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Am nächsten Tag tauchte der chinesische Militärhubschrauber über dem Pfad der Flüchtlinge auf. Wahrscheinlich hatte man versucht, die kalten Kalles zum Frühstück zu wecken, und dabei die Flucht entdeckt. Nun war die Suche angelaufen, aber Lauri und Kalle hatten sich schon zu weit von Lhasa entfernt. Sie versteckten sich im Gebüsch, sodass der Späher im Helikopter sie nicht sah, und als die Maschine davongeknattert war, setzten sie ihren Weg fort. Der Pfad war jetzt breiter, der Untergrund war hart, sodass es sich gut laufen ließ. Ruhepausen machten die Flüchtlinge nur alle zwei Stunden, denn jetzt drängte die Zeit. Die Chinesen würden es ihren Gefangenen kaum erlauben, das Land zu verlassen.

Am Nachmittag verzehrten Lauri und Kalle eine der für unterernährte Bewohner von Entwicklungsländern zusammengestellten Essensrationen. Nicht übel. Die Plastikschale mit knapp einem Liter Inhalt enthielt gekochtes Gemüse und graue Soße, in der undefinierbare Fleischstückchen schwammen. Die Notration war jedenfalls schmackhafter und vor allem nahrhafter als das Häftlingsessen im Klostergefängnis. Zum Abschluss der Mahlzeit genehmigten sie sich einen Schluck Reisschnaps.

Der Pfad führte die Flüchtlinge auf die Hochebene, und obwohl in den Tälern Hitze herrschte, lag hier oben ewiger Schnee. Die Luft war leicht und klar und die Stimmung der Männer großartig. Einzig der Helikopter machte ihnen Sorgen, denn der würde sie hier schon von Weitem entdecken können. Deshalb blieben sie von Zeit zu Zeit stehen, um zu lauschen. Wenn sie kein Helikoptergeräusch hörten, gingen sie weiter; hörten sie aber auch nur entferntes Knattern, suchten sie sofort nach Sträuchern, die dicht genug waren, um sich darunter zu verstecken. Um ganz sicherzugehen, entledigten sie sich der Rucksäcke und bedeckten sie mit Schnee, und sie selbst wälzten sich auch im Schnee, sodass sie nicht so leicht als Menschen zu erkennen waren.

Am dritten Tag hörten sie keine Helikoptergeräusche mehr, stattdessen flößten ihnen die Abdrücke eines furchterregend großen Tieres am schneebedeckten Berghang Angst ein. Die Vorderpfoten des Ungeheuers waren zweimal größer als die eines Mannes mit extrem großen Füßen, und die Hinterpfoten waren fast einen halben Meter lang und nur um Weniges schmaler. Die langen Krallen zeichneten sich deutlich im Schnee ab, ebenso die Abdrücke der Ballen. Was für ein Wesen war da unterwegs gewesen? Es konnte sich nur um einen riesigen Eisbären handeln, ein Raubtier von vielleicht tausend Kilo Gewicht. Kalle glaubte nicht recht daran, dass in Tibet Eisbären herumliefen. Wie sollten sie im Gebirge zurechtkommen, wo es außer ein paar kleinen Bergseen kein offenes Meer und keine Robben, geschweige denn Walrosse gab? Doch auch er musste zugeben, dass der seltsame Wanderer auf jeden Fall riesengroß war. Allerdings waren die Abdrücke der Tatzen sehr flach. Das Tier war knapp zwei Zentimeter in den Schnee eingesunken. Sollte es wirklich tausend Kilo wiegen, hätte es mindestens ein halber Meter sein müssen.

»Schade, dass die Chinesen die Kamera beschlagnahmt haben«, bedauerte Kalle. Diese Spuren hätte er verewigen müssen.

Der »Schneemensch« war Mitte des vergangenen Jahrhunderts die berühmteste Gestalt aus Tibet gewesen. Damals hatte man im Schnee des Himalaja ähnliche, von einem riesigen Wesen hinterlassene Spuren gefunden. Reporter hatten sie fotografiert, und herbeigeeilte Zoologen hatten sie ausgemessen. Die ganze Welt hatte die Geschichte mit Spannung verfolgt. Man hatte das Raubtier für den Vertreter einer besonderen, nur im Himalaja vorkommenden Gattung gehalten, die dank des abgeschiedenen Lebensraumes von der Jagdleidenschaft der Menschen verschont geblieben war. Viele Tausend neugieriger Abenteurer waren nach Tibet gereist, um den faszinierenden und furchterregenden Schneemenschen aufzuspüren, aber niemand hatte ihn zu Gesicht bekommen. Stattdessen waren weitere Spuren gefunden worden, und entsprechende Nachrichten aus dem abgeschiedenen Land waren Jahr für Jahr um die Welt gegangen. Der Yeti war zum weltweit berühmtesten Wesen jener Zeit geworden. Er war beliebter und gefürchteter gewesen als die Staatschefs der USA und der Sowjetunion zusammen. Hier waren Lauri und Kalle auf ihrer Flucht also auf die Spur eines womöglich noch größeren Schneemenschen oder Riesenraubtieres gestoßen.

