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Das Leben in Gefangenschaft fern der Heimat, ohne sichere Gewissheit über das eigene Schicksal und ohne Kontakt zu den Angehörigen, war eine harte Erfahrung für Kalle Homanen und Lauri Lonkonen. Ihr Essen bestand aus einer dünnen, stinkenden Suppe. Beide dachten wehmütig an ihr gemeinsames finnisch-indisches Restaurant und seine Köstlichkeiten. Die meiste Sorge bereitete ihnen jedoch das bevorstehende Urteil.
»Ich habe wirklich echte Angst«, sagte Lauri zu seinem Gefährten, der die Religion ins Feld führte:
»Wir sollten ernsthaft anfangen zu beten«, meinte Kalle.
Der christliche Glaube war den Finnen natürlich vertraut. Lauri und auch Kalle hatten sogar als Kinder die Sonntagsschule besucht, und später waren sie konfirmiert worden. Wie Kalle berichtete, war er allerdings mindestens dreimal aus der Sonntagsschule abgehauen. Er war einfach in Gedanken auf den Schulhof gegangen, über den Zaun geklettert und auf die Landstraße getrabt, dort hatte man ihn aufgegriffen und zurückgebracht.
»Ich hatte damit gar nichts Besonderes beabsichtigt, bin einfach losgegangen, so war ich damals eben.«
Lauri erinnerte sich, dass er in der Sonntagsschule ein braver Junge gewesen war. Aber man hatte ihnen dort große Bilder von hässlichen bärtigen Männern gezeigt, und er hatte schreckliche Angst vor Jesus und Gott gehabt, weil sie so furchtbar böse aussahen.
Die Erinnerungen an den Konfirmandenunterricht waren noch weitaus farbiger. Kalle war aus dem Konfirmandenlager ausgerissen, war unerlaubt und auf eigene Faust in die Stadt zurückgekehrt. Zusammen mit zwei Kumpels hatte er Haschisch probiert und Alkohol getrunken. Zwei Tage hatten sie herumgesumpft, und wegen dieses Ausflugs wäre er beinah nicht konfirmiert worden. Aber da er seine Verfehlungen tief bereut und um Vergebung gefleht hatte, hatten die Lehrer Gnade walten lassen.
Lauri hatte sich beim Konfirmandenunterricht so unsterblich in ein hübsches Mädchen verliebt, dass er geglaubt hatte, am gewaltigen Feuer seiner Gefühle sterben zu müssen, wenn die Angebetete ihm, dem schüchternen Jungen, nicht wenigstens einmal in die Augen sehen und ihn anlächeln würde. Aber später hatte dann ihre zwei Jahre ältere Schwester sein Herz gewonnen, mit ihr hatte er sich verlobt und sie anschließend geheiratet. Lauri und Irma waren heute immer noch ein Paar, sie hatten Kinder, ein schönes Heim und alles.
»Du kennst ja meine Irma.«
Die beiden Gefährten hatten inzwischen, speziell in letzter Zeit, Kenntnisse über den Buddhismus, den Schiismus und mithilfe der Gebetsmühle auch über den Hinduismus erworben. Lauri wusste über die großen Ideologien der Menschheit Bescheid, über den Sozialismus, den Kommunismus und den Faschismus. Und auf ihrer aktuellen Reise hatten beide außerdem Einblicke in die Lehren von Konfutse, ins Ariertum und auch in den Maoismus bekommen, der freilich einen Großteil seiner Strahlkraft verloren hatte.
Lauri hatte sich während der Reise gründlicher als Kalle mit dem Buddhismus beschäftigt, der, so hatte er erfahren, drei Hauptrichtungen hatte. Zwei davon waren in Indien verbreitet, aber eine dritte hatte sich abgespalten und bildete eine eigene tibetische Linie. Der Buddhismus begriff sich selbst als eine Art religiöses Fahrzeug. Das indische »Fahrzeug« wurde Theravada genannt, die Lehre der Älteren, für die große Masse der Gläubigen war Mahayana reserviert, das »große Fahrzeug«, und die Tibeter glaubten ans Vajrayana, das »Diamantfahrzeug«. Lauri erzählte, dass diese tibetische Glaubensrichtung nicht nur das Fahren mit diamantenen Fahrzeugen, sondern auch den Blitz bezeichnet, der, wenn er am Himmel zuckte, wie ein Edelstein funkelt.
Beide Freunde hielten es für unerlässlich, eine neue Religion zu praktizieren, und als Grundlage schien ihnen das, was Kalle geträumt hatte, gut geeignet. Ihre gegenwärtige Gefangenschaft und die Verhöre im tibetischen Kloster versprachen wahrlich nichts Gutes für die Zukunft. Allein würden sie sich kaum aus dieser Notlage retten können, da war es ratsam, den Blick zu einer göttlichen Kraft zu erheben und um Rettung zu beten.
Ob nicht vielleicht doch der traditionelle christliche Glaube am ehesten helfen würde, gab Kalle zu bedenken. Aber Lauri fand, dass eine eigene Religion in dieser Situation wichtig und eine bessere Garantie für die Rettung war.
