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Nach anderthalbtägiger Fahrt erreichte der Zug am Nachmittag Lhasa. Die Sonne ging bereits unter. Die ehemalige tibetische Hauptstadt war vor Hunderten von Jahren dreitausendachthundert Meter über dem Meeresspiegel errichtet worden, am Fluss Brahmaputra, der durch diese schwindelerregenden Gebirgshöhen floss. Die uralte Klosterstadt lag da, vergoldet vom Licht der untergehenden Sonne, und ihre schroff aufragenden Gebäude, die berühmten Klöster, schmiegten sich an die Berghänge wie das Abendkleid einer Frau, unauffällig und natürlich. Der Anblick war herzergreifend. Lauri und Kalle wurden fast andächtig, als sie diesen Ort, eine der abgelegensten und zugleich berühmtesten Städte der Welt, sahen.

Der Luxuszug glitt vor das neue Bahnhofsgebäude, würdevoll und lautlos wie eine junge Königin. An den Fahnenmasten vor dem Gebäude wehten die roten Fahnen der Volksrepublik China, und in den Laternen auf den hohen Pfählen flammten Lichter auf. Bald würde die Sonne untergehen und die Nacht über Lhasa hereinbrechen. Lauri und Kalle grübelten, wie sie zu einem Hotelzimmer kämen, aber das Problem löste sich gleich auf dem Bahnsteig. Man erwartete sie, ein lächelnder Chinese in mittleren Jahren, bekleidet mit einer blauen Uniform, erspähte sie sofort und näherte sich unter Verbeugungen und mit ausgestreckter Hand, um sie zu begrüßen. Lauri und Kalle wunderten sich, aber dann begriffen sie, dass jener Reisende, der mit ihnen im Waggon gesessen hatte, vermutlich von unterwegs über sie berichtet hatte.

Der Mann stellte sich vor. Er hieß Ky Khai Jong und war, wie er sagte, Vizedirektor des Tourismusbüros von Lhasa. Er hieß die beiden Finnen herzlich willkommen und bat sie, ihm zu einem bescheidenen Begrüßungsmahl zu folgen.

Vor dem Bahnhof pfiff er einen alten Mann herbei, der die Koffer der Gäste tragen sollte und der Ky zufolge ein echter Tibeter war. Sie gingen ein Stückchen zu Fuß und traten schließlich in einen strohgedeckten Pavillon, ein Teehaus, in dem eine Mahlzeit für drei Personen vorbereitet war. Es gab nach chinesischer Sitte Tee, diesmal einen mit tibetischen Kräutern gewürzten grünen Tee, besonders aromatisch und gesund. Dazu aß man verschiedene kleine, in dünnes Brot eingewickelte Delikatessen: geröstetes und geräuchertes Rindfleisch, Aal, Lachs, Wachteleier, diverse Käse und Pasteten. Alles mundete den Ankömmlingen. Während der Mahlzeit erzählte der freundliche Direktor Ky vom heutigen Tibet und besonders von der Hauptstadt Lhasa. Die gesamte entlegene Gebirgsregion war im Jahre 1959 gewissermaßen in ein neues Zeitalter eingetreten, als nämlich das vaterländische China sie von der Herrschaft der rückständigen Mönche befreit hatte. Der Dalai Lama hatte sich schmählich aus dem Staub gemacht und sich jenseits der Grenze in Indien niedergelassen, um von dort feindselige Propaganda gegen China und gegen Tibet, das er einst mit harter Hand regiert hatte, zu betreiben. Heute wohnten in Lhasa bereits sage und schreibe dreihunderttausend Menschen, und das war doch ein absolut deutlicher Beweis für Chinas günstigen Einfluss auf diesen von Gott und der Kultur verlassenen Erdenwinkel. Schließlich pries der eifrige Ky noch den Umstand, dass heutzutage jährlich bereits mehr als eine Million Touristen Lhasa und Tibet besuchten, was von der Weltoffenheit der Chinesen und von Lhasas heutiger Blüte zeugte. Auch wenn weltweit etwas anderes behauptet wurde, die Tibeter waren glücklich, dass sie unter dem sicheren Schutz einer Großmacht leben durften, ohne sich vor den Angriffen kriegerischer Nachbarn fürchten zu müssen.

