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Der Flug von Neu Delhi nach Peking verlief angenehm, abgesehen von einem Zwischenfall. Auf dem Flugplatz wollte der indische Zoll die Gebetsmühle genauer untersuchen. Kalle musste sie öffnen und den misstrauischen Zöllnern das Funktionsprinzip erläutern, und sie zögerten eine Weile, ehe sie zu der Feststellung kamen, dass es sich um keine chinesische Bombe mit Zeitzünder handelte, sondern hier ganz reale Schwachköpfe die verrückte Idee gehabt hatten, religiöse Andachten auf Hindi in einem merkwürdigen Kasten zu speichern, der mit Akkus betrieben wurde und der außerdem noch allerlei anderes geistliches Gebrabbel enthielt.
Die Zöllner verlangten, dass die beiden Finnen das Gerät in den Koffer packten, sodass es im Frachtraum des Flugzeugs transportiert werden konnte, was Kalle und Lauri nicht akzeptierten. Vielmehr erklärten sie, dass sie von der göttlichen Unterstützung des Kastens abhängig seien, dass sie beide unter schwerer Flugangst litten und dass nur die Gebetsmühle ihnen gegen diese neurotische Störung helfen könne. Kalle schaltete das Gerät auch sofort ein, das mit hörbarer Stimme seine religiöse Botschaft zu verkünden begann, und zwar mit so nachdrücklicher Betonung, dass die Beamten erschraken und Kalle erlaubten, die Mühle mit ins Handgepäck zu nehmen. Allerdings untersagten sie ihm, das Gerät während des Fluges einzuschalten.
Es handelte sich um eine Maschine der indischen Fluggesellschaft, die beiden Freunde konnten diesmal also keine Gratistickets der Air France verwenden. Die französische Fluggesellschaft hatte jedoch mit der indischen einen Partnervertrag, und so bekamen sie die Tickets zum halben Preis. Den Rückflug buchten sie noch nicht, dazu wäre später Gelegenheit, meinten sie, wenn sie nur erst ihre Bahnfahrt nach Lhasa hinter sich hätten.
Der Flug begann angenehm. Es war ein schöner Sommermorgen. Die Stewardessen und Stewards servierten Tee und einen warmen Imbiss, die Passagiere fühlten sich, als wären sie auf einer gemütlichen Touristenreise in ein fremdes Riesenreich. Der ruhige, gleichmäßige Flug änderte sich jedoch, als sie das östliche Gebirge Tibets erreichten. Jetzt sahen sie unter sich Reihen schneebedeckter, gewaltig hoch aufragender Felsen, und die Maschine begann heftig zu wackeln. Die Stewardessen räumten die noch nicht geleerten Teetassen ab, damit der Inhalt nicht auf den Fußboden schwappte. Die Passagiere wurden per Lautsprecher aufgefordert, sich anzuschnallen, außerdem wurden Spucktüten verteilt.
Aus der Ablage fielen Gepäckstücke herunter. Auch Kalles Gebetsmühle knallte mit solcher Wucht auf den Fußboden, dass die Automatik ansprang. Das Gerät begann sofort mit gewaltiger Lautstärke einen eifrigen Gottesdienst, sodass die ganze Kabine widerhallte. Lauri versuchte, das Mikrofon abzuschalten, aber der Apparat gehorchte nicht, im Gegenteil, er wurde noch lauter. Plötzlich unterbrach er die Hindu-Andacht und begann mit einer ohrenbetäubenden chinesischen Ansprache. Die Passagiere, die die Sprache verstanden, staunten nicht schlecht. Sie informierten Lauri und Kalle, dass es sich um obszöne Worte handelte, regelrechte Pornografie. Die Mühle erzählte lüstern und in allen Einzelheiten vom Geschlechtsleben der Menschen.