»Etwas Eigenes ist immer am besten, und von Jesus haben wir vermutlich nicht viel zu erwarten, zumal keiner von uns wirklich gläubig ist.«
Als Kalle über die Sache nachgedacht hatte, musste auch er zugeben, dass der christliche Glaube in diesem chinesischen Kloster offenbar keine große Kraft besaß. So hatte er letztlich keine Einwände dagegen, eine eigene Religion zu gründen, jedenfalls würde es die Sachlage nicht verschlimmern. Die Welt bot genug Platz für Religionen, warum nicht auch für eine eigene und selbst entwickelte.
Kalle fand, dass sie ein paar Wesenszüge des tibetischen Buddhismus übernehmen könnten, da sie sich nun mal in Tibet befanden und der diamantene Blitz ihn beeindruckt hatte. Eine finnische Weltreligion, die schimmern würde wie ein Edelstein, dürfte künftige Glaubensbrüder und -schwestern durchaus ansprechen, zumal in Kombination mit einem Register guter Taten. Die neue Religion stand also im Wesentlichen auf einer stabilen Basis.
»Wir müssten noch irgendetwas echt Finnisches hinzufügen, zum Beispiel Elemente des laestadianischen Glaubens«, schlug Lauri vor.
Seine alte Tante war ihr Leben lang Altlaestadianerin gewesen, sehr fromm und auch sonst ein hochanständiger Mensch. Sie hatte altlaestadianische Choräle gesungen und war sonntags zu den Zusammenkünften der Sekte gegangen. Jeden Sommer hatte die fromme Frau eine ganze Woche mit ihren Glaubensschwestern und -brüdern verbracht. Kalle äußerte Zweifel, dass der Glaube ihr irgendwie geholfen hatte. Welchen Nutzen hatte sie davon gehabt? Lauri erzählte, dass die Tante ihr Leben lang in ihrer Gemeinde im nördlichen Puolanka sehr geachtet gewesen war und es zu einem beachtlichen Vermögen gebracht hatte. Sie war unverheiratet und Ladeninhaberin gewesen, und niemand hätte vermutet, dass sie am Ende ihres Lebens reich sein würde. Aber genau das war passiert, und die Tante hatte in der Stadt Oulu einen zweiten Laden eröffnet. Sie hatte Bedarfsartikel für die Landwirtschaft verkauft, Kummets für die Pferde, Milchkannen, Kaffeekannen, Tretschlitten, verschiedene Arbeitsgeräte, angefangen von Stampfern und Äxten bis hin zu Webstühlen.
»Aber der liebe Gott hat deiner Tante keinen Ehemann beschert?«
Sie hätte sehr wohl einen Mann haben können, wenn sie gewollt hätte, geeignete Kandidaten hatte es reichlich gegeben, aber sie hatte lieber allein gelebt, oder vielmehr war sie bereits in jungen Jahren die Braut Christi geworden. Dadurch, dass sie die Heiratskandidaten abgewiesen hatte, hatte sie sich vermutlich viel Ärger erspart. Wer weiß, welchen Säufer sie am Hals gehabt hätte, hätte sie sich zur Sklavin irdischer Begierden gemacht. Alles in allem hatte die Tante ein wunderbares und reiches Leben gehabt, war bis ins hohe Alter gesund geblieben und erst mit achtundachtzig Jahren gestorben. Vor sechs Jahren war sie, unter dem Geleit einer riesigen Schar von Freunden, auf dem Friedhof von Puolanka beigesetzt worden. Die Glaubensbrüder und -schwestern hatten auf ihren Grabhügel einen mächtigen Stein gesetzt, in den die erste Strophe ihres Lieblingschorals eingemeißelt war, der den Weg nach Golgatha zum Inhalt hatte.
Lauri schätzte, dass Tausende Exemplare der Gebetsmühle hergestellt werden müssten, damit sie in aller Welt die frohe Botschaft von der Existenz einer neuen Religion verbreiten könnten. Aber wie sollte das in der Praxis vonstattengehen? Könnte man die Geräte vielleicht mit kleinen Rädern versehen, auf denen sie sich fortbewegen könnten wie Roboter?
Kalle glaubte nicht daran, dass die Mühlen imstande wären, sich selbstständig durch die Straßen der Stadt zu bewegen, und selbst wenn man sie mit geeigneten Programmen zur Glaubensverkündigung ausrüsten würde, würde das kaum jemanden überzeugen. Wer wollte schon einen Kasten anbeten, und sei er noch so fromm.
Lauri regte nun an, dass man, wenn man schon keine Räder unter den Mühlen befestigte, ihnen wenigstens Flügel verleihen könnte, so wie an Gleitflugzeugen, dann könnte man die Mühlen bei geeignetem Wetter von einem höher gelegenen Standort aus losschicken, damit sie die neue Botschaft verkündeten.
Kalle war davon nicht begeistert. Seiner Meinung nach würden fliegende Gebetsmühlen die Menschheit ebenso wenig von der neuen Religion überzeugen wie rollende. Man musste sich etwas Wirkungsvolleres einfallen lassen. Um eine eigene Bibel zu verfassen, reichte ihrer beider schriftstellerische Begabung und Erfahrung vermutlich nicht aus, aber eine seelenvolle und fromme Basis für die selbst entwickelte Religion sollten sie schon schaffen.
»Wir könnten Propheten werden, falls uns nichts Besseres einfällt«, plante Kalle.