleo. Sie ist zehnmal so viel wert wie dieses selbstherrliche Schwein in seinem eichenvertäfelten Büro!« Er brauchte Thorpe nicht beim Namen zu nennen. Sie teilte seine Gefühle, und er wusste es. Er beobachtete sie und wartete auf eine Antwort.

»Ich weiß es im Grunde selbst nicht – vielleicht ist es gar nicht viel«, gab sie zu. »Aber wenn ich weiß, wie viel fehlt und wie viel davon zu den Patienten gelangt ist, die Cleo behandelt hat, und wenn beides ungefähr übereinstimmt, dann muss Treadwell das Geld aus einer anderen Quelle bezogen haben.«

»Natürlich stimmen die Zahlen überein! Glauben Sie, sie hat ihm das Morphium zum Verkauf gegeben?« Er war entrüstet.

»Wenn mir ein Erpresser bis auf zwei Shilling die Woche alles wegnähme, was ich verdiene, wäre ich vielleicht gezwungen, mit Waren zu zahlen«, antwortete sie ihm.

Sie hatte Recht, und er wusste es. Seine Lippen wurden zu einer schmalen, harten Linie. »Ich bin froh, dass jemand diesen hinterhältigen Mistkerl erwischt hat«, sagte er rau. »Ich wünschte nur, wir könnten beweisen, dass es nicht die arme Cleo war. Oder, wenn ich es recht bedenke, überhaupt jemand, dem er so übel mitgespielt hat. Wie sollen wir vorgehen?« Er sah sie erwartungsvoll an.

»Sagen Sie mir, in welchen Mengen die Medikamente im Lauf der letzten Monate vor seinem Tod verschwunden sind, so genau wie möglich.«

»Das wird uns aber nicht sagen, wer die andere Person ist – oder die anderen Personen!«

»Mein Mann versucht herauszufinden, wo Treadwell sich aufgehalten hat. Vielleicht finden wir auf diese Weise weitere Erpressungsopfer.«

Seine Augen wurden schmal. »Versteht er sich denn auf solche Dinge?«

»Und ob. Er war früher einmal der beste Beamte bei der Polizei«, sagte sie voller Stolz.

»Oh? Und wer ist jetzt der Beste?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Er hat diese Arbeit aufgegeben.« Dann fügte sie, für den Fall, dass Phillips hinter Monks Ausscheiden aus der Polizei eine Unehrenhaftigkeit witterte, hinzu: »Ein Teil der Disziplin, die man dort von ihm forderte, missfiel ihm. Er kann auch Selbstherrlichkeit nicht ausstehen, erst recht nicht, wenn sie mit Ignoranz gepaart ist.«

Phillips grinste, wurde jedoch schnell wieder ernst.

»Ich fertige Ihnen eine Liste dieser Dinge an. Ich kann Ihnen ziemlich genaue Angaben machen, wenn das weiterhilft.«

»Das wird es.«

Den Rest des Tages und den frühen Abend verbrachte sie damit, mit Monks Liste von Cleos Patienten und Phillips’ Verzeichnis der verschwundenen Medikamente ein Haus nach dem anderen abzuklappern. Sie war an den Anblick kranker Menschen gewöhnt, das war seit vielen Jahren ihr Beruf, und sie hatte das Grauen der Schlachtfelder erlebt und die Seuchen, die darauf folgten, und wusste, was Angst, Erschöpfung, Kälte und Hunger bedeuteten.

Trotzdem war es schmerzlicher, als sie erwartet hatte, in diese Häuser zu gehen, die keinerlei Bequemlichkeit aufwiesen, weil alles verkauft worden war, um nicht verhungern und erfrieren zu müssen. Die Einsamkeit und das Leid, die fast körperlich zu spüren waren, taten ihr weh. Die Männer, die sie hier antraf, waren älter als die von der Krim; ihre Wunden waren alt. Man hatte sie ihnen in anderen Schlachten zugefügt, in anderen Kriegen.

Wieder und wieder musste sie die Tränen zurückdrängen, wenn alte Männer sich bemühten, ihre Armut zu verbergen, wenn sie sich zwangen, ihre verbrauchten und verwüsteten Körper zu erheben, um ihr, Hester, ein wenig Gastlichkeit zu bieten.

