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Eine moderne Gebetsmühle kann mehr leisten als nur fromme Andachtsdienste. In dem von Kalle entwickelten Gerät befand sich ein leistungsfähiges Handy, mit dem man mühelos ins Internet gelangen konnte, sogar von Tibet aus, und diese Möglichkeit nutzte der Erfinder jetzt. Er suchte nach Informationen über Tibets gegenwärtige Situation und fand einen langen Nachrichtenbeitrag zum Thema.

Lauri und Kalle machten sich Notizen, während sie die Nachrichten studierten, die in der Tat bewiesen, dass China als Besatzungsmacht die einheimische Bevölkerung keineswegs sanft behandelt hatte. Die beiden Freunde beschlossen, all die Ungeheuerlichkeiten zur Sprache zu bringen, wenn sie ihren Gastgeber Ky zum Lunch treffen würden.

Der Lunch wurde in demselben Pavillon eingenommen, in dem sie tags zuvor gespeist hatten. Diesmal gab es ein noch üppigeres Büfett, angeboten wurden mindestens zwanzig verschiedene, ausgezeichnet gewürzte kleine Bündel, in die Fleisch, Fisch und exotische Gewürze eingewickelt waren. Vizedirektor Ky hatte für die kommenden Tage ein Besichtigungsprogramm zusammengestellt. Er hatte den beiden Finnen einen tüchtigen Träger und einen Fremdenführer engagiert. Letzterer sollte sie ins Gebirge führen, wo sie eine Nacht oder vielleicht auch zwei in einer kleinen Hütte verbringen würden. Eine Yak-Safari, ein chinesischer Spieleabend und ein kulinarischer Ausflug zu den Speisetischen des Himalaja gehörten ebenfalls zum Programm. Lauri und Kalle nannten den Plan großartig und dankten ihrem Gastgeber für seinen Erfindungsreichtum und seine Mühe.

Nach Abschluss der Mahlzeit zückte Lauri ein Blatt Papier, auf dem er zusammen mit Kalle die Leiden des tibetischen Volkes während der chinesischen Besatzung aufgelistet hatte. Anfangs hörte Ky interessiert zu, aber im weiteren Verlauf des Vortrags wurde seine Miene immer angespannter, und schließlich verschwand das ewige Lächeln von seinem Gesicht.

Lauri stellte klar, dass die Besetzung Tibets völkerrechtlich gesehen illegal gewesen sei und zum Ziel gehabt hätte, Chinas kleines Nachbarland zu versklaven. Über die Jahrzehnte hinweg hätte das chinesische Militär in Tibet und seiner Hauptstadt Lhasa ein strenges Regiment geführt, und ein Ende sei anscheinend nicht abzusehen. Erst im Jahr 2006 hatten Soldaten auf flüchtende Tibeter geschossen. Andersdenkende wurden in Lhasas neues Gefängnis gesperrt, und es gab Fälle, in denen Mönche und Nonnen verhaftet worden waren, nur weil sie ein Poster des Dalai Lama besessen hatten. Die im Land durchgeführte Umerziehungskampagne hatte indirekt die chinesischen Einwohner begünstigt. Das Analphabetentum unter den Tibetern hatte zugenommen. Außerdem verkaufte die Regierung Chinesen, die nach Lhasa ziehen wollten, verbilligte Bahnfahrkarten.

Im Verlauf der Ausführungen blickte Vizedirektor Ky immer strenger drein. Eisig erklärte er, dass zumindest für diesen Tag das eingangs vorgestellte Touristenprogramm ausfallen würde. Es müsste noch genauer durchdacht werden.

Schweigend kehrten Lauri und Kalle ins Kloster zurück und warfen sich auf ihre Betten. Ihnen schien, dass die Situation recht verfahren war. Die Chinesen ertrugen anscheinend keine Kritik an ihrer Politik.

