KAPITEL 22
Jagr blieb allein in der Blockhütte zurück und dachte kurz über seine Optionen nach.
Er konnte sich immer noch zu Tane gesellen, der sich auf Salvatores Fährte befand.
Die Mühelosigkeit, die Caine bei der Entführung von Salvatore, einem Rassewolf mit großer Kraft, an den Tag gelegt hatte, bewies, dass die Wolfstöle (oder wer zum Teufel auch immer hinter dieser neuesten Katastrophe stecken mochte) ein gefährlicher Gegner war. Und wer zum Teufel wusste, welchen Schaden die unbekannte Dämonin anrichten konnte?
Unglücklicherweise wusste Jagr, dass Tane recht hatte.
In diesem Augenblick war er nicht in der Lage, sich auf die Jagd zu konzentrieren.
Nicht, wenn seine Emotionen labil waren und sich seine Gedanken nur um Regan drehten.
Es war demütigend, aber wahr.
Seine einzige andere Option bestand darin, zu Tanes Versteck zurückzukehren.
Es war viel zu spät, um die Reise nach Chicago anzutreten, bevor der Morgen anbrach. Und wenn er ganz ehrlich war, war er nicht darauf vorbereitet, vor Styx zu erscheinen und seinen neuesten Bericht abzuliefern.
Nicht, wenn Regan zwangsläufig dort sein musste.
Wenn ihm ihr Duft in die Nase stiege, gäbe es nichts mehr, was ihn davon abhielte, sie sich über die Schulter zu werfen und sie in sein Versteck zu schleppen, ob es ihr nun gefiel oder nicht.
Und das versuchte er zu vermeiden.
Darüber hinaus war er zu Tode erschöpft.
Er benötigte Ruhe und Nahrung.
Als er diese Entscheidung getroffen hatte, machte sich Jagr auf den Rückweg zu Tanes entlegenem Versteck, sorgsam darauf bedacht, ein Zimmer zu wählen, das weit von dem entfernt lag, das er mit Regan geteilt hatte. Die schmerzende Leere war bereits schlimm genug, auch wenn er nicht von den lebhaften Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit umgeben war.
Jagr zwang sich, Nahrung zu sich zu nehmen, erduldete die besorgten Fragen von Tanes Bediensteten und schaffte es, einige Stunden zu ruhen.
Als die Sonne schließlich wieder unterging, durchmaß er ungeduldig den Raum mit seinen Schritten, und sobald er es als sicher erachtete, eilte er aus dem Versteck und machte sich auf den Weg nach Chicago.
Glücklicherweise verlief die Reise ohne besondere Zwischenfälle. Jagr begab sich sofort zu Styx’ riesiger Villa nördlich der Stadt und wurde ins Privatbüro des Anasso geführt.
Nun saß er auf einem niedrigen Ledersofa und beobachtete, wie Styx von dem einen Ende des von Büchern gesäumten Zimmers zum anderen schritt.
»Verdammt. Diese Wolfstölen beginnen mir auf die Nerven zu gehen«, murmelte der hoch aufragende Azteke, als Jagr seinen Bericht beendet hatte. Er wirkte zwischen dem glänzenden Mahagonimobiliar und dem empfindlichen Perserteppich eindeutig fehl am Platze. Ein zwei Meter großer, in Leder gekleideter Elefant im Porzellanladen. »Jemand muss ihre Felle an die Wand nageln.«
Jagr verzog die Lippen, als er darüber nachdachte, wie Salvatore wohl auf seine Entführung reagieren würde. Der stolze Werwolf war zweifelsohne bereit, den Wolfstölen den Völkermord zu erklären.
»Ich nehme an, Ihr steht mit Eurem Willen, einige Wolfstölenfelle an die Wand zu nageln, nicht allein da«, meinte er trocken. »Unglücklicherweise scheinen sie uns stets einen Schritt voraus zu sein.«
Styx gab einen angewiderten Laut von sich und ballte die Hände zu Fäusten, als wünsche er sich, zu einer Waffe greifen zu können.