Es widerstrebte ihr, sich nach den Medikamenten zu erkundigen, die die Menschen von Cleo erhalten hatten. Sie wussten fast alle, dass Cleo vor Gericht stand und dass sie im Falle eines Schuldspruchs ihr Leben verlieren würde. Hester blieb nur, ihnen die Wahrheit zu sagen. Alle Männer ohne Ausnahme waren eifrig darum bemüht, nach Kräften zu helfen, Schränke zu öffnen, ihr die Pulver zu zeigen und genau aufzuzählen, was sie bekommen hatten.

Als sie um Viertel nach zehn zu Hause ankam, machte Monk sich bereits Sorgen um sie. »Wo bist du gewesen?«, wollte er wissen.

Sie ging auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schloss die Arme um sie und legte seine Wange an ihre Stirn. Sie brauchte ihm nicht zu erklären, was in ihr vorging; er las es in ihrem Gesicht.

»Was hast du in Erfahrung gebracht?«, fragte sie schließlich, während sie ihren Blick hob.

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte er. »Möchtest du eine Tasse Tee?«

»Ja.« Sie wollte schon in die Küche gehen, aber er war schneller als sie.

»Ich hole ihn.« Er lächelte. »Ich wollte dich nicht darum bitten, mir einen Tee zu kochen – obwohl ich wahrscheinlich genauso weit gegangen bin wie du und mit ebenso wenig Erfolg.«

Sie setzte sich und zog die Stiefel aus. Es war ein besonderer Luxus, etwas, das sie nur zu Hause tat. Und es war noch immer ein wunderbares Gefühl, sich daran zu erinnern, dass dies ihr Zuhause war, dass sie hierher gehörte – und Monk ebenfalls.

Als er mit dem Tee zurückkam und sie ein wenig davon getrunken hatte, fragte sie ihn noch einmal, was er herausgefunden habe.

»Treadwell hat einen großen Teil seiner Zeit mit Dingen verbracht, über die wir nichts wissen«, erwiderte er und nippte an seinem Tee. »Er hatte einige sehr ungewöhnliche Freunde. Einer seiner Partner beim Spiel war sogar Bestattungsunternehmer, und Treadwell hat einige sehr merkwürdige Aufträge für ihn erledigt.«

»Genug, um so viel Geld zu verdienen, wie Treadwell ausgegeben hat?« Sie wusste nicht, ob sie sich ein Ja oder ein Nein als Antwort wünschte.

»Nicht annähernd«, erwiderte er. »Er hat lediglich einen Wagen gefahren, wahrscheinlich weil er gut mit Pferden umgehen kann und vielleicht auch, weil er die Straßen kannte. Wahrscheinlich hat er dem Mann nur einen Freundschaftsdienst erwiesen. Er scheint ihm Zutritt zu Hahnenkämpfen und Hunderennen verschafft zu haben, an denen er sonst nicht hätte teilnehmen dürfen. Die beiden waren sogar das eine oder andere Mal zusammen im Bordell.«

Hester zuckte mit den Schultern. »Das bringt uns aber nicht weiter, oder?« Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Monk runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie Treadwell überhaupt dahinter gekommen ist, dass Cleo die Medikamente entwendet hat.«

Sie wollte diesen Gedanken gerade als bedeutungslos abtun, als ihr plötzlich klar wurde, was Monk meinte.

»Nun, von Miriam wusste er es jedenfalls nicht!«, sagte sie im Brustton der Überzeugung.

»Von einem von Cleos Patienten vielleicht?«, fragte er. »Wie konnte Treadwell, Kutscher von Major Stourbridge in Bayswater, Spieler und Frauenheld in Kentish Town, etwas über die Medikamentendiebstähle in einem Krankenhaus in Hampstead Heath wissen?«

Sie sah ihn konzentriert an und ein Gedanke keimte in ihr auf.

