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Die Ehepaare Lonkonen und Homanen flogen fröhlich und erwartungsvoll nach Prag. Es war Ende Oktober, und der finnische Sommer war mit ersten Regenschauern und Stürmen endgültig vom Herbst abgelöst worden. In Mitteleuropa dagegen herrschte noch mildes, sommerliches Wetter. Besonders Anita und Irma freuten sich auf die kommenden zwei, vielleicht drei Urlaubswochen. Unterwegs erzählte Lauri von der feinmechanischen Industrie in Tschechien, was die Frauen nicht sonderlich interessierte, trotzdem hörten sie sich alles an, und das sogar ziemlich ruhig.

Lauri wusste zu berichten, dass sich Tschechien bereits zu Zeiten der früheren Volksrepublik der Tschechoslowakei, ja eigentlich bereits lange vorher, zu einem bekannten und geschätzten Industriestaat entwickelt hatte. Während der Weltkriege waren tschechische Kampfmittel gefragte Tötungswerkzeuge gewesen, besonders die Maschinenfeuerwaffen der Infanterie. Das Know-how im Maschinenbau gründete sich jedoch nicht allein auf die Produktion von Gewehren, die Tschechen waren auch führend in der europäischen Autoindustrie. Immer noch gehörten die Autos von Skoda in Technik und Design zur Weltspitze. Die Finnen hatten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg Skoda gefahren, als nicht genug westliche Autos importiert werden konnten. Lauri hatte mit den Prager Partnern vereinbart, dass einer ihrer Vertreter zum Flughafen kommen sollte, um sie in die Fabrik zu begleiten, damit sie sich die Produkte ansehen und den gemeinsamen Vertrag aushandeln könnten. Lauri äußerte die Hoffnung, dass auch die Ehefrauen an dieser Visite teilnehmen würden, dadurch bekämen sie einen Einblick in den mitteleuropäischen Maschinenbau und einen ersten Kontakt zu Tschechien. So geschah es.

Auf dem Prager Flughafen wartete tatsächlich ein junger Ingenieur, der die finnischen Gäste in Empfang nahm. Man fuhr zu einem Industriegebiet im Osten der Stadt, das direkt an der Moldau lag und eine mittelgroße Maschinenfabrik beherbergte. Gastgeber war der Chef persönlich, ein betagter, homerischer Gentleman, der stolz seinen Betrieb zeigte. Er erzählte, dass an diesem Standort bereits seit mehr als dreihundert Jahren Eisen geschmiedet, gegossen und bearbeitet wurde. Besonders zufrieden äußerte er sich über die Leistung seiner Presse, die er als eine der modernsten in ganz Europa pries. In dieser Abteilung würde man die äußere Hülle und auch viele andere Bauteile der finnisch-indischen Gebetsmühle herstellen.

Zum Abschluss des Rundgangs führte er seine Gäste in den Klubraum des Betriebes, wo ein üppiger tschechischer Lunch mit Bier und allem Drum und Dran wartete. In angenehmer Atmosphäre unterschrieben Lauri und Kalle einen Auftrag für die Herstellung von hunderttausend Gebetsmühlen. Lauri hatte den Text bereits vorab bekommen und studiert. Zur Feier des Ereignisses hob der Firmenchef sein schäumendes Bierglas und sprach die Hoffnung aus, dass die Zusammenarbeit auch nach Fertigstellung der ersten Probeserie weitergehen möge.

Um die heitere Begegnung zu würzen, stellte Lauri auch die neue Religion vor. Der Chef zeigte sich interessiert. Als er hörte, dass es seine Kunden waren, die diese Religion erdacht hatten, versprach er bereitwillig, mitzumachen. Kalle sagte ihm, dass jeder Gläubige zwei neue gewinnen solle, und diese wiederum zwei weitere und so fort. Es handelte sich um eine mathematische Gesetzmäßigkeit der Potenzrechnung. Bereits jetzt hatte der Weltallglaube Hunderte, ja Tausende Unterstützer, und das dank dieser Art der Mitgliederwerbung.