»Konntet Ihr wahrnehmen, wie schwer Salvatore verletzt war?«
Jagr zuckte mit den Schultern. »Nicht so schwer, dass eine läppische Wolfstöle ihn hätte bezwingen können.«
»War Magie im Spiel?«
»Tane konnte eine Dämonin spüren, doch er konnte keine Spezies bestimmen. Womöglich verfügt sie über magische Fähigkeiten. «
Styx blieb neben seinem riesigen Schreibtisch stehen, die Stirn von Frustration zerfurcht.
»Mir gefällt das nicht. Tane könnte auf dem Weg in eine Falle sein.«
»Wenn Ihr wünscht, kehre ich zurück und …«
»Nein, Ihr habt genug getan, mein Bruder«, unterbrach ihn Styx. »Ich werde Kontakt zu Tane aufnehmen, obgleich ich ebenso gut meinen Kopf gegen eine Mauer rammen könnte, wie den Versuch zu unternehmen, ihn zu überzeugen, dass er nach Hannibal zurückkehrt. Dieser Vampir erschreckt selbst mich, wenn er sich auf der Jagd befindet.«
Daran zweifelte Jagr nicht.Tane verfügte über eine Intensität, die jedem Angst einjagen würde.
»Ich nehme an, genau aus diesem Grunde wähltet Ihr ihn als Charon aus.«
»Das war einer der Gründe.«
Jagr grimassierte. »Ich denke nicht, dass ich die anderen wissen möchte.«
»Eine weise Entscheidung.« Styx verschränkte die Arme vor der Brust. »Gab es kein Lebenszeichen von Levet?«
Erstaunlicherweise spürte Jagr leichte Gewissensbisse, weil der lästige Gargyle verschwunden war. Eilig versicherte er sich selbst, dass es ihm eigentlich gleichgültig wäre, wenn diese Bestie tot wäre. Es konnte doch wohl nicht sein, dass er dermaßen schwachköpfig geworden war. Er konnte lediglich den Gedanken nicht ertragen, dass Regan um einen ihrer wenigen Freunde trauerte.
»Wir wissen, dass er die Blockhütte betrat und nicht wieder herauskam«, gestand er.
Styx lehnte sich mit erschöpftem Gesichtsausdruck gegen seinen Schreibtisch. »Verdammt, darüber wird Darcy nicht glücklich sein. Ich habe nicht nur die Fährte ihrer Schwester verloren, sondern jetzt ist auch noch dieser lächerliche Gargyle verschwunden.Weshalb sie diesem lästigen Granitbrocken dermaßen zugetan ist, verstößt gegen jede Logik, doch andererseits ist sie eine Frau. Man kann sich nur selten einen Reim auf sie machen.«
Jagr schnaubte. Wie hieß die neueste Redensart? Offene Türen einrennen?
»Ihr werdet von mir keinen Widerspruch hören«, murmelte er.
»Nein, das habe ich auch nicht angenommen.« Styx hielt inne, und sein Blick war enervierend aufmerksam. »Regan ist hier.«
Jagr umklammerte die Armlehnen seines Sessels, bis das Holz unter dem Druck zu splittern drohte.
Es war nicht nötig, dass Styx ihn auf Regans Anwesenheit aufmerksam machte. Er hatte sie wie einen Schlag in die Magengrube gespürt, sobald er die sanft ansteigende Parklandschaft betreten hatte, von der die Villa umgeben war.
Glücklicherweise war das große Büro mit einem Zauber belegt, um ihnen Privatsphäre zu ermöglichen. Somit war der vertraute Duft von Mitternachtsjasmin so weit gedämpft, dass die heftige Sehnsucht gelindert wurde, die ihn quälte.
»Das weiß ich.« Er wandte den Kopf, um die in Leder gebundenen Bücher anzustarren, mit denen die Regale gefüllt waren. Er konnte es nicht ertragen, das Mitgefühl in Styx’ Augen zu sehen. »Geht es … ihr gut?«
»Ihr Körper heilt«, antwortete Styx langsam. »Ihre Seele …«
Jagr war nicht imstande, seine große Besorgnis zu unterdrücken. Er blickte Styx beunruhigt an.