Die beiden engagierten auf eigene Faust einen Bergführer und unternahmen an den zwei folgenden Tagen jeweils für einige Stunden Klettertouren in die Umgebung von Lhasa. Die Landschaft war schier atemberaubend, es ließen sich aber keineswegs alle Hänge besteigen, nicht mal mit voller Ausrüstung. Lauri und Kalle mussten sich damit begnügen, die Pässe entlangzukraxeln, und selbst das war für die Finnen schon schwierig genug. Der tibetische Führer war ein zäher Alter, der mühelos den Proviant und die großen Seilbündel auf den Schultern trug. Er beherrschte auch sämtliche Fertigkeiten, die im Gebirge nötig waren, entzündete in Windeseile ein Lagerfeuer, kochte schmackhafte Lammfleischsuppe, wusste die Namen der höchsten Gipfel in der schroffen Landschaft und wie viele Menschen dort in den Tod gestürzt waren. Er kannte unendlich viele alte tibetische Volkssagen und Sprüche, deren Übersetzung ins Englische ihm allerdings Schwierigkeiten bereitete. Außerdem machte er Zauberkunststücke und sang Hirtenlieder. Die hinduistische Botschaft der Gebetsmühle nahm er zunächst mit einigem Staunen zur Kenntnis, lauschte ihr dann aber andächtig.

Die Gebirgstouren klappten zwar gut, aber mit dem übrigen Programm haperte es. Ky, der Vizechef des Tourismusbüros, meldete sich nicht mehr bei den Finnen, auch die anderen Chinesen schienen nicht an ihrer Gesellschaft interessiert. Lauri und Kalle versuchten ihrerseits, mit den Tibetern in Kontakt zu kommen, um ihnen die Gebetsmühle vorzustellen. Sie besuchten mehrere Schulen, aber wenn die tibetischen Lehrer erfuhren, worum es ging, untersagten sie entschieden lächelnd das Hausieren mit Gebetsapparaten.

Wenn Lauri und Kalle in der Stadt unterwegs waren, hatten sie oft das Gefühl, dass sie verfolgt und beobachtet wurden. Hatte vielleicht Vizedirektor Ky ihre Überwachung angeordnet? Verdächtigte man sie der Spionage? Darauf könnte in China unter Umständen die Todesstrafe stehen, vermutete Kalle. Eine entsprechende Meldung hatte er unlängst in einer Zeitung gelesen. Der Gedanke an die Hinrichtung auf Beschluss eines chinesischen Militärgerichts ließ Lauri schaudern. Er überlegte, ob sie ihre ganze Erkundungsreise vermasselt hatten. Was war schiefgelaufen? Wäre es besser gewesen, sich beim Lunch mit Ky die Kritik an Chinas Methoden zu verkneifen? Jetzt waren ihre Beziehungen mit ihm definitiv gestört, ja kaputt. Während ihrer restlichen Zeit in Lhasa mussten sie vorsichtig agieren, um die Gastgeber nicht noch mehr zu reizen.

Am dritten Tag kehrten Lauri und Kalle in ihr Kloster zurück, um sich aufs Ohr zu legen. Das war allerdings kaum möglich, denn in den Zellen waren zwei Schweißer am Werke. Was ging da vor? In der Öffnung zu Kalles Klause entstand eine zweiteilige Tür mit Stahlgitter, und als der chinesische Handwerker schließlich ein schweres Schloss angebracht hatte, konnte sie in Betrieb genommen werden. Beide Finnen wurden in Kalles Klause geschoben, die Tür wurde zugeschlagen und verriegelt. Sie waren Gefangene in einem Kloster, in dem es keine Mönche, sondern Soldaten gab und aus dem ein Gefängnis geworden war.

Die Gittertür zu Lauris Zelle war ebenfalls rasch festgeschweißt, man holte ihn aus Kalles Zelle und schob ihn in seine eigene. Hinter ihm wurde abgeschlossen, beide Männer hatten ihre Freiheit eingebüßt. Zwar konnten sie noch miteinander kommunizieren, aber der Gang zur Toilette war nicht mehr möglich. Dafür musste jetzt ein Zinkeimer herhalten, der in der Ecke stand. In der anderen Ecke stand eine Kanne mit Wasser, mehr Annehmlichkeiten gab es nicht.