»Weil er an irgendeinem Punkt darüber gestolpert ist! So muss es gewesen sein – aber wo?« Sie hob die Hand und zählte die einzelnen Punkte an ihren Fingern ab. »Patienten werden krank und gehen in das Krankenhaus, wo Cleo sie kennen lernt, weil sie dort als Krankenschwester arbeitet.«

»Was nichts mit Treadwell zu tun hat«, erwiderte er. »Es sei denn, einer dieser Patienten wäre mit ihm verwandt oder bekannt gewesen.«

»Sie sind alle alt und wohnen in der Nähe des Hospitals«, bemerkte sie. »Die meisten sind allein, ein paar Glückliche haben einen Sohn, eine Tochter oder ein Enkelkind wie der alte John Robb.«

»Treadwells gesamte Familie war in Kentish Town ansässig«, sagte Monk. »So viel konnte ich feststellen. Sein Vater ist tot, und seine Mutter hat in zweiter Ehe einen Mann aus Hoxton geheiratet.«

»Und keine dieser Personen hat etwas mit Miriam Gardiner zu tun«, fuhr sie fort. »Also kann er sie nicht getroffen haben, wenn er Miriam fuhr.« Sie hob den nächsten Finger. »Cleo besucht die Kranken zu Hause und weiß, was sie brauchen. Sie stiehlt es aus dem Krankenhaus. Übrigens, ich bin davon überzeugt, dass der Apotheker es wusste, aber ein Auge zugedrückt hat. Er ist ein guter Mann und Cleo sehr zugetan.« Sie lächelte schwach.

»Wirklich sehr zugetan. Er sieht in ihr so etwas wie eine Heilige. Ich glaube, sie ist die Einzige, die wirklich Eindruck auf Phillips macht. Fermin Thorpe beeindruckt ihn jedenfalls nicht im Mindesten!« Sie erinnerte sich an die Szene im Leichenschauhaus. »Er hat sogar den neuen Assistenten damit aufgezogen, dass Thorpe seine Leichen für die Medizinstudenten von Leichendieben kauft! Der arme Junge war ganz entsetzt, bis ihm klar wurde, dass Phillips einen Scherz machte.«

»Leichendiebe?«, wiederholte Monk langsam.

»Ja, Grabräuber, die Leichen ausgraben und sie an medizinische Einrichtungen verkaufen, wo…«

»Ich weiß, was Leichendiebe sind!«, sagte er hastig und beugte sich dann mit leuchtenden Augen vor. »Bist du dir sicher, dass es nur ein Witz war?«

»Nun, besonders komisch war seine Bemerkung eigentlich nicht«, pflichtete sie ihm mit einem Stirnrunzeln bei. »Aber Phillips ist eben so – ein bisschen – makaber. Ich mag ihn – um genau zu sein, ich mag ihn sehr. Er ist einer der wenigen Menschen im Krankenhaus, denen ich vertrauen würde…« Dann ging ihr plötzlich auf, woran er dachte. »Du meinst – oh, William! Glaubst du wirklich, dass er sie von Leichendieben kauft? Er war die andere Person, die Treadwell erpresst hat! Aber woher konnte Treadwell das wissen?«

»Er muss ihn nicht unbedingt erpresst haben«, sagte er und griff aufgeregt nach ihrer Hand. »Treadwell war mit diesem Bestattungsunternehmer befreundet! Was läge da näher, als ein paar Leichen zu verkaufen? Das könnte die zusätzlichen Fahrten, die er gemacht hat, erklären: Er hat Fermin Thorpe Leichen geliefert – und selbst einen hübschen Gewinn dabei herausgeschlagen!«

»Wunderbar!«, jubelte sie erleichtert. Es war nur ein winziger Hoffnungsschimmer, aber immerhin… »Das könnte zumindest ausreichen für Oliver, um erste Zweifel aufkommen zu lassen.« Sie lächelte schelmisch. »Und selbst wenn ihn keine Schuld trifft, hätte ich nichts dagegen, Thorpe einmal eingeschüchtert und verlegen zu sehen!«

»Das kann ich mir denken«, pflichtete Monk ihr mit einem Nicken bei. »Obwohl wir keine voreiligen Schlüsse ziehen sollten…«

»Warum nicht? Wir haben keine Zeit zu verschwenden…«

»Ich weiß. Aber Treadwell hat Thorpe möglicherweise gar nicht erpresst. Vielleicht stammt das Geld einzig und allein aus dem Verkauf der Leichen.«

»Dann soll Thorpe doch zusehen, wie er das beweist! Das könnte interessant werden.«

Seine Augen weiteten sich ein wenig. »Du verabscheust den Mann tatsächlich, nicht wahr?«

»Aus tiefstem Herzen«, sagte sie vehement. »Ihm ist seine eigene Eitelkeit wichtiger als das Leid der Menschen, die seiner Obhut anvertraut sind.« Ihre Worte klangen beinahe kampflustig, als hätte Monk ihn verteidigt.