Dem Direktor gefiel auch die Tatsache, dass in der neuen Religion keinen speziellen Göttern gedient wurde, sondern das Weltall diese Funktion ausübte. Er als Tscheche, so sagte er, habe genug von all den Führern und Göttern. Während der Besetzung des Landes waren Lenin und Stalin verehrt worden, als ob sie Götter wären, und danach war das Volk gezwungen worden, vor den Bajonetten der Sowjetsoldaten zu Kreuze zu kriechen. Von Gottheiten und großen Führern hatte man in Prag wahrhaftig die Nase voll. Der Direktor rief zwei jüngere Ingenieure hinzu und erklärte ihnen rasch das Funktionsprinzip der neuen Religion. Die beiden versprachen sofort, mitzumachen und ihrerseits zwei neue Unterstützer zu werben. Sie hatten nämlich jede Menge guter Taten in petto, konnten sogar dem Direktor noch welche abgeben. Der bestätigte, dass die beiden begabte Ingenieure waren und gute Arbeit leisteten. Er selbst wiederum betätigte sich als Wohltäter, indem er sie überdurchschnittlich gut bezahlte. Somit waren alle drei akzeptable Gläubige im Reich des Weltalls.

Es dauerte nicht lange, und schon hatten die Ingenieure ausgerechnet, wann die neue Religion so viele Anhänger hätte, dass man sie als Weltreligion bezeichnen könnte. Wenn eine Person immer zwei neue Gläubige warb, und wenn man annahm, dass sie dafür knapp einen Monat brauchten, wäre in zwei oder spätestens drei Jahren die ganze Menschheit Befürworter des neuen Glaubens, den Lauri und Kalle entwickelt hatten.

Wie die Ingenieure erklärten, bildete die Zahl der Gläubigen eine sogenannte entgegengesetzte oder divergente geometrische Reihe. Mit der Logarithmenrechnung kam heraus, dass die gesamte Weltbevölkerung (sechs Milliarden) nach dreiunddreißig Monaten gläubig wäre. Wenn alle Gläubigen ihre Bekehrungsarbeit jeden Monat im selben Tempo betreiben würden, wäre das Ziel bereits in weniger als zweiundzwanzig Monaten erreicht.

Das also errechneten die Prager Ingenieure. Zum Vergleich riefen sich die Anwesenden ins Gedächtnis, dass die Verbreitung des christlichen Glaubens viele Jahrhunderte gedauert hatte, ebenso die des Islam oder des Buddhismus, ganz zu schweigen von den vielen kleinen Sekten, die niemals wirklich große Religionen werden würden.

Diese faszinierenden Zukunftsaussichten waren einzig dadurch möglich, dass die Religion sich selbst ergänzte, indem jeder Gläubige selbst für eine Weiterentwicklung sorgte. Im Prinzip könnte sich jeder lebende Mensch dem neuen Weltallglauben anschließen.

Nur zu, dachte Kalle. Lauri war vorsichtiger. Wie sollten sie zu zweit eine so gewaltige Kraft beherrschen? Müsste sich eventuell doch einer von ihnen zum Gott aufschwingen, womöglich alle beide? Göttliche Kräfte waren die eine Sache, aber woher sollten sie die Allmacht nehmen? Als Lauri eine Weile über seine Aufgaben als Gott nachgedacht hatte, musste er feststellen, dass er letzten Endes nur ein gewöhnlicher Sterblicher war – er hatte nicht das Zeug zum Gott, und Kalle ebenfalls nicht. Sie würden sich lieber mit ihrem Schicksal als Mensch begnügen. Außerdem kannte kaum jemand ihrer beider Rolle innerhalb der neuen Religion – abgesehen vom »Schneemenschen«, ihren Ehefrauen, ein paar Tschechen und natürlich Doktor Sorjonen. Alle anderen Gläubigen wussten nichts von ihrem Anteil am Ganzen, würden sie also auch nicht für Götter oder Engel halten.

Die beiden nahmen den tschechischen Ingenieuren und ihrem Chef das Versprechen ab, die Identität der Gründer der neuen Religion nicht zu verraten. Beide wollten sie lieber kleine bescheidene Menschen bleiben als der mächtigste Gott der Welt.