Lauri und Kalle staunten über die Schweinereien in ihrer Mühle. Wer hatte diese Obszönitäten aufgenommen? Hatte sich womöglich der Dalai Lama zu dieser Geschmacklosigkeit hinreißen lassen? Natürlich nicht, ein geistliches Oberhaupt Tibets würde sich niemals für so etwas hergeben, war er doch ein kultivierter und anständiger Mann. Aber irgendein niederträchtiger Kerl musste das schließlich verzapft haben, denn die Gebetsmühle wäre wohl kaum von sich aus zu solch menschlichem Handeln fähig.
Die Mühle wechselte jetzt von den chinesischen zu englischen Obszönitäten. Nun verstanden auch Lauri und Kalle, was das Gerät von sich gab. In der Tat schien es den Verstand verloren zu haben. Es schmetterte seine schweinischen Botschaften heraus, dass es seinen Besitzern die Sprache verschlug. Nur in den schmierigsten Sexhöllen bekam man solche Zoten zu hören. Alle Passagiere starrten die beiden Finnen verärgert an. Kalle blieb nichts weiter übrig, als die Bodenplatte der frivolen Mühle abzuschrauben und den Akku herauszunehmen, erst da verstummte sie. Lauri erhob sich und entschuldigte sich bei den Mitreisenden für den Zwischenfall. Er bedauerte das Verhalten der Gebetsmühle und erklärte, dass er und sein Freund nicht die Urheber der Obszönitäten seien.
Die unruhige Flugphase dauerte fast eine Stunde. Lauri und Kalle fragten sich, ob sie sich nicht doch auf ein zu großes Abenteuer eingelassen hatten. An ihrem Ziel, in Tibet, würden ihnen keine Sicherheitsgurte helfen, sich vor den Gefahren des Gebirges zu schützen.
»Schade, dass uns die frivole Mühle nicht beim Beten hilft. Hoffentlich knallen wir nicht gegen eine Gebirgswand, die Maschine schaukelt immer schlimmer«, meinte Lauri.
Kalle beruhigte seinen Reisegefährten und sagte ihm, dass sie ganz sicher mit dem Apparat würden beten können, wenn sie nur erst in der Bahn säßen.
In Peking verweilten sie zwei Tage und erkundeten die Hauptstadt des größten Volkes der Welt. Die Hitze hielt an, aber sonst gefiel ihnen das Touristenleben. Kalle machte eifrig Fotos, wobei Lauri inzwischen daran zweifelte, ob er je imstande sein würde, ganze drei Reisebücher über die berühmtesten Bahnstrecken der Welt zu schreiben. Kalle war über solche Zweifel erhaben. Er glaubte, notfalls für seinen Freund einspringen und die Texte verfassen zu können. Seiner Meinung nach war es garantiert nicht so schwer, angesichts der Vielzahl derartiger Publikationen. Lauri sollte Mut fassen und sich sagen, dass er genau wie all die anderen Autoren sehr wohl imstande war, einen ansprechenden Text zu schreiben, vielleicht nicht genauso stilvoll, aber zumindest wäre es sein eigener. Und mit einem bisschen Glück könnten die Bücher ein Erfolg werden. Also begann Lauri, sich für alle Fälle Notizen zu machen, auch wenn er seinen schriftstellerischen Fähigkeiten immer noch nicht traute. Er und Kalle waren ja eigentlich in Religionsfragen unterwegs, und die Buchprojekte waren nur ein Vorwand und ein Köder, um die Reise zu realisieren. Und wie sollte es ihnen überhaupt gelingen, einen britischen Verlag von der Publikationsreife der Bücher zu überzeugen? Kalle sorgte sich darum nicht im Geringsten. Falls die Engländer die Vorteile eines spritzigen Reisetagebuches nicht erkannten, hätten sie immer noch die Möglichkeit, die Manuskripte und Fotos beispielsweise den Franzosen, Amerikanern oder letztlich sogar den Indern anzubieten.