»Stimmt etwas nicht?«
Styx zog an dem uralten Medaillon, das ihm um den Hals hing. Das war ein deutliches Anzeichen dafür, dass er besorgt war.
»Ich mag ja nicht Vipers Talent besitzen, in den Seelen anderer zu lesen, doch ich weiß, dass Regan eine Bürde mit sich herumträgt, die ihr Herz verdüstert.«
Jagr bemühte sich, nicht zu überreagieren.
Wirklich schlimme Dinge pflegten zu geschehen, wenn er überreagierte.
»Sie kommt geradewegs aus der Hölle. Sie benötigt Zeit zur Heilung.«
»Sich von denjenigen zurückzuziehen, die ihr helfen wollen, ist der Heilung nicht zuträglich«, knurrte Styx, eindeutig verärgert, dass Regan ihre neue Familie nicht mit der Begeisterung begrüßte, auf die er gehofft hatte. »Ich hätte es wissen sollen. Ich verbrachte Jahrhunderte damit, in Einsamkeit und Elend umherzuirren. Erst als der frühere Anasso mich als seinen Diener einstellte, konnte ich die Grausamkeit meiner Vergangenheit akzeptieren und beginnen, über meine Zukunft nachzudenken. «
Obgleich Jagr Styx noch niemals über seine Vergangenheit hatte sprechen hören, war der Anasso alt genug, um das Chaos und die Gewalt erlebt zu haben, die in alter Zeit unter den Vampiren verbreitet gewesen war. Damals hatte ein neugeborener Vampir kaum mehr als einige wenige Jahre überlebt.
Styx widmete sein Leben der Aufgabe, das zu ändern.
Jagr erhob sich langsam. Er war erschöpft und benötigte den Frieden seines Verstecks.
»Aber wer weiß schon, ob Ihr darauf vorbereitet gewesen wäret, Euch dem Anasso anzuschließen, wenn er früher an Euch herangetreten wäre?«, fragte er mit einem schiefen Lächeln. »Vielleicht war unser Herrscher weise genug zu warten, bis Ihr die Stellung als sein Auserwählter annehmen konntet.«
Styx wölbte eine Braue. »Dabei behauptete Viper, Ihr habet nichts weiter zu bieten als Euer gutes Aussehen. Offensichtlich waren all diese Jahre wissenschaftlicher Forschung nicht vollkommen vergeudet.«
Jagrs scharfes Gelächter hallte durch den Raum. »Ich würde keine übereilten Schlüsse ziehen. Ich kann bemerkenswert unverständig sein, wenn ich mich bemühe.«
Styx trat ihm direkt gegenüber. »Was werdet Ihr nun tun?«
»In den nächsten Augenblicken – oder mit dem Rest meiner Existenz?«
Styx ließ sein seltenes Lächeln aufblitzen. »Ihr seid heute Nacht in einer philosophischen Stimmung.«
»Das liegt wohl am Ambiente.«
»Götter, erinnert mich nicht daran.« Styx erschauderte, als er einen angewiderten Blick auf die prunkvolle, elegante Einrichtung warf, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Jagr zuwandte. »Kehrt Ihr in Euer Versteck zurück?«
»Vorerst ja.«
»Es besteht keine Notwendigkeit für Euch, allein zu sein, wisst Ihr. Viper meldete sich vorhin mit einer Einladung für Euch, ihm und Shay Gesellschaft zu leisten. Und natürlich seid Ihr auch hier stets willkommen.«
Jagr kniff die Augen zusammen, als er die leise Stimme vernahm, die in einem beinahe gebieterischen Ton mit ihm sprach. Weshalb zum Teufel sollte es Styx kümmern, wo er sich aufhielt? Gott wusste, er war jahrelang in seinem Versteck in Ruhe gelassen worden, ohne dass …
Wie ein Blitzschlag traf ihn die Erkenntnis, und Jagr versteifte sich beschämt.
