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Lauri hatte sich für die Reise das ins Finnische übersetzte Kochbuch Kulinarische Genüsse aus Indien eingepackt. Er schlug Kalle vor, gemeinsam ein kleines Restaurant zu gründen und darin indische Gerichte zu servieren. So würden sie sich das Reisegeld verdienen und hätten gleichzeitig Gelegenheit, Einheimische kennenzulernen. Kalle war von dem Gedanken sehr angetan und gestand, dass er schon immer von einem eigenen Restaurant geträumt habe, und die passende Gelegenheit sei anscheinend gekommen. Die beiden Freunde mieteten im Zentrum der Stadt ein kleines Lokal, das für den Zweck geeignet schien, und kauften das erforderliche Geschirr und die Küchengeräte.
Ganz so einfach war die Gründung einer gastronomischen Einrichtung in einem fremden Land allerdings nicht. Als Ausländer sahen sich Lauri und Kalle gezwungen, sich durch das Gestrüpp der komplizierten und verzweigten indischen Bürokratie zu kämpfen. Als Erstes mussten sie einen einheimischen Koch einstellen, der gleichzeitig als Strohmann fungierte und auf dessen Namen die Gaststätte offiziell eingetragen wurde. Und das war noch nicht alles. Beide Freunde mussten sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, mussten ihre Impfausweise und diverse andere Dokumente vorlegen. Die indische Gesundheitsbehörde verlangte außerdem von ihnen die Verpflichtung, in ihrer Gaststätte keine Kinder, keine Personen mit ernsten Erkrankungen und keine unsauberen Bettler zu beschäftigen. Die Gewerkschaften der Branche forderten die Angleichung der Löhne der Mitarbeiter an die geltenden Tarifverträge und die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen. Zu allem Überfluss mussten Lauri und Kalle auch noch versprechen, die Angestellten an ihrem Arbeitsplatz oder in den für sie gemieteten Dienstwohnungen nicht zu misshandeln.
Unfall- und Brandschutzversicherungen galt es abzuschließen, auch waren gesonderte Zeugnisse für die Hygiene der Küche und der Vorratskammer erforderlich. Über den Ausschank von Spirituosen wurde natürlich ein eigenes Protokoll angefertigt und unterzeichnet. Und schließlich mussten sich Lauri und Kalle sogar noch verpflichten, in ihrem Restaurant keine Prostitution zu erlauben oder jedenfalls an ihre Gäste keine Freudenmädchen zu vermitteln.
Bei all diesen Formalitäten ging so viel Geld für Bestechung drauf, dass der größte Teil vom Anfangsgewinn der Gaststätte für die Bereitstellung der Bestechungsgelder eingeplant werden musste.
Trotz der komplizierten Bürokratie nahm das finnischindische Restaurant seinen Betrieb auf und bot seinen Gästen gelben Kohlsalat an, der einfach herzustellen war und den die Gäste gern aßen. Der Salat entstand aus Frühkohl, kleinen grünen Chilis sowie aus Öl und Kurkuma. Der Kohl wurde in die Gewürzmischung hineingeschnipselt und heiß serviert.
Lauri spezialisierte sich darauf, scharfe Tigerkrabben zuzubereiten. Er marinierte sie einige Stunden in einem Sud, für den er Chili, Kurkuma, Garam Masala und Limettensaft verwendete. Wenn er die Krabben etwa drei Stunden im Kühlschrank kaltstellte, bekamen sie einen besonders feinen Geschmack.
Als Vorspeisen boten die finnischen Besitzer frittierte herzhafte Fisch- und Fleischhappen in einer Gewürzsoße an, die Chili- und Koriandermehl sowie Öl enthielt. Dazu gab es flache Brote und kleine Brötchen. Kalle lernte rasch, Fladenbrote zu backen, und die Gäste lobten sie und fanden, dass sie so knusperig und lecker schmeckten, als kämen sie aus einer indischen Bäckerei.
Den meisten Beifall fand der feierlich als Nachspeise servierte Möhrenauflauf. Außer Möhren waren dafür Vollmilch, Kardamom, Zucker, Butter, geröstete Mandeln und helle Rosinen erforderlich. Die geraspelten Möhren wurden im Ofen weichgegart, und dann wurden die Gewürze untergemischt. Die Delikatesse wurde mit geraspelten Mandeln, Rosinen und indischem Blattsilber garniert.