Lauri und Kalle schlürften von dem schäumenden Bier einen Krug nach dem anderen, und als sie ein wenig betrunken waren, beschlossen sie, im Internet ein Zentralregister zu gründen und sich darin unter ihrem richtigen Namen und mit ihren persönlichen Daten als erste Gläubige einzutragen. Der Chef der Metallfabrik und ein halbes Dutzend Ingenieure folgten ihrem Beispiel.

Als Namen für die Internetreligion vereinbarten sie Lonko-Homa, gebildet aus den Nachnamen der beiden Gründer, und ließen ihn auch gleich registrieren. Amüsiert tauschten sie sich darüber aus, ob wohl Jesus oder Johannes der Täufer ähnliche Ambitionen gehabt hatten, als sie vor mehreren tausend Jahren ihrer Religion einen Namen gaben …, nun, zu der Zeit gab es ja noch keinen Computer.

In dieser Phase mischte sich die Gebetsmühle ins fröhliche Beisammensein und verkündete laut, dass sie alles, was gesagt und worüber gelacht worden sei, gespeichert habe. Niemand kümmerte sich groß um das Gezeter des Kastens, Lauri und Kalle leerten weiter gemeinsam mit dem Chef und den jungen Ingenieuren die Krüge, die einen ganzen Liter Bier fassten. Die Frauen wollten anstelle des Biers gern Sekt, der auch sofort herbeigeschafft wurde und dem sie fleißig zusprachen, viele Male wurde ihnen nachgeschenkt.

Am lustigsten wurde es, als Lauri und Kalle planten, wo das Zentralregister und der Versammlungsort der Gläubigen angesiedelt sein sollten. Auch die Christen besaßen ja unten in Italien den Kleinstaat Vatikan, warum sollte nicht auch Lauris und Kalles Religion eine Heimstatt bekommen?

Der hilfsbereite Fabrikdirektor, der mit seinen Leuten dem neuen Glauben zu dienen bereit war, erklärte, dass seine großen Lagerhallen als riesige Kirchen dienen könnten – und er war sich sicher, dass mindestens fünf Millionen Tschechen den neuen Glauben unterstützen würden.

Bier und Sekt flossen in Strömen. Lauri und Kalle dachten über das großzügige Angebot des Direktors nach, gingen dann aber doch nicht darauf ein. Kalle fand, dass ihr selbst gemachter Vatikan vernünftigerweise in Rom untergebracht werden sollte, Lauri dachte eher an Paris. Damit fand er die Unterstützung der Frauen, religiöse Nächte in Paris schienen sie zu reizen.

Sowohl Lauris als auch Kalles Handy klingelte, dann brach das Netz zusammen. Der Telefonverkehr war zu lebhaft. Allein für Kalle gingen innerhalb von fünfzehn Minuten mehr als 760 Anrufe ein, Lauri bekam immerhin 207. Das Zentralregister hatte in der Welt Aufmerksamkeit gefunden.

Wenn man nun die große Schar der Gläubigen statt nach Rom oder Paris auf das Eis des Ladogasees zu einem gemeinsamen Treffen einladen würde? Dort hätten ohne Weiteres einige Millionen Menschen Platz. Aber wie würden die Russen auf diese bunte Schar von Leuten reagieren, wenn die nicht einmal ordnungsgemäße Visa aufzuweisen hätten? Der bloße Gedanke allein schien abwegig.

Auch der Baikalsee kam somit nicht infrage, obwohl er als größtes Süßwasserbassin der Welt galt. Kalle schlug vor, das Treffen auf dem finnischen Saimaa zu veranstalten, aber Lauri fand, dass es dort allzu viele störende Inseln, Landzungen und Sommerhäuser gab, da wären selbst die Åland-Inseln geeigneter, trotz des vorhandenen Sprachproblems. Schließlich sprach man dort ja nicht Finnisch, aber immerhin auch nicht Russisch.

Welcher See sollte es sein? Der Päijänne? Der Näsijärvi? Der Kallavesi? Der Inarijärvi? Lauri erinnerte sich, dass mal jemand ausgerechnet hatte, dass auf dem Eis des Inarisees die gesamte Menschheit stehend Platz fände.

»Sechs Milliarden Menschen?«, fragte Kalle verblüfft.

»Ja, mindestens«, erwiderte Lauri.

»Fahren wir zum Inarisee«, entschied die Gebetsmühle.