»Ah, Regan erzählte Euch von meinem Anfall von Wahnsinn«, stieß er hervor. »Fürchtet Ihr, ich könne Chicago verwüsten? «
Styx ließ einen kleinen Teil seiner Macht über Jagr strömen. Das Energieprickeln erinnerte ihn schmerzhaft an die Stärke des Anasso.
»Wenn ich befürchtete, Ihr seiet wahnsinnig, dann würdet Ihr in eine Zelle gesperrt werden, und nicht in dem Versteck, das ich mit meiner Gefährtin teile, meinen feinsten Brandy nippen.« So schnell, wie die Bestrafung begonnen hatte, wurde sie auch beendet, und Styx legte Jagr eine Hand auf die Schulter. »Meine einzige Sorge gilt Eurem Glück, mein Bruder.«
Jagr schüttelte den Kopf und wandte sich von dem beunruhigenden Mitleid ab, das dem anderen Vampir so deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
Verdammt.Vor wenigen Wochen noch war er ein fast vergessener Vampir gewesen, der unter den Straßen von Chicago lebte. Ein exzentrischer Einzelgänger, der einen so schlechten Ruf hatte, dass er andere fernhielt.
Und genau das hatte ihm gefallen.
Doch dann war er ohne Vorwarnung und unter Protest in eine Welt gezerrt worden, die Clanbrüder, Vampirpolitik und eine wunderschöne Werwölfin enthalten hatte, welche seiner eingefrorenen Seele wieder Leben eingehaucht hatte.
Er war sich nicht sicher, ob er Styx einen Pfahl ins Herz treiben oder auf die Knie fallen und ihm danken sollte.
Vielleicht beides.
»Ich benötige … Abstand«, gestand er schließlich.
»Von Regan?«
»Ja.«
Ein langes Schweigen folgte, dann begab sich Styx zu seinem Drehstuhl und nahm hinter dem Schreibtisch Platz.
»Ihr könntet Chicago verlassen, wenn Ihr das möchtet«, sagte er ruhig.
»Nicht, ohne mit jedem Clanchef kämpfen zu müssen, dessen Territorium ich betrete. Aus diesem Grunde trat ich überhaupt erst an Viper heran.«
»Als einer meiner Raben könntet Ihr die Welt bereisen, ohne fürchten zu müssen, von anderen Vampiren herausgefordert zu werden.«
Jagr fuhr herum und begegnete Styx’ ruhigem Blick mit unverhohlenem Schock.
Heilige Hölle. Das hatte er nicht erwartet.
»Ein Rabe?«
Styx lehnte sich zurück und faltete die Finger unter dem Kinn, während er in Jagrs Gesicht forschte.
»Nur sehr selten finde ich einen Krieger mit Eurem Geschick und Eurer Loyalität. In diesem Falle bin ich klug genug, darauf zu bestehen, ihn in meine Dienste aufzunehmen.«
»Loyalität?« Jagr schüttelte den Kopf und fragte sich, ob dieser Mann an Demenz litt.Wie sonst hätte ein normalerweise so intelligenter Vampir auf den Gedanken kommen können, ein dermaßen gefährliches Angebot zu machen? »Falls Ihr es vergessen haben solltet – ich befolge keine Befehle.«
»Loyalität unterscheidet sich von blindem Gehorsam«, konterte Styx. »Oftmals sende ich meine Raben aus, damit sie heikle Aufgaben erfüllen. Ich benötige Soldaten, die in der Lage sind, eigenständig zu denken und Entscheidungen zu treffen, wenn sie keinen Kontakt zu mir aufnehmen können.«
Jagr schnaubte. »Ich bin so feinfühlig wie ein Kriegshammer. «
»Manchmal ist für eine Aufgabe ein Rapier nötig, bisweilen aber auch ein Kriegshammer.« Styx klopfte mit den Fingern auf die glänzende Oberfläche des Schreibtisches. »Es ist meine Aufgabe zu bestimmen, welche Waffe benötigt wird.«
»Und was ist mit meinen Anfällen von Wahnsinn?«, verlangte Jagr zu wissen. »Sie ereignen sich selten, doch …«
»Sie unterscheiden sich nicht von jedem anderen Kampf gegen Dämonen«, setzte sich Styx über sein Argument hinweg.
Jagr schüttelte den Kopf.
Ein Rabe. Ein Teil von ihm wollte über die reine Absurdität des Angebotes lachen.
Er war ein halbwilder Vampir, der seine ersten Jahrhunderte damit verbracht hatte, diejenigen zu hassen, die ihn gefoltert hatten, und die letzten Jahrhunderte damit, die Bestie zu hassen, zu der er geworden war.
Nun bot ihm der König der Vampire eine Position an, die in der Dämonenwelt höchste Achtung genoss.
Wie ironisch.
Aber ein anderer Teil von ihm, der Teil, den er sogar vor sich selbst verborgen gehalten hatte, bis Regan in sein Leben getreten war, war sonderbar in Versuchung durch dieses Angebot.
Er war stets auf seine Studien angewiesen gewesen, um seinem Leben einen Sinn zu verleihen. Wissen zu erlangen war nicht nur faszinierend, sondern auch so eine gefährliche Waffe wie sein Schwert oder seine Dolche.
Außerdem konnte er in seiner riesigen Bibliothek Ruhe und Frieden finden. Und natürlich als Bonus das Wissen, dass seine Bücher nicht versuchen würden, ihn zu töten.
Nun jedoch konnte er nicht anders, als sich zu fragen, ob es an der Zeit war, seinem selbst auferlegten Exil ein Ende zu setzen.
Ohne ungebührliche Eitelkeit wusste er, dass er einer der mächtigsten Vampire war, die auf Erden wandelten. Und seine umfassenden Studien verliehen ihm Einblicke sowohl in die menschliche als auch die dämonische Welt, die nur wenige besaßen.
Diese Fertigkeiten würden dem Anasso von großem Nutzen sein.
Noch wichtiger war jedoch, dass ein Rabe zu werden ihm die Gelegenheit geben würde, seinen Verstand mit etwas anderem zu beschäftigen, als die Abwesenheit seiner Gefährtin zu betrauern.
Als spüre er Jagrs widerstreitende Gefühle, erhob sich Styx von seinem Stuhl und umrundete den Schreibtisch, um direkt vor Jagr zu treten.
»Antwortet mir nicht jetzt. Nehmt Euch Zeit, um das Angebot zu überdenken«, befahl er. »Es wird immer auf Euch warten. «
»Ich danke Euch, Mylord.« Jagr neigte den Kopf. »Ich sollte gehen.«
»Natürlich, Ihr müsst bestrebt sein, in Euer Versteck zurückzukehren. « Styx wartete ab, bis Jagr die Tür erreicht hatte, und räusperte sich. »Seid gewarnt, dass Viper in Eure Privatsphäre eindringen wird, gemeinsam mit Dante und Cezar.«
Jagr warf mit gerunzelter Stirn einen Blick über die Schulter. »Weshalb?«
Styx zuckte die Achseln. »Weil sie aufdringliche Glucken sind.«
»Großartig.«
Da er wusste, dass der Anasso nichts unternehmen würde, um ihn vor der bevorstehenden Störung durch seine Brüder zu bewahren, verließ Jagr das Büro und nahm augenblicklich den starken Jasminduft wahr.
Augenblicklich verlängerten sich seine Fangzähne, und seine Muskeln verkrampften sich vor verzweifeltem, schmerzhaftem Verlangen.
Verdammt.
Er musste dieses Haus unbedingt sofort verlassen.
Regan wusste augenblicklich, dass Jagr das Haus betreten hatte.
Das war wirklich erstaunlich, wenn man bedachte, dass sie kilometerweit weg (wenigstens schien es ihr wie mehrere Kilometer), in einem Schlafzimmer im anderen Flügel der Villa kurz vor dem Einschlafen gestanden hatte.
Vielleicht war es aber auch nicht ganz so erstaunlich, dachte sie sarkastisch, als sie eine verblichene Jeans und ein gelbes T-Shirt anzog.
