KAPITEL 7

Obwohl sie durch Jagrs riesigen Körper abgefangen wurde, wurde Regan die Luft aus den Lungen getrieben, als sie die Wand des Wohnmobils durchbrachen und mit einem harten Aufprall auf dem Weg landeten.

Bevor sie es schaffte, die dringend benötigte Luft in tiefen Zügen einzuatmen, hatte Jagr sie mit einem Ruck auf die Füße gezogen und sich umgedreht, um sich den beiden Angreifenden zuzuwenden, die durch ihr abruptes Erscheinen vor Schreck erstarrt zu sein schienen.

Da war eine schlanke menschliche Frau mit blonden Wuschellocken und harmlosen blauen Augen, ebenso wie ein großer, schlanker, attraktiver Mann, den Regan augenblicklich als Wolfstöle erkannte, mit dunklem Haar und einem Spitzbart, der irgendwie perfekt zu seinen boshaften Gesichtszügen zu passen schien.

Regan hatte kaum ihr Gleichgewicht wiedererlangt, als schon eine kalte Explosion der Macht die Luft erfüllte und Jagr sich in den Kampf stürzte.

Die Frau kreischte vor Entsetzen, aber statt zu fliehen, wie es jedes intelligente Wesen hätte tun sollen, warf sie die Hände in die Luft, als ob sie versuchen wollte, den riesigen Feind zu verscheuchen.

Vielleicht hätte Regan es komisch gefunden, wenn es den hellen Lichtblitz nicht gegeben hätte, der Jagr mitten in die Brust traf und ihn nach hinten schleuderte.

Eine Hexe.

Regan rannte auf den Vampir zu, der auf dem harten Boden ausgestreckt dalag. Der vordere Teil seines Pullovers war kohlschwarz und rauchte noch immer. Diese verdammte Hexe sollte in der Hölle schmoren! Niemand durfte Jagr etwas tun.

Niemand außer ihr.

Sie war weniger als einen halben Schritt von dem verletzten Vampir entfernt, als ihr plötzlich die Haare in ihrem Nacken zu Berge standen.

Regan ließ sich von ihrem Instinkt leiten und duckte sich, während sie herumwirbelte und austrat, um der angreifenden Wolfstöle ein Bein zu stellen.

Ihr Abtauchen gestattete es ihr, einem schmerzhaften Schlag gegen den Kiefer auszuweichen, da die Faust des Angreifers über ihren Kopf hinwegschwang, aber es gelang ihm, über ihr Bein zu springen. In seinen Augen glühte das unheimliche Licht eines Wolfes. Die Wolfstöle wirbelte herum, um sich ihr zuzuwenden, und hielt die Hände in einer Friedensgeste in die Höhe.

»Ganz ruhig, Schatz«, beschwichtigte er sie, wobei seine Art zu sprechen an seine irische Herkunft erinnerte. »Ich will dir nichts tun.«

Regan biss die Zähne zusammen, zu wütend, um richtig erschrocken zu sein.

»Na klar.« Ihr scharfes Lachen hallte durch die Bäume. »Ich nehme an, Sie haben mir auch einen Gebrauchtwagen zu verkaufen ?«

Seine Lippen kräuselten sich zu einem gut geübten Lächeln. »Ich schwöre beim Grabe meiner lieben Mutter, dass mir befohlen wurde, dich lebendig mitzubringen.«

»Wohin zu bringen?«

Er streckte eine schlanke Hand aus. »Komm mit mir, dann werde ich es dir zeigen.«

Hatte sie etwa »dumm« auf ihrer Stirn stehen?

Regan versuchte sich langsam an der Wolfstöle vorbeizuschieben, gequält von dem verzweifelten Bedürfnis, Jagr zu erreichen.

»Was wollen Sie mit mir machen?«

»Nichts weiter, als dich in Sicherheit zu bringen.«

»In Sicherheit? Sie haben versucht, mich in dem Hotelzimmer zu erschießen, ganz zu schweigen davon, dass Sie mich vor nur einer Minute fast bei lebendigem Leib geröstet haben!«

»Wir haben versucht, den Vampir in diesem Hotelzimmer zu töten, nicht dich. Wir dachten, er würde dich angreifen.« Sein Blick glitt langsam an ihrem Körper herunter, und sein arroganter Gesichtsausdruck verriet, dass er glaubte, es gefiele Frauen, wie ein Gebrauchtwagen abgecheckt zu werden. » Werwölfe und Vampire kommen normalerweise nicht zusammen.«

»Und heute Nacht?«, fragte Regan.

