11

Die neue Bahnstrecke von Chinas Hauptstadt Peking bis ins tibetische Lhasa war tausend Kilometer lang. Obwohl der Zug außerordentlich schnell war, waren laut Fahrplan anderthalb Tage für die Fahrt vorgesehen. Der Schaffner erzählte, dass der Zug die meiste Zeit auf dem Hochplateau dahinbrauste. An den höchsten Stellen, in fünf Kilometern Höhe, war die Luft so dünn, dass die Waggons, ähnlich wie die Kabinen in Flugzeugen, mit einer Druckregulierung versehen waren und für jeden Reisenden eine Sauerstoffmaske bereitlag. Der Schaffner erklärte die Benutzung und versprach, auf der Hochebene beim Anlegen der Masken zu helfen.

Es war Morgen. Der Luxuszug startete pünktlich. Er fuhr so gleichmäßig an, dass die Bewegung kaum zu spüren war, aber sowie er die Stadt verlassen hatte, beschleunigte er wie ein Flugzeug. Der Oberkörper der Reisenden wurde gegen die Sitze gedrückt, hinter den Fenstern flitzte die Landschaft vorbei, aber es war kein Rattern von den Rädern zu hören. Die Fahrt war atemberaubend schnell, aber gleichmäßig. Die Waggons waren luxuriös, hochmodern und im neuesten Design eingerichtet. Die Lok hatte eine gewaltige Kraft, die Federung der Waggons und die übrige Technik waren Spitzenklasse. Kalle wusste zu berichten, dass man beim Bau dieser Trasse die Stahlschienen aneinandergeschweißt hatte, sodass sie vom Startbahnhof bis ans Ziel aus einem Stück waren. Er betonte, dass auch in Finnland neue Bahntrassen nach dieser Methode gebaut wurden. Das Rattern der Räder war einfach aus der Mode gekommen, auch wenn viele Reisende fanden, dass es beruhigte und für Atmosphäre sorgte, wie so manches Altbewährte. Wie dem auch sei, dieser chinesische Zug verkörperte Luxus, und er lief trotz der enormen Geschwindigkeit gleichmäßig und fast geräuschlos.

Lauri erkundigte sich beim Zugbegleiter nach der Spitzengeschwindigkeit. Der Mann im weißen Kellnerjackett erklärte stolz, dass der Zug zweihundert Stundenkilometer fahren könne, aber im Moment, wo es erst einmal in die Hochebene hinaufgehe, seien es nur hundertfünfzig Kilometer je Stunde. Lauri und Kalle fanden auch das schon sehr beachtlich.

Im Waggon saßen, außer den beiden Finnen, etwa zwanzig Chinesen, anscheinend Beamte auf Dienstreise, außerdem auch ein paar westliche Touristen. Lauri wurde auf einen stillen Mann in mittleren Jahren aufmerksam, einen Chinesen, der zwei Bankreihen entfernt saß und ständig die Gespräche und das Verhalten der Finnen zu verfolgen schien. Er schwieg, und als Lauri seinem Blick begegnete, schaute er weg und musterte die vorbeiflitzende Landschaft. Lauri bekam das Gefühl, dass der Kerl trotz seiner Zivilkleidung ein Staatsbeamter, vielleicht ein Polizist oder Detektiv, wenn nicht sogar ein Mitarbeiter des Geheimdienstes war. Er erzählte Kalle von seiner Vermutung und senkte dabei die Stimme zu einem Flüstern, denn er konnte ja nicht sicher sein, ob der stille Mann womöglich Finnisch verstand. Sollte er wirklich ein Spitzel sein, war es denkbar, dass er auch seltene Fremdsprachen beherrschte.

Kalle fand, dass sie sich um den seltsamen Typen nicht zu scheren brauchten. Stattdessen hielt er den Augenblick für gekommen, die Gebetsmühle auszuprobieren. Allerdings sei es besser, so meinte er, die Hindu-Andacht in diesem Luxuszug nicht in voller Lautstärke, sondern nur ganz leise laufen zu lassen. So könnten sie kontrollieren, ob die Mühle noch in Ordnung war.

Alles bestens, das Gerät funktionierte. Lauri und Kalle beschlossen, für die äußere Hülle in der Serienproduktion Leichtmetall oder Plastik zu verwenden. Bisher war der Kasten aus dünnem, wasserfestem Sperrholz zusammengezimmert, und unten am Boden befand sich ein Brett aus guter alter finnischer Fichte. Würde man den Kasten aus leichterem Material herstellen, könnte man das Gesamtgewicht mindestens um die Hälfte verringern, und die Stoßfestigkeit würde sich verbessern. Außerdem wollte Kalle auch die Automatik verfeinern, die Funktionen des eingebauten Handys und die Aufnahmekapazitäten des Tonbandgerätes erweitern und an den technischen Eigenschaften des Mikrofons und des Lautsprechers feilen. Natürlich musste auch eine stabile und elegante Tragetasche her, ähnlich wie sie für Kameras angefertigt wurde, denn die Gebetsmühle sollte ja ihren Besitzer ganz selbstverständlich auf seinen Reisen begleiten. Sie wäre gleichsam ein automatischer Reisepastor und einsetzbar für jedwede Religion oder Glaubensrichtung, abhängig davon, welche Sprache oder Religion auf dem Gerät gespeichert war.

Kalle machte durchs Zugfenster Fotos. Je weiter es bergauf ging, desto verkrüppelter wurden die Bäume, und ganz oben war die Gegend völlig baumlos. Trotzdem war die Landschaft nicht ohne Leben. An den sommerlich grünen, saftigen Hängen weideten Yaks, und die Reisenden bekamen sogar eine echte Kamelkarawane zu sehen. Mindestens zwanzig der in sich gekehrten Tiere trotteten schwer beladen dahin. Bewacht wurden sie von etlichen klein gewachsenen Chinesen, einige gingen zu Fuß neben der Karawane her, andere ritten auf Kamelen oder Eseln. Der Waggonbedienstete erzählte, dass in diesen abgelegenen Gegenden die Einheimischen immer noch die traditionellen Gewerbe betrieben, sie hüteten Schafe und transportierten auf langen Strecken ihre Waren mit Kamelen. Das sei auch kein Wunder, denn hier gebe es noch keine richtigen Straßen, sodass moderne Lastautos nicht benutzt werden könnten. Aber wenn erst einmal die neuen Hilfsprogramme für die rückständigen Randregionen umgesetzt worden wären, dann könnten die Leute hier künftig mit den Kamelen Wettrennen veranstalten, könnten auf Märkten und auf sommerlichen Festen den Rausch der Geschwindigkeit auskosten. Die schweren Transporte würde man dann mit Lkws durchführen, die der Staat zur Verfügung stellte. Die Menschen müssten sich nicht mehr bei schwerer körperlicher Arbeit abplagen, dafür würde die aufopferungsvolle und weitblickende Führung des großen China sorgen.

An dieser Stelle unterbrach der Mann seine Lobeshymne, denn eine Yakherde zog durch eine weite Ebene, und am äußersten Rand der Herde begann ein großer Bulle eine Kuh zu bespringen. Der Zugbegleiter und einige Reisende entledigten sich ihrer Sauerstoffmasken und stellten sich ans Fenster, um sämtliche Phasen des Fortpflanzungsaktes der gehörnten Tiere genau zu verfolgen. Auch der in wildem Tempo dahinrasende Zug stoppte, nicht etwa wegen eines technischen Defekts oder eines Hindernisses auf den Schienen. Der Lokführer und die Reisenden sollten die großartige Gelegenheit bekommen, die Paarung dieser seltenen Tiere zu beobachten. Als der Akt zu Ende war, setzte sich der Zug kaum spürbar in Bewegung und beschleunigte gleich darauf wieder auf das vorherige Tempo.

Kalle hatte bereits zahlreiche Fotos geknipst, Lauri wiederum hatte eifrig Notizen gemacht. Beide bekamen mehr und mehr das Gefühl, dass es mit dem Reisetagebuch über diese bemerkenswerte Bahnstrecke und den noch bemerkenswerteren Zug vielleicht doch noch klappen könnte. Die Schienen waren in dieser Höhe über eine Betonbrücke verlegt worden. Wahrscheinlich war es billiger gewesen, die Schienen durch die Luft zu verlegen, als ihnen den Weg durch schroffe Felshänge zu ebnen. All dies galt es zu verewigen und in Buchform zu verpacken. Selbst wenn das Buch nie veröffentlicht würde, so wäre es immerhin ein ausgezeichneter schriftlicher Bericht für den Dalai Lama.

Kalle hatte hier auch reichlich Zeit, sich mit seinen Erfindungen zu beschäftigen. Er hatte ein sonderbares Bild von einem Bettbezug in sein Heft gezeichnet, der an einem Haken von der Decke hing. Er erklärte, dass das Wechseln eines Bettbezuges eine schwierige und ärgerliche Angelegenheit sei, besonders Männer bekamen das kaum hin. Ständig verdreht sich der Bezug, wenn sie die Decke hineinzustopfen versuchten. Aber wenn man den Bezug an der Decke aufhängen würde, wäre das Problem behoben. Lauri fand die Erfindung clever. All die Millionen Junggesellen, Witwer und geschiedenen Kerle auf der ganzen Welt würden sich bestimmt sofort diese Hängevorrichtung für ihr Schlafzimmer anschaffen und wären Kalle und seiner Erfinderfirma bis an ihr Lebensende dankbar.

Kalle erzählte, dass ihn die Mungos, die sie beim Dalai Lama gelassen hatten, auf die Idee gebracht hätten. Den Tierchen konnte man wahrscheinlich leicht beibringen, einen Bettbezug aufzuziehen. Jedes von ihnen müsste eine Ecke der Decke zwischen die Zähne nehmen, dann würden sie zu dem Bezug hinaufklettern, worauf sich die Decke mühelos einziehen ließe. Aber da es nicht lohnte, Millionen von Bettbezieher-Mungos zu züchten, war es besser, die Idee weiterzuentwickeln und an der Decke des Schlafzimmers Haken anzuschrauben, um mit deren Hilfe die Sache zu meistern. Fehlte nur noch ein Küchenhocker, und das Ergebnis wäre garantiert ordentlich und fachgerecht.

Obwohl Lauri die Bettbezugerfindung recht pfiffig fand, glaubte er nicht, dass sich allein damit die Zukunft von Kalles Firma absichern ließe. Das Projekt dürfte kaum ein Kassenschlager werden, es würde einfach nicht genügend Einkünfte bringen. Kalle ließ sich von diesen Zweifeln nicht erschüttern, er lachte nur und erzählte von seiner neuesten Idee. Hierbei handelte es sich um ein revolutionäres Projekt für den Bau von Autobahnen. Gewaltige Hauptverkehrsstraßen, sechs- oder sogar achtspurig, würden künftig aus durchsichtigem Kunststoff gebaut und von hohen Stelzen getragen, ähnlich wie die neue Bahntrasse zwischen Peking und Lhasa.

Kalle betonte, dass die Erfindung keineswegs zu Ende gedacht sei, aber früher oder später würden sämtliche neuen Autobahnen der Welt auf seine Weise gebaut werden, und zumindest das wäre dann nicht mehr nur Kleinkram. Da jährlich weltweit Tausende Kilometer neuer Autobahnen geplant wurden, würde auf sie beide ein so gewaltiger Geldregen niederprasseln, dass sie keinen Grund mehr hätten, über die bescheidenen Patenteinkünfte aus der Bettbezugerfindung zu jammern.

»Das Geld wird fließen wie ein reißender Strom, glaub mir«, versicherte Kalle.

Lauri legte seine Sauerstoffmaske wieder an und dachte über die Sache nach.