Schließlich waren es nicht der Klang seiner Stimme oder sein erotischer Duft, die sie aus ihrem leichten Schlaf geweckt hatten. Nein, es war die kühle Strömung der Macht, von der die ganze Villa erfüllt war, die dafür gesorgt hatte, dass sie sich hastig anzog und durch die stillen Korridore eilte.
Es musste Jagr sein.
Regan rannte die lange Treppe hinunter, nur um zu erkennen, dass Jagr in Styx’ Privatbüro verschwunden war. Sie murmelte einen Fluch vor sich hin und ließ sich auf die letzte Stufe plumpsen, bereit, die ganze Nacht zu warten, wenn es nötig sein sollte.
Warum sie überhaupt bereit war zu warten, das war eine Frage, die ihr Sorgen hätte bereiten sollen.
Zum Glück entwickelte sie großes Talent zum Selbstbetrug. Sie sagte sich selbst, dass sie einfach bestrebt war zu erfahren, ob er irgendetwas über ihre verschollene Schwester herausgefunden hatte, kaute auf ihrem Daumennagel herum und tat so, als ob ihr Herz ihr nicht bis zum Hals schlüge.
Ihr misshandelter Nagel war fast völlig verschwunden, als sich endlich die Tür zum Büro öffnete und Jagr herauskam. Hinter dem geschnitzten Eichentreppengeländer versteckt, hatte Regan das Gefühl, ihr sei der Atem aus den Lungen getrieben worden.
Musste er denn so verdammt schön sein?
Sie rang nach Luft und ließ die blassen, fein gemeißelten Gesichtszüge und das goldene Haar auf sich wirken, das zu einem langen Zopf zusammengefasst war.
Schön, aber so beängstigend gefährlich.
Auf mehr als eine Art.
So versunken in ihren schmerzhaften, verwirrenden Emotionen, wie sie war, dauerte es einen Moment, bis Regan merkte, dass Jagr direkt auf den Hintereingang zusteuerte.
Dieser nervende Idiot!
Er musste doch wissen, dass sie direkt hinter ihm war.
Verdammt, wahrscheinlich müsste er nur die Augen schließen und könnte sie aus hundert Kilometern Entfernung mit einem Pfeil treffen.
Und das bedeutete, dass er sie absichtlich ignorierte.
Und warum sollte er das auch nicht tun?, flüsterte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf.
Er war ein stolzer, wunderbarer Vampir, der ihr sein Herz zu Füßen gelegt hatte. Sie dagegen war eine völlig neurotische Werwölfin, die in Panik ausbrach.
Sie konnte ihm keinen Vorwurf machen, wenn er sie nie wiedersehen wollte.
Natürlich hielt sie das nicht davon ab, hinter seiner im Rückzug befindlichen Gestalt herzustürmen.
Wirklich völlig neurotisch.
»Jagr, warte!«
Bei ihrem sanften Ruf hielt er an, die Schultern steif, als ob er gegen das Bedürfnis ankämpfte weiterzugehen.
Dann drehte er sich mit deutlichem Widerstreben um, um sie anzusehen.
»Regan.« Sein Gesichtsausdruck war so kalt und reserviert wie seine Stimme. »Wie fühlst du dich?«
Sie holte schmerzerfüllt Luft. Es wäre ihr wirklich lieber, wenn er sie schlüge, als wenn er sie behandelte, als ob sie eine Fremde wäre.
»Mir geht es gut«, brachte sie heiser hervor. »Bist du gerade aus Hannibal gekommen?«
»Ja.«
Klar und deutlich. Sachbezogen.
Gefühllos.
Regan leckte sich ihre trockenen Lippen. Ihr drehte sich vor Erschütterung und Bedauern der Magen um.
»Hast du irgendwas über meine Schwester rausgefunden?«
»Nein. Es tut mir leid.« Die hellen Augen wurden dunkler vor Enttäuschung. »Salvatore ist verschwunden, gemeinsam mit Levet.«
»Verdammt.« Regan verkrampfte sich erschrocken und vergaß vorübergehend ihre eigenen Probleme. »Hat Duncan sie verraten?«
»Ich bezweifle es. Duncan war tot, als wir die Blockhütte fanden, in der ihre Zusammenkunft stattfinden sollte.«
Regan presste eine Hand auf ihr Herz. Es war schlimm genug, dass die Wolfstöle tot war und der mächtige Salvatore vermisst wurde, aber der arme Levet …
Gott, sie hätte nie darauf bestehen sollen, dass er Duncan zu diesem verdammten Treffen begleitete.
Anscheinend konnte sie in letzter Zeit gar nichts tun, ohne es zu verpfuschen.
Die Pfusch-Königin.
Sie sollte eine Tiara und eine Schärpe tragen.
»Es muss Caine sein«, murmelte sie.
»Das nehmen wir ebenfalls an.«
»Diesem Scheißkerl sollte mal jemand in den Arsch treten!«
Jagr zuckte mit den Schultern, und sie sah das Spiel seiner harten Muskeln unter dem eng anliegenden schwarzen T-Shirt.
Wow. Er war einfach zum Anbeißen.
Sie bekam einen ganz trockenen Mund.
»Ich denke, es ist Styx’ Absicht, sein Fell an die Wand zu nageln. «
»Das dürfte funktionieren.«
»Tane ist ihm auf der Spur. Ich bin mir sicher, dass er es Styx wissen lässt, sobald er etwas entdeckt.« Mit einem steifen Nicken wandte sich Jagr wieder zur Tür.
Lass ihn gehen, lass ihn gehen, lass ihn gehen …
»Gehst du?« Die Worte übergingen ihr Gehirn und sprudelten ihr über die Lippen.
Erneut blieb er widerwillig stehen und drehte sich um. »Ich besitze mein eigenes Versteck. Zumindest war dies noch vor einiger Zeit der Fall.« Ganz unvermittelt kräuselte ein kleines Lächeln seine Lippen, und Regans Herz fing heftig an zu pochen. »Womöglich haben die Ratten die Herrschaft übernommen, während ich abwesend war.«
Zögernd ging sie auf ihn zu, wobei sie fürchtete, er könnte in die Nacht verschwinden, wenn sie ihn zu sehr drängte.
»Das würden die sich nicht trauen.«
Er hob eine goldene Braue. »Offensichtlich kennst du die in Chicago beheimateten Ratten nicht. Sie fürchten keinen Dämon. «
»Vielleicht keinen Dämon, aber jedes Wesen fürchtet sich vor übergroßen Westgotenhäuptlingen.«
Jagrs Blick glitt bedächtig über Regans bleiches Gesicht und blieb an den dunklen Schatten unter ihren Augen hängen.
»Nicht jedes Wesen.«
»Na ja, ich war noch nie so schlau. Wenn ich ein Gehirn hätte, hätte ich zweifellos Angst.«
Der umwerfende blaue Blick senkte sich zu ihren Lippen, und Jagr spannte den Kiefer an, als ob er Schmerzen hätte.
»Ich sollte gehen.«
Regan hob die Hand, um ihn zu berühren, ließ sie aber hastig wieder fallen, als er abrupt einen Schritt nach hinten machte.
»Kommst du wieder?«
»Nur, wenn Styx mir befiehlt herzukommen.«
Sie schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter. »Oh.«
Eine angespannte, verlegene Stille entstand, die in Regan den Wunsch entstehen ließ, ihren Kopf gegen die Wand zu knallen.
Bis heute Nacht hatte sie immer eine Menge Dinge gefühlt, wenn Jagr in ihrer Nähe war.
Wut, Frustration, glühende Leidenschaft und Zärtlichkeit, die ihr Herz zum Schmelzen brachte.
Kein einziges Mal Verlegenheit.
Was zum Teufel hatte sie getan?
Langsam hob er den Blick und hielt ihren fest. »Beabsichtigst du hier zu bleiben?«
»Nein. Ich …« Sie zuckte hilflos mit den Schultern, nicht imstande, die dumme Panik zu erklären, die sie jedes Mal überfiel, wenn Darcy versuchte, sie tiefer in ihren trauten Clan hineinzuziehen. »Nein.«
»Wohin wirst du gehen?«
Trotz all ihrer Entschlossenheit zu verschwinden hatte sie bemerkenswert wenig über die lästigen kleinen Details nachgedacht.