Er lächelte. »Ich versuche nicht, den Mann zu schonen. Ich möchte nur nicht, dass wir auf die Nase fallen. Deshalb müssen wir das, was wir wissen, gezielt einsetzen, denn wir werden nur eine einzige Gelegenheit dazu haben.«

»Ich verstehe.« Sie verstand tatsächlich. Sie hatte sich den Luxus gegönnt, ihrem Ärger freien Lauf zu lassen, und sie sah es ein. »Ja, natürlich. Nur warte nicht zu lange.«

»Ganz bestimmt nicht«, versprach er. »Glaub mir, wir werden etwas daraus machen!«

Am Sonntag ging Monk noch einmal zu dem Bestattungsunternehmer, um sich über die Einzelheiten von Treadwells Arbeit dort zu informieren und Beweise dafür zu finden, dass er tatsächlich Leichen in das North London Hospital gebracht hatte und dafür großzügig bezahlt worden war.

Hester besuchte auch noch die restlichen Patienten auf Cleos Liste. Sie war sich nicht sicher, ob dies sinnvoll war, aber sie fühlte sich dazu verpflichtet, und neben allem anderen wollte sie John Robb noch einmal wieder sehen. Es war fast eine Woche seit ihrem letzten Besuch dort vergangen, und sie wusste, dass er kaum noch Morphium haben konnte. Sein Zustand verschlechterte sich, die Schmerzen nahmen zu, und es gab nur wenig, womit sie ihm helfen konnte. Sie hatte mit Billigung Phillips’ etwas Morphium aus dem Krankenhaus mitgebracht und aus ihrer eigenen Tasche eine Flasche Sherry gekauft.

Er war allein und saß in sich zusammengesunken und schlafend in seinem Sessel. Doch als er ihre Schritte hörte, richtete er sich auf. Er sah blasser aus als bei ihrem letzten Besuch, und seine Augen waren noch tiefer in ihre Höhlen gesunken. Sie hatte zu viele Sterbende gepflegt und wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.

Sie zwang sich, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen, aber sie konnte unmöglich so tun, als bemerke sie nicht, wie krank er war.

»Guten Tag«, sagte sie leise, während sie ihm gegenüber Platz nahm. »Es tut mir Leid, dass ich so lange nicht da war. Ich habe versucht, eine Möglichkeit zu finden, wie wir Cleo helfen können, und ich denke, dass uns das möglicherweise gelungen ist.« Noch während sie sprach wurde ihr klar, dass sie die Wahrheit ruhig ein klein wenig ausschmücken durfte – wahrscheinlich würde er nicht mehr lange genug auf dieser Erde weilen, um den Ausgang der Verhandlung zu erleben.

Er lächelte und hob den Kopf. »Das ist die beste Nachricht, die Sie mir bringen konnten, Mädchen. Ich mache mir solche Sorgen um sie. So viel Gutes hat sie bewirkt, und jetzt muss so etwas passieren. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um zu helfen – aber alles, was ich unternehmen könnte, würde die Sache wohl nur schlimmer machen.« Er beobachtete Hester, während er auf ihre Antwort wartete.

»Machen Sie sich keine Sorgen, es wird Sie niemand danach fragen«, antwortete sie. Das war gewiss das Letzte, was die Staatsanwaltschaft freiwillig tun würde: Männer wie John Robb in den Prozess hineinzuziehen, die bestätigen würden, dass Cleo die Medikamente an sie weitergegeben hatte.