Die Situation schien äußerst gefährlich. Oben in den Wolken über dem höchsten Gebirge der Welt lauerte der chinesische Militärhubschrauber, und hier unten auf dem schneebedeckten Berg verlief die Spur eines womöglich blutrünstigen Schneemenschen. Mit ernster Miene konstatierte Lauri, dass sie nun darauf gefasst sein mussten, entweder mit dem Maschinengewehr erschossen zu werden, oder sie würden von einem wütenden und hungrigen Schneemenschen in Stücke gerissen, sowie er ihre Witterung aufgenommen hätte.

Kalle zog den langen Dolch aus dem Rucksack und erklärte, dass er sich von keinem wild gewordenen Tier zerreißen ließe. Im Gegenteil, das Tier würde zu tun haben, dem Dolch eines finnischen Mannes zu entkommen. Lauri folgte seinem Beispiel, und so setzten die Gefährten ihren Weg fort, die langen Dolche in ihren Händen blinkten im Sonnenlicht.

Mit geschärften Sinnen wanderten die Flüchtlinge über den schneebedeckten Berg. Die riesigen Raubtierspuren neben dem Pfad hätten vorzügliche Fotos zur Illustration des Eisenbahnbuches ergeben. Kalle beklagte, dass er seine kleine Kamera nicht mehr bei sich hatte. Sie würden die Herausgabe eines gesonderten Naturbildbandes ins Auge fassen müssen … Wäre als Arbeitstitel Die Spuren des Schneemenschen auf dem Dach der Welt denkbar? Lauri fand, dass sie im Moment lieber darauf verzichten sollten, literarische Projekte zu planen, viel wichtiger wäre es, dass die Bestie sie nicht überraschen und in Stücke reißen würde.

Am Nachmittag, viele Berge und Täler später und im Licht der untergehenden Sonne entdeckten sie schließlich das Raubtier. Es trottete neben dem Pfad im Schnee. Seine Fortbewegung wirkte plump, und wie es schien, hatte das Tier zwei bewaffneten Männern nicht viel entgegenzusetzen. Außerdem war es gar nicht so groß, wie die Spuren befürchten ließen, es hatte lediglich die Körpermaße eines grobschlächtigen Mannes. Die beiden Freunde schlichen näher heran, und aus etwa hundert Schritt Entfernung sahen sie deutlich, dass es sich nicht um den berühmten Schneemenschen, sondern um einen schwerfälligen Riesenpanda handelte. Aus seinen Nüstern stieg Dampf in den frostigen Abend auf. Groß war das Tier auf alle Fälle und sicherlich außerordentlich selten. Nur in dieser schroffen Gebirgslandschaft hatte man die Chance, diesem Wunder der Schöpfung und Vertreter einer aussterbenden Gattung zu begegnen.

»Vielleicht sollten wir für alle Fälle beten«, meinte Kalle.

»Allmächtiges Weltall, gib, dass der Panda uns nicht frisst«, begann Lauri, aber dann fiel ihm ein, dass Pandas keine Fleischfresser waren, sondern Bambussprossen und anderes frisches Gemüse bevorzugten. Kalle war sich nicht sicher hinsichtlich des Speiseplanes eines Pandas, und so stimmte er in das Gebet ein:

»Gnädiges All, lass dieses Raubtier seiner Wege gehen.«

Diesmal erhörte das Weltall Lauris und Kalles inbrünstiges Gebet nicht. Statt sich zu trollen, erhob sich der Riesenpanda auf die Hinterbeine, wandte sich den in seinem Blickfeld aufgetauchten Fremden zu und winkte wie zur Begrüßung mit beiden Vordertatzen. Dann setzte er sich wie ein Mensch auf zwei Beinen in Bewegung und kam mit dampfenden Nüstern direkt auf Lauri und Kalle zu.