»Ich kann nicht weit weggehen. Wenigstens nicht, bis ich einen Job gefunden und etwas Geld verdient habe.«
Jagr zog die Augenbrauen zusammen. Regan stellte fest, dass sie erbärmlicherweise erfreut über seine erste echte Gefühlsbezeigung war.
»Du brauchst nicht zu arbeiten …«
»Darcy hat mir schon Geld angeboten«, kam sie hastig seinem Angebot zuvor
»Und du lehntest es ab.«
»Ich bin nicht einfach nur bockig, Jagr.«
»Sagte ich etwas Derartiges?«, knurrte er.
»Das musstest du gar nicht«, neckte sie ihn. »Ich habe es mit Neonschrift auf deinem Gesicht gesehen.«
Sein finsterer Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Das wage ich ernsthaft zu bezweifeln.«
Sie seufzte und fuhr sich unruhig mit einer Hand durch das Haar. »Ich will wissen, ob ich wie ein normaler Mensch in der Welt zurechtkomme. Ist das so erstaunlich?«
Die kurze Gefühlsregung bei Jagr war wie weggeblasen und durch eine Eisschicht ersetzt worden.
»Du wirst niemals ein normaler Mensch sein.«
»Na schön, dann eben wie eine normale Dämonin.« Sie ballte die Hände zu Fäusten und wünschte sich, dass sie es jemandem, irgendjemandem verständlich machen könnte. »Ich muss einfach wissen, ob ich es schaffe.«
»Wen versuchst du zu überzeugen, Regan?«, fragte er leise. »Mich? Oder dich selbst?«
»Ich versuche zu erklären …« Sie schüttelte den Kopf. »Ach, auch egal.«
Die Anspannung in Jagrs Kinn war seine einzige Reaktion, als er sich umdrehte.
»Ich muss gehen.«
»Jagr!«
»Verdammt, Regan, was willst du von mir?«, fauchte er und drehte ihr weiterhin den Rücken zu.
Das war eine gute Frage.
Leider hatte sie nicht die geringste Ahnung.
Sie wusste nur, dass es ihr das Herz brach, wenn sie ihn davongehen sah.
»Ich … Ich will dir danken.«
Er erstarrte, aber drehte sich immer noch nicht um. »Mir danken?«
»Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich direkt in die Falle gelaufen, die Sadie mir gestellt hat.«
»Irgendwie bezweifle ich, dass du dich so leicht hättest fangen lassen«, meinte er trocken.
Regan verzog die Lippen. Ihr Stolz wollte vielleicht seine Worte glauben, aber sie hatte eine Menge Zeit gehabt, um über ihre übereilte Flucht nach Hannibal nachzudenken.
»Ich weiß dein Vertrauen in meine Fähigkeiten zu schätzen, aber wir wissen beide, dass ich so erfüllt von meinem Bedürfnis nach Rache war, dass ich nicht klar denken konnte. Wenn du nicht gewesen wärst …«
»Ich brauche deine Dankbarkeit nicht, Regan«, unterbrach er sie unerwartet. Seine Stimme war rau. »Gib einfach acht auf dich.«
Mit diesen Worten riss er die Tür auf und verschwand in der Dunkelheit.
Fassungslos über seinen abrupten Aufbruch, griff Regan nach einer Marmorstatue in ihrer Nähe, da ihre Knie nachzugeben drohten.
Sie spürte den starken Impuls, hinter Jagr herzurennen und ihre Arme um ihn zu schlingen. Ihn anzuflehen, sie über die Schulter zu werfen und sie in sein Versteck zu schleppen.
Mit einem Krachen, das so laut war, dass es Tote hätte aufwecken können, brach der Arm der Statue in ihrer Hand ab. Sie murmelte einen Fluch vor sich hin und warf hastig die abgerissene Gliedmaße auf den Boden.
»Gott, ich bin so eine Idiotin!«