Ky verriet noch, dass bis zum Jahr 2020 sogar zwanzig Millionen Touristen Tibet und besonders die Hauptstadt Lhasa besuchen würden. Diese enorme Steigerung wurde schon allein dadurch möglich, dass heute bereits zwei Drittel der Einwohner Lhasas gebürtige Chinesen waren.

»Wenn wir schon eine Verschmelzung anstreben, dann ganz sicher auch mit ordentlichen Ergebnissen«, prahlte der Direktor.

Lauri bemerkte Kalle gegenüber beiläufig, dass Direktor Ky ein netter Mann sei. Sonnig lächelnd erwiderte Ky auf Englisch, dass er in keiner Weise nett oder lustig sei, er repräsentiere lediglich das geliebte große Vaterland und versuche, das in bestmöglicher Weise zu tun.

Nun wussten die beiden Freunde also, dass der Mann, der als ihr Gastgeber fungierte, auch Finnisch verstand, was er verheimlicht hatte. Sie hatten es hier mit einem Typen zu tun, vor dem sie sich in Acht nehmen mussten. Ein chinesischer Geheimpolizist der übelsten Sorte.

Schmeichlerisch erkundigte sich der Spitzel, was die finnischen »Freunde« in Tibet und Lhasa sehen wollten und welches Programm er ihnen bieten könnte.

Kalle und Lauri erklärten, dass sie einfach nur als Touristen gekommen seien, aber gleichzeitig interessiere sie das altehrwürdige tibetische Mönchstum. Sie wollten gern eines der großen Mönchsklöster besuchen und sich mit den Mönchen unterhalten, vielleicht ließe sich das einrichten. Außerdem wollten sie natürlich die Hauptstadt und das Gebirge der nahen Umgebung erkunden. Könnten sie eventuell für ein paar Tage einen örtlichen Führer und Träger bekommen, der dafür sorgen würde, dass sie als unerfahrene Europäer an den steilen Hängen und in den Schluchten nicht zu Schaden kämen? Ky willigte sofort und breit lächelnd in beide Vorschläge ein und ergänzte von sich aus, dass er außerdem persönlich ein Programm für sie organisieren wolle, das die »Freunde« ihr Leben lang nicht vergessen würden. In derart schöner Eintracht beendeten sie die Mahlzeit, und Kalle und Lauri unternahmen einen Spaziergang durch die engen und verwinkelten Gassen der Hauptstadt.

Lhasa war eine kleine, alte Stadt und ehrwürdig wie eine betagte adelige Dame, sie war anmutig, geheimnisvoll, hoheitsvoll und verlockend. Durch die Straßen zogen viele Pilger, obwohl es Sommer und nicht die Zeit religiöser Feste war. Die frommen Pilger waren zu Fuß unterwegs. Viele hatten aus ihrer weit entfernten Heimat mehrere Monate bis hierher gebraucht, einer sogar drei Jahre. Das war auch nicht weiter verwunderlich, da er nur sehr langsam vorankam, denn er machte jeweils nur ein paar Schritte und warf sich dann auf die Knie, um zu beten. Manche legten sich ausgestreckt hin und drückten die Stirn auf den Boden. Die Allerfrömmsten hatten bereits eine blutige Beule an jener Stelle, mit der sie unentwegt den Boden berührten. Der oben erwähnte Mann erhob sich soeben wieder von seinem Gebet, tat drei Schritte und warf sich erneut auf die Knie. Verständlich, dass bei diesem Tempo der Pilgerweg Monate oder sogar Jahre dauerte.

Kalle konnte es nicht lassen, seine Gebetsmühle einzuschalten. Wozu besaß er schließlich einen solchen Apparat, und noch dazu einen von dieser Qualität. Die Gebetsmühlen, die die Pilger mit sich trugen, waren runde, verschnörkelte Monstren, die von Hand gedreht wurden. Ein bisschen so wie Holzratschen.