Hester selbst hätte es begrüßt, wenn dieser Skandal an die Öffentlichkeit gelangt wäre, aber es durfte nicht auf Cleos Kosten geschehen. Bisher sah sie keine Möglichkeit, das zu bewerkstelligen.

John Robb sah sie eindringlich an. »Aber ich war einer von denen, für die sie die Medikamente gestohlen hat – nicht wahr?«

»Sie hat vielen Menschen Medikamente gebracht«, antwortete Hester aufrichtig. »Es waren insgesamt achtzehn, aber Sie waren einer von Cleos Lieblingen.« Sie lächelte. »So wie Sie einer von meinen sind.«

Er grinste, als hätte sie mit ihm geflirtet. »Aber einige der Medikamente, die sie genommen hat, waren für mich bestimmt, oder?«, bedrängte er sie.

»Ja. Für Sie und für andere.«

»Und woher haben Sie die Medikamente jetzt, Mädchen? Ich würde lieber darauf verzichten, als Sie auch noch in Schwierigkeiten zu bringen.«

»Das weiß ich, aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Diese Medikamente hat mir der Apotheker selbst gegeben.« Das war zwar eine etwas großzügige Auslegung der Wahrheit, aber es spielte keine Rolle. »Ich mache Ihnen eine Tasse Tee, und dann können wir ein Weilchen zusammensitzen. Ich habe auch etwas Sherry mitgebracht – nicht aus dem Krankenhaus, ich habe ihn selbst gekauft.« Während sie sprach, stand sie auf. »Diesmal brauchen wir keine Milch für den Tee – wir haben etwas Besseres, um ihm Geschmack zu geben.«

»Das wäre schön«, stimmte er ihr zu. »Dann können wir noch ein bisschen reden. Sie erzählen mir einige Geschichten über Florence Nightingale, wie sie es diesen Generälen gezeigt und ihren Kopf durchgesetzt hat. Ich will eine gute Geschichte hören, Mädchen.«

»Die sollen Sie kriegen«, versprach sie. Dann ging sie in die Ecke des Raums, die als Küche diente, und setzte Wasser auf. Nachdem der Tee fertig war, goss sie eine großzügige Portion Sherry in den Becher für Robb und legte das Morphium in das Regal, wo Michael es am Abend finden würde. Dann ging sie zurück zu John Robb und überreichte ihm den Becher; sie selbst hatte sich nichts in den Tee getan.

Er nippte genüsslich an dem Getränk. »Dann erzählen Sie mir mal, wie Sie diese Generäle überlistet haben, Mädchen. Sagen Sie mir, was heute alles besser gemacht wird, wegen des Kriegs und alledem, was Sie dort gelernt haben.«

Sie berichtete von allen möglichen Begebenheiten, von kleinen Siegen über die Bürokratie, und stellte alles so komisch wie möglich dar.

Er trank seinen Tee aus und stellte den leeren Becher beiseite.

»Nur weiter«, drängte er. »Ich hör so gern Ihre Stimme, Mädchen. Sie lässt mich an alte Zeiten denken…«

Sie versuchte, sich an andere Geschichten zu erinnern, solche, die einen glücklichen Ausgang genommen hatten, und hier und da erfand sie etwas hinzu. Ab und zu unterbrach er sie mit einer Frage. Es war warm und behaglich, wie sie so in der Nachmittagssonne saßen, und es überraschte sie nicht, als sie aufblickte und sah, dass er die Augen geschlossen hatte. Es war genau die richtige Zeit, um einzudösen. Auf keinen Fall fühlte sie sich durch sein Verhalten gekränkt. Er lächelte noch immer über den letzten kleinen Sieg, von dem sie ihm berichtete und den sie im Rückblick ein wenig ausgeschmückt hatte.

Sie stand auf, um sich davon zu überzeugen, dass er auch wirklich nicht fror, da die Sonne inzwischen weiter gewandert war und seine Füße sich im Schatten befanden. Erst da fiel ihr auf, wie still er war. Kein gequältes Atmen, kein Röcheln, wenn die Luft in seine zerstörten Lungen drang.