Das finnisch-indische Restaurant ermöglichte gute Gesprächskontakte mit den Einheimischen. Die Gäste erzählten Lauri und Kalle gern von den Verhältnissen in ihrem Land, von der Geschichte, der Gesellschaft und den Religionen, von der Lebensweise der Menschen und von ihren Traditionen.
Bald integrierten die beiden Konstrukteure der Gebetsmühle eine weitere Besonderheit der indischen Gesellschaft: die Institution des Gurus. Da die gewöhnlichen Menschen den Gurus, religiösen und gesellschaftlichen Autoritäten, nahezu blind vertrauten, beschlossen Lauri und Kalle, auf der Gebetsmühle auch Lehren der Gurus aufzunehmen. Die Zeit würde zeigen, ob das Gerät denselben Einfluss wie ein weiser indischer Guru erlangen könnte. Würde etwa die finnische Regierung künftig bei der Regelung nationaler Angelegenheiten die Gebetsmühle um Rat fragen? Dann würden sicher die Steuern sinken und die Arbeitslosigkeit zurückgehen, vermuteten Lauri und Kalle.
Die beiden lernten den Liberalismus der Hindus schätzen. Viele verschiedene Götter waren erlaubt, obwohl auch der Monotheismus seine Anhänger hatte. Und der Begründer des Hinduismus war nicht bekannt. Die Hindus glaubten ja an keinen Jesus, keinen Buddha, geschweige denn einen Mohammed.
Lauri und Kalle ergänzten das Repertoire der Gebetsmühle auch um die Hymnen und Mantras des Veda. Vielleicht würde das Gerät eines Tages in Finnland eine religiöse Revolution in Gang setzen. Mit welchen Folgen? Zumindest würde es wohl hoch hergehen. Im besten Falle würde sogar der finnische Erzbischof die Mühle um religiösen Rat fragen.
Da sie einmal damit angefangen hatten, speicherten sie gleich die Botschaften sämtlicher in Indien praktizierter Religionen, als da waren Islam, Jainaismus, Sikhismus, Zarathustraismus und Buddhismus. Der Apparat war wie ein Minitempel, jeder Interessent konnte die sonderbarsten Botschaften abrufen. Die Zeiten des Unglaubens waren damit endgültig vorbei, sagten sich die Besitzer des finnisch-indischen Restaurants zufrieden.
Da sie es nun so weit geschafft hatten, setzte sich Kalle in den Kopf, die Gebetsmühle unbedingt dem Dalai Lama vorzustellen, der aus seinem Heimatland Tibet hatte fliehen müssen, als die Chinesen es in den 1950er-Jahren besetzten und mithilfe der Armee die dortige Bevölkerung unterwarfen. Der Dalai Lama war keineswegs der einzige politische Flüchtling, unzählige Tibeter, größtenteils Mönche, waren nach Indien geflohen.
Ein Treffen mit dem Dalai Lama zu organisieren war kompliziert. Sein Sekretär teilte mit, dass der Terminkalender des geistlichen Oberhauptes Tibets bereits für Jahre im Voraus voll sei. Nur in Ausnahmefällen könne man Änderungen vornehmen.
Lauri, der das Telefonat führte, gab sich nicht so leicht geschlagen. Er erklärte, dass es darum gehe, das geistliche Oberhaupt der Tibeter eingehend über die neueste Entwicklung des Hinduismus zu informieren. Bei dem Treffen wollten sie, er und sein Mitstreiter, dem Dalai Lama ein hochmodernes religiöses Hilfsinstrument vorstellen, das sie mit ganz gewöhnlichen Hindus erprobt und mit dem sie ausgezeichnete Erfahrungen gemacht hatten. Der Dalai Lama hätte die einzigartige Gelegenheit, die moderne Andachtsmechanik kennenzulernen und darüber gegebenenfalls auch sein religiöses Urteil abzugeben.
Leider konnten diese Ankündigungen das Interesse des Dalai Lama nicht wecken. Sein Sekretär verwies auf den engen Zeitplan und erklärte, dass in zwei Jahren ein Treffen möglich wäre, sofern die Sache dann noch aktuell sei.
Kalle und Lauri planten eine neue Herangehensweise. Für die Vermarktung der Gebetsmühle wäre eine Sympathiebekundung des Dalai Lama unerlässlich, auch sonst wäre es großartig, einem der einflussreichsten religiösen Führer der Welt zu begegnen. Darauf durften sie nicht einfach verzichten.
In der nächsten Nacht ersann Kalle eine, wie er fand, ausgezeichnete Methode, an den Dalai Lama heranzukommen. Gleich morgens beim Frühstück eröffnete er Lauri seine Idee. Möglicherweise könnten sie über die Chinesen eine Zusammenarbeit mit dem Dalai Lama erreichen.
»Was?«, rief Lauri verblüfft. Gerade die Chinesen hatten ja den Dalai Lama ins Exil getrieben und sein Reich besetzt, hatten die Tibeter ins Gefängnis gesteckt oder zur Zwangsarbeit verdonnert, hatten wer weiß wie viele der armen Menschen im Laufe der Jahre umgebracht.
Kalle schenkte seinem Freund Tee ein und erzählte ihm dann Einzelheiten. Sie würden mit der chinesischen Botschaft in Neu Delhi Kontakt aufnehmen und den dortigen Beamten die Idee einer Bahnfahrt von Peking bis in Tibets Hauptstadt Lhasa schmackhaft machen. Jene tausend Kilometer lange Bahnstrecke war unlängst in Betrieb genommen worden. Damit existierte eine gute Verkehrsverbindung zwischen Tibet und dem Mutterland China. Aus Sicht der Chinesen würde das Tibets endgültige Verschmelzung mit China besiegeln und damit das Ende des ganzen langen Konfliktes.
Die beiden Freunde besprachen die praktische Umsetzung des Vorhabens. Zunächst galt es, die chinesischen Behörden zu kontaktieren, sich um eine Audienz in der chinesischen Botschaft in Neu Delhi zu bemühen. Dann müssten sie sich die Visa beschaffen. Kalle hatte bereits eine Idee, mit welcher Begründung sie das Visum beantragen würden. Sie würden in der Botschaft angeben, dass sie mit dem neuen, modernen Zug von Peking nach Lhasa reisen und anschließend ein Buch darüber schreiben wollten, das auch Fotos enthalten solle. Ein berühmter britischer Verlag würde das Buch publizieren und es international vertreiben.
»Ich kann mir vorstellen, dass dieses Projekt den Chinesen gefällt«, freute sich Kalle.
Lauri bestätigte, dass es an sich ein guter Gedanke war, ein Buch zu schreiben, aber hatte Kalle darüber nachgedacht, wer von ihnen den Text verfassen sollte und ob der dann wirklich für eine weltweite Verbreitung geeignet sein würde? Er schimpfte Kalle einen Einfaltspinsel. Buchtexte schüttelte man nicht einfach so aus dem Ärmel, Literatur zu schreiben war schließlich nicht dasselbe, wie Erde umzugraben oder den Fußboden zu wischen.
Diese Zweifel prallten an Kalle ab. Über ein so klar umrissenes Thema könnte jedermann ein Buch fabrizieren, das würde nur ein paar Wochen Arbeit kosten. Natürlich wäre es gut, vorher tatsächlich von Peking nach Lhasa zu reisen. Falls Lauri den Text schreiben würde, könnte er, Kalle, unterwegs die erforderlichen Fotos knipsen. Er hatte sowieso eine geeignete kleine Taschenkamera bei sich.
Lauri fand Kalles Pläne schwindelerregend. Andererseits, was hinderte sie daran, das Ganze auszuprobieren? Und so entwarf er noch am selben Tag in seinem Hotelzimmer englischsprachige Inhaltsangaben für drei Eisenbahnbücher. Das erste war ein Reisebericht über die neue Trasse Peking–Lhasa, eine Strecke von tausend Kilometern, beginnend in Peking und dann weiter durchs chinesische Hochland bis in die Hauptstadt Tibets. Lauri fand inzwischen selbst, dass man diese Reise unbedingt machen und ein Buch darüber schreiben müsste. Und das Beste: Es sollte ein Bildband werden. Von Kalles Fotokünsten war Lauri zwar nicht recht überzeugt, aber er selbst hatte schließlich auch noch nie einen Buchtext geschrieben, sodass sie also beide zu lernen haben würden.
Einmal in Fahrt gekommen, dachte sich Lauri gleich noch zwei weitere Projekte aus. Er schrieb außerdem einen Entwurf für ein Buch, das die legendäre Fahrt im Orient-Express von London nach Istanbul zum Thema haben sollte. Darüber hatte ja schon Agatha Christie ihren populären Kriminalroman geschrieben, aber was hinderte sie beide daran, über dasselbe Thema einen neuen und vielleicht sogar besseren Bericht zu verfassen?
Und noch eine dritte Buchidee entwickelte er: Diese längste Bahnfahrt würde in Helsinki beginnen und in Wladiwostok, im fernen Ostasien, enden. Lauri bestimmte mithilfe des Weltatlasses, dass die Strecke zehntausend Kilometer lang, wenn nicht sogar noch länger war. Spätabends ließ er sich seine Entwürfe an der Hotelrezeption ausdrucken und gab sie Kalle zu lesen. Der war überzeugt, dass die Chinesen solch produktiven Reiseschriftstellern gern die Visa nicht nur für Peking, sondern auch für Lhasa erteilen würden.
Vor dem Schlafengehen vereinbarten sie, dass sie, vorausgesetzt sie bekämen die Visa und könnten die Reise antreten, auf jeden Fall Lauris Buchprojekte realisieren würden. Das erste Werk würde bereits nach einem Jahr erscheinen, die beiden anderen jeweils im Abstand von einem weiteren Jahr. Sie hatten somit drei Jahre Arbeit vor sich, interessant und in vielerlei Hinsicht spannend.
Die Aktualisierung der Gebetsmühle und der Bau eines neuen Prototyps nahmen nur eine Woche in Anspruch. Die früheren Zeichnungen und die neueren Entwürfe machten die Sache einfach. In Neu Delhis größter Maschinenfabrik, die zu der Werkstattkette gehörte, war die Version II in zwei Tagen montiert. Lauri errechnete, dass, falls für die Gebetsmühle ein Miniaufnahmegerät und ein Handy von Nokia verwendet würden, dem finnischen Elektronikriesen ein millionenfacher Absatz dieser Produkte garantiert wäre.
Kalle plante die Herstellung der Mühlen nach herkömmlicher Fließbandmethode, im Prinzip jener, mit der seinerzeit auch der Ford produziert worden war. Die Produktion konnte seiner Meinung nach in Finnland angesiedelt werden, sodass man weder in Indien noch in China eine entsprechende Fabrik zu errichten brauchte. Die Frachtkosten von Nordeuropa nach Asien wären niedrig, denn die Geräte waren klein, in einen Karton von einem Kubikmeter würden Hunderte Exemplare passen. Man könnte sie aus dem Herstellungsland per Luftfracht verschicken. Kalle vermutete, dass Air France das zu günstigen Konditionen übernehmen würde.
Als der neue Prototyp fertig war, bemühte sich Lauri um Kontakt zur chinesischen Botschaft. Erst beim zweiten Anlauf klappte es, und er bekam gleich für den nächsten Tag einen Termin. Die Entwürfe für die neuen Bücher wurden kontrolliert, die neue Mühle wurde poliert und das Aufnahmegerät ausprobiert. Zwei indische Filmschauspieler sprachen, außer Hindu-Versen und frommen Sprüchen, auch entsprechende islamische und buddhistische Texte aufs Band. Kalle und Lauri waren überzeugt, dass ihnen nach diesen Vorbereitungen die Visa von der chinesischen Botschaft sicher wären. Sie würden mit ihrer Gebetsmühle nach Peking fliegen und dort die lange Reise nach Lhasa antreten, unterwegs fotografieren und sich Notizen machen. Nach ihrer Rückkehr aus Tibet würde bestimmt auch das Treffen mit dem Dalai Lama zustande kommen, schließlich hätten sie dann neueste Informationen aus seiner ehemaligen Hauptstadt im Gepäck. Außerdem könnten sie ihm eine Kopie des Manuskripts für den Bildband einschließlich der Fotos überreichen. Als Gegengeschenk würde er, so glaubten sie, ihnen bei der Vermarktung der Gebetsmühle in China, Indien oder sogar Japan helfen.
»Die Maschine macht’s möglich«, sinnierte Lauri und tippte auf dem Taschenrechner herum. Zwei, drei Millionen verkaufter Gebetsmühlen würden ihn und Kalle reich, religiös und glücklich machen.