Die Gebetsmühle posaunte für Pilger und Stadtbewohner sofort ihre speziellen Andachtsprogramme und Schweinereien heraus, sodass es in den Straßen und Gassen widerhallte. Kalle versuchte, den Redefluss des Apparates zu dämpfen, der aber gehorchte seinem Herrn nicht, sondern verkündete weiter seine schlüpfrigen Botschaften in voller Lautstärke, was zur Folge hatte, dass zahlreiche Pilger und Einheimische über Kalle und Lauri herfielen und die Besitzer des frivolen Apparates verprügelten.

Die beiden Freunde konnten mit Mühe und Not den Fäusten der erzürnten Gläubigen entrinnen und sich in das Teehaus retten, in dem sie vorhin gesessen hatten. Ky war noch vor Ort und bezahlte gerade die Rechnung. Kalle schraubte die Bodenplatte der Gebetsmühle ab und brachte das Gerät endlich zum Schweigen. Es war an der Zeit, Ky die finnische Erfindung vorzustellen.

Der Vizedirektor des Tourismusbüros von Lhasa konnte sich nicht im Mindesten für Kalles und Lauris Mühle erwärmen. Zwar hörte er sich brav lächelnd eine Hindu-Andacht an, aber der finstere Ausdruck in seinen Augen ließ keinen Zweifel aufkommen: Im heutigen China würde dieser obskure geistliche Apparat keinen Erfolg haben. Ky verkündete freundlich, dass sein Büro die Missionstätigkeit der Finnen nicht unterstützen werde, mehr noch, er bat sie, die Gebetsmühle auf chinesischem Territorium künftig nicht mehr einzuschalten. Dergleichen widerspreche den bewährten Prinzipien der Großmacht. Die Besuche in den Klöstern gingen ja noch an, aber es müsse auch eine Grenze geben. Bereits zu Zeiten des alten und hoch verehrten Mao habe man mit blutigen Köpfen für die Ausmerzung aller westlichen religiösen Saat gekämpft, und in der neuen Ära bestehe kein Grund, zu imperialistischen Gepflogenheiten zurückzukehren.

Als Quartier wies der selbstbewusste Tourismuschef den beiden Finnen spartanische ehemalige Klausen in Lhasas größtem Mönchskloster zu. Die zwei bis drei Quadratmeter großen Räume waren mit Matratzen, Kissen, Decken und sauberer Bettwäsche ausgestattet, Licht erhielten sie durch eine kleine Fensterluke, die man zur Nacht schließen konnte. Etwa zwanzig solcher Klausen waren in den Felsen gehauen worden, ebenso wie ein großer Saal, vermutlich der Versammlungsort des Klosters und eine Art Kirche, aber religiöse Gegenstände waren nicht zu sehen. Karg und unwirtlich wirkte das Gebäude, und weit und breit gab es keine Spur von Mönchen, aber auf den Gängen und vor den Türen standen Soldaten in Uniform, die leichte Maschinenpistolen über der Schulter trugen.

Neben den Betten standen Kannen mit frischem Wasser, und für beide Gäste lag je eine englischsprachige Broschüre bereit, in der von der Macht des heutigen China und von der neuesten Entwicklung Tibets und Lhasas berichtet wurde. In dieser Hinsicht war also alles in Ordnung. Der Träger schleppte die Koffer der Reisenden in dieses öde Kloster und stellte sie neben den Betten ab.

Es war bereits Zeit zur Nachtruhe. Lauri und Kalle bedankten sich bei ihrem freigiebigen Führer Ky, nachdem sie zuvor verabredet hatten, dass er sie zeitig am Vormittag zum Frühstück abholen sollte.

Als die beiden Freunde allein waren, unterhielten sie sich über ihre Erfahrungen. Sie kamen zu dem Schluss, dass sie die Gebetsmühle von nun an besser nicht vor staatlichen Beamten einschalten sollten, aber ganz wollten sie auf den Apparat nicht verzichten, und auf jeden Fall wollten sie erkunden, ob sich die Tibeter dafür interessierten. Ohne Weiteres ließe sich ein Programm in der Landessprache einspeisen, das sich die Einheimischen, auch die wenigen noch lebenden Mönche, privat anhören könnten, um so ihrem alten Glauben Genüge zu tun.