Schon als sie die Finger auf seinen Hals legte und keinen Puls fand, spürte sie Tränen auf ihren Wangen. Es war lächerlich. Sie hätte um seinetwillen froh sein sollen, aber sie konnte nicht anders. Sie setzte sich hin und weinte, weinte vor Müdigkeit, vor Angst und weil sie einen ihr lieb gewonnenen Menschen verloren hatte.

Sie saß noch immer im Sessel gegenüber dem alten Mann, als Michael Robb am späten Nachmittag nach Hause kam.

Es fiel ihm zuerst nicht auf, dass etwas anders war als sonst. Sie stand hastig auf und trat zwischen ihn und den alten Mann.

Dann sah er ihr Gesicht und bemerkte, dass sie geweint hatte. Er wurde blass.

»Er ist tot«, sagte sie sanft. »Ich war hier – ich habe mit ihm geredet. Wir haben uns alte Geschichten erzählt und ein wenig gelacht. Er ist einfach eingeschlafen.« Sie trat zur Seite, sodass er das friedliche Gesicht seines Großvaters sehen konnte, auf dem noch immer der Hauch eines Lächelns lag.

Michael kniete sich neben ihn und ergriff seine Hand. »Ich hätte hier sein sollen!«, sagte er heiser. »Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid…«

»Wenn Sie die ganze Zeit hier geblieben wären, wer hätte dann das Geld verdient, von dem Sie beide gelebt haben?«, fragte sie. »Er wusste das – er war so stolz auf Sie.«

Michael beugte sich vor, die Tränen rannen ihm über die Wangen, und seine Schultern zuckten.

Sie wusste nicht, ob sie zu ihm gehen und ihn berühren sollte, ob sie ihn damit trösten konnte oder ob er diese Geste als Zudringlichkeit empfinden würde. Ihr Gefühl riet ihr, ihn in die Arme zu nehmen; er wirkte so jung und so einsam. Ihr Verstand sagte ihr, dass er mit seiner Trauer allein fertig werden musste. Das Gefühl gewann die Oberhand, und sie hockte sich neben ihn auf den Boden und nahm ihn in die Arme.

Als er den ersten Schock überwunden hatte, stand er auf und wusch sich mit dem Wasser aus dem Krug das Gesicht. Dann setzte er Wasser auf. Ohne mit ihr zu sprechen, kochte er frischen Tee.

»Ist das Ihr Sherry?«, fragte er.

»Ja. Bedienen Sie sich.«

Er schenkte ihnen großzügig zwei Gläser ein und reichte ihr eines davon. Sie setzten sich nicht. Es gab nur einen einzigen freien Stuhl, und keiner von ihnen wollte ihn für sich in Anspruch nehmen.

»Ich danke Ihnen«, sagte er ein wenig verlegen. »Ich weiß, Sie haben es für ihn getan, nicht für mich, aber ich bin Ihnen trotzdem dankbar.« Er hielt inne, offensichtlich, weil er etwas sagen wollte, aber nicht wusste, wie er beginnen sollte.

Sie nippte an dem Tee und wartete ab.

»Die Sache mit Mrs. Anderson tut mir Leid«, sagte er abrupt.

»Ich weiß«, versicherte sie ihm.

»Sie hat all die Medikamente für die Alten und Kranken gestohlen, nicht wahr…« Es war keine Frage.

»Ja. Ich könnte das beweisen, wenn es sein müsste.«

»Unter anderem für meinen Großvater…« Auch das war eine Feststellung.

»Ja.« Sie sah ihm unverwandt in die Augen. Er wirkte verletzlich und unglücklich. »Sie hat es aus freien Stücken getan. Weil sie es für richtig hielt«, fuhr sie fort.

»Es ist immer noch etwas Morphium da«, sagte er leise.

»Ach ja?«

»Um Gottes willen – seien Sie vorsichtig, Mrs. Monk!« Sein Gesicht drückte aufrichtige Angst aus, keinen Tadel.

Sie lächelte. »Das ist nicht mehr nötig. Werden Sie jetzt zurechtkommen?«

»Ja – sicher. Ich danke Ihnen.«

Sie zögerte einen Augenblick, dann drehte sie sich um und verließ das Haus. Draußen schienen die letzten Sonnenstrahlen auf den Gehweg, und auf der Straße herrschte reger Betrieb.