In Peking verdeckte eine Smogwolke die Sonne. Viele Einheimische trugen einen Mundschutz aus weißem Mull, der die Schmutzpartikel aus der Luft filterte und zugleich die Verbreitung ansteckender Krankheiten verhinderte. Lauri und Kalle besorgten sich keinen Mundschutz, sie glaubten, ihr zweitägiges touristisches Programm auch ohne bewältigen zu können. Auf jeden Fall waren die Leute außerordentlich freundlich, und obwohl sich besonders im Zentrum der Millionenmetropole häufig der Verkehr staute, herrschte allgemein eine angenehm lockere Atmosphäre. Besonders genossen die beiden Freunde die überaus reichlichen Mahlzeiten, bei denen es manchmal bis zu zwanzig verschiedene Gerichte gab.
Am Morgen des dritten Tages stiegen sie schließlich in den nagelneuen Zug nach Lhasa. Vor ihnen lag eine Bahnfahrt von tausend Kilometern auf einer Strecke, die über die höchstgelegene Ebene Chinas und der ganzen Welt verlief. Stellenweise ging es bis auf fünftausend Meter hinauf. Die Reise war so lang, dass die Passagiere auch im Zug übernachteten.
Kalle und Lauri hatten sich unter einem chinesischen Personenzug ein altmodisches und rumpelndes Ungetüm vorgestellt, aber hier handelte es sich um ein modernes und elegantes Schienenfahrzeug, und es war strahlend neu. Keiner der beiden hatte je ein solches Wunder gesehen. Spätestens jetzt waren sie überzeugt, dass es China ernst damit war, Tibet völlig zu annektieren. Der Preis der Fahrkarten war, betrachtete man die Länge der Reise und den Luxus im Zug, moderat, auch die Zollformalitäten ließen sich bewältigen. Bei der Abreise in Peking nahm man es sehr genau, die Visa und Pässe wurden sorgfältig, aber freundlich kontrolliert. Kalle ließ sich darüber aus, dass in Asien anscheinend immer und bei jeder Gelegenheit gelächelt wurde. Vielleicht behielten die Chinesen ihren schmeichlerischen Gesichtsausdruck auch dann bei, wenn sie Andersdenkende verhafteten und vor das Hinrichtungskommando zitierten. Lauri bat ihn, die makabren Scherze zu unterlassen, obwohl auch er das ewige Lächeln eher für angeordnet als für echte Freundlichkeit hielt.
Die beiden stiegen ein und suchten nach ihren Sitzplätzen. Sie hatten Fahrkarten erster Klasse genommen. Da sie es bis nach China geschafft hatten, hielten sie diesen Luxus für angemessen. Sie hatten nur die Hinfahrt gelöst, da sie das genaue Datum ihrer Rückreise noch nicht kannten.
Kalle ließ sich in den weichen Sitz fallen und meinte erfreut:
»Da musste man bis nach China kommen, um in solch einem Luxuswaggon zu reisen!«
Die Sessel ließen sich mit wenigen Handgriffen zu Betten umfunktionieren. Im vorderen Teil des Waggons gab es eine Bar, wo chinesisches Essen serviert wurde. Die Toilette war sauber, und dahinter gab es noch ein Badezimmer mit Dusche und allem Drum und Dran. Der Zugbegleiter trug die Koffer in einen Durchgangsraum des Waggons. Der Schaffner hieß die Reisenden willkommen und lächelte nach chinesischer Art sonnig, er kontrollierte die Fahrkarten und wünschte eine gute Reise. Der Mann sprach leidlich Englisch und erklärte ihnen die Vorzüge des Waggons, führte ihnen die Duschen vor und gab Ratschläge für die richtige Einstellung der Sitze.
Es machte Spaß, sich häuslich einzurichten. Lauri schrieb ein paar Einträge in sein Notizbuch und dachte bei sich, dass es wohl sinnvoll sei, über diese Reise ein Buch zu verfassen und mit den entsprechenden Fotos zu versehen. Vermutlich hätten nicht viele Europäer in ihrem Leben die Gelegenheit zu solch einem Abenteuer. Er und Kalle hatten jedenfalls bis nach China reisen müssen, um in den Genuss des prachtvollsten Zuges der Welt zu kommen.