Obwohl beide Männer den ganzen Tag in der Stadt herumgelaufen waren und versucht hatten, die Gebetsmühle an den Mann zu bringen, wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Die Zellen waren stockdunkel, doch die Gittertüren waren zu ahnen, sie waren wie eine Mauer, die als unüberwindliches Hindernis den Weg nach draußen versperrte.

Kalle sagte, dass er plötzlich mit Sehnsucht an seine Ehefrau, überhaupt an Frauen denke.

»Geht mir auch so«, gestand Lauri. Er sah im Geiste Irma vor sich, nackt und sauber vom Saunabad. Sie lag auf dem Bett, das Haar auf dem Kopfkissen ausgebreitet, sie duftete frisch und lächelte einladend.

Kalle dachte an seine Frau Anita.

»Sie hat so herrliches, langes Haar, es reicht ihr bis auf die Schultern. Das Waschen und Kämmen macht bestimmt Mühe. Aber man kann so schön das Gesicht darin verstecken, ganz wie als Kind, wenn man sich in den Sträuchern verkroch.«

Nach den sehnsüchtigen Gedanken an die Ehefrau blieb den beiden noch der Versuch, zu beten und Rettung aus dieser Not zu erflehen. Als Lauri unlängst in lebensgefährlicher Situation im Finnischen Meerbusen hatte verweilen müssen, hatte er viel über religiöse Fragen und den Trost des Gebetes nachgedacht. Damals hatte es einen Anlass gegeben, und jetzt gab es ihn wieder: den Kampf ums nackte Überleben. Kalle, der trotz aller Unannehmlichkeiten weiter auf sein Schicksal vertraute, äußerte sich positiv, war zuversichtlich, dass man sie nicht zum Tode verurteilen und hinrichten würde. Immerhin waren sie Ausländer, stammten aus dem friedlichen Finnland.

Lauri erinnerte sich jedoch, dass die Chinesen schon mehrmals im Verlauf ihrer langen Geschichte Ausländer getötet hatten, und zwar zielgerichtet.

Kalle schaltete die Gebetsmühle ein und ließ sie eine hinduistische Andacht johlen, die den eingefleischten Lutheranern jedoch nicht viel sagte. Die beiden bekamen das Gefühl, dass sie keinen richtigen Glauben und keinen Draht nach oben besaßen, über den sie Hilfe erhoffen konnten. Sie befanden sich in China, genauer gesagt in Tibet, und zu allem Überfluss hinter Gittertüren.

In ihren engen Zellen murmelten die beiden Männer das allseits bekannte Abendgebet:

»Vater lass die Augen dein über meinem Bette sein …«  

Es erleichterte sie wenigstens ein bisschen, aber noch mehr besserte sich ihre Stimmung, als Lauri den Vorschlag machte, Kalle möge doch einen ganz neuen Glauben erfinden, da die gegenwärtigen Weltregionen und vor allem die Ideologien veraltet und purer Mist seien.

»Fang an nachzudenken, du bist doch Erfinder. Ich erschließe den Markt, wenn du die Religion fertig hast.«  

Kalle erklärte, dass die Entwicklung einer neuen Religion eine gewaltige Herausforderung sei, so etwas klappe nicht im Handumdrehen. Schließlich sei auch der christliche Glaube über mehrere Jahrtausende hinweg entwickelt worden. Ein gewöhnlicher finnischer Pfiffikus stoße eben auch an seine Grenzen.

Er erkundigte sich noch, ob er auch gleich einen neuen Gott erfinden müsse. Lauri fand, dass ihre gemeinsame Religion keine Götter brauchte. Die Götter der herrschenden Religionen waren Gestalten, die große Macht besaßen, rachsüchtig waren und schlimmste Leiden veranlassten. Sie waren auf dem besten Weg, den ganzen Erdball zu vernichten – sie führten die Menschheit zwar nicht in einen dritten Weltkrieg, aber doch auf jeden Fall in eine Ökokatastrophe.

»Ich muss meine grauen Zellen ein bisschen auf Touren bringen«, erklärte Kalle. Er betonte allerdings, dass es schwierig sei, eine Religion zu entwickeln, die ohne Gott auskommen würde.

»Aber ich habe in meinem Leben auch schon verrücktere Erfindungen gemacht.«