»Ich hatte keine Ahnung, dass jemand in dem Wohnmobil war. Ich wurde geschickt, um ihn loszuwerden, und nicht, um dich zu verletzen.«

Regan versteifte sich. Sie war davon ausgegangen, dass sie von der Wolfstöle zu diesem abgelegenen Flecken verfolgt worden waren. Aber wenn der Mann die Wahrheit sagte, hatte er von dem Wohnmobil gewusst.

Und von Culligan.

» Wer hat Sie geschickt?«, zischte sie. »Culligan?«

Der Mann schnaubte. »Du bist wohl verrückt. Als ob ich Befehle von einem dreckigen Kobold entgegennähme.«

»Aber Sie wissen, wo er ist?«

Er trat selbstbewusst näher an sie heran, und seine Stimme war leise und verführerisch. »Das weiß ich nicht nur, sondern ich habe ihn vollständig verschnürt wie ein Geburtstagsgeschenk. Er wartet nur darauf, dass du kommst und ihn bestrafst. «

Regans Gedanken rasten. Auf gar keinen Fall würde sie die Wolfstöle begleiten. Jeder ihrer Instinkte stieß in ihrem Kopf Warnschreie aus. Außerdem würde sie Jagr nicht verlassen. (Warum sie das Bedürfnis verspürte, einen uralten Vampir zu beschützen, der sie im Moment als Geisel hielt, ganz zu schweigen davon, dass er sie in den Wahnsinn trieb, darüber wollte sie nicht nachdenken.)

Aber wenn sie dafür sorgen konnte, dass er weitersprach, würde er ihr vielleicht einen Hinweis darauf liefern, wo er Culligan versteckte … und warum er sie verdammt noch mal in die Finger bekommen wollte.

»Woher kennen Sie Culligan?«, fragte sie.

Die Wolfstöle zuckte mit den Schultern. »Ich bin ihm nie begegnet, bevor er in Hannibal ankam.«

»Gott, gibt es irgendeinen Dämon, der die Stadt durchquert und den Sie nicht umzubringen versuchen?«

»Wir haben nicht versucht, den Kobold umzubringen.« Der Mann machte einen Schritt auf sie zu, als ob er hoffte, seine mächtige Hitze würde ihr den Verstand vernebeln. »Wir haben ihn einfach geschnappt und mitgenommen.«

Sie schlich weiterhin immer näher an Jagr heran. Ihr Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Warum wachte er nicht auf? Er würde sich in Luft auflösen, wenn er tot wäre, oder?

»Das war wohl kaum einfach«, warf sie ihm vor. »Culligan ist nicht freiwillig mitgegangen.«

Er fletschte die Zähne. »Vielleicht gab es auch ein kleines Blutvergießen.«

»Und warum haben Sie ihn überhaupt mitgenommen?«

»Abgesehen von dem Vergnügen, ihm beim Kreischen zuzuhören? « Die Wolfstöle lachte leise. »Wir haben entdeckt, dass er eine Mitwölfin gefangen hielt. Das kann nicht ungestraft bleiben.«

Er log. Regan war sich in ihrem Leben noch nie einer Sache so sicher gewesen.

»Fantastisch. Wo waren Sie denn, verdammt noch mal, als ich Ihre Hilfe wirklich gebraucht habe?«, spottete sie, während sie die gefährliche Wolfstöle weiterhin umkreiste.

Plötzlich war sie Jagr nahe genug, um seine Macht zu fühlen, wenn auch nur schwach. Pure Erleichterung durchzuckte sie.

Er lebte noch.

Sie wusste nicht, warum, aber ihr fiel ein Stein vom Herzen.

Der Mann, der nicht bemerkte, dass Regan abgelenkt war, strich sich mit einer Hand über die Muskeln, die sich auf seinem Brustkorb abzeichneten, und setzte ein schelmisches Lächeln auf.

»Ich bin ja jetzt hier und bereit, dir mit allem zu helfen, was auch immer du brauchst.«

Igitt, igitt, igitt.

Regan spürte nichts von der prickelnden Erregung, die sie immer fühlte, wenn Jagr sie mit dieser heißen Begierde ansah. Alles, was sie spürte, war … Abscheu.

Sie strengte sich an, um ihre nicht gerade schmeichelhafte Reaktion zu unterdrücken, und war daher abgelenkt, als die Hexe die Wolfstöle am Arm packte.

»Was tust du?«, zischte sie, die Augen vor Panik geweitet. »Der Vampir bleibt nicht ewig am Boden.Wir müssen gehen.«

Regan knurrte. Sie sehnte sich danach, die Frau zu Boden zu werfen und sie ordentlich zu verprügeln. Die Hexe stieß einen Angstschrei aus, aber bevor Regan sie in die Finger bekommen konnte, schob die Wolfstöle die verängstigte Frau hinter sich.

»Nicht ohne meine hübsche kleine Wölfin.« Er streckte ihr eine Hand hin. »Komm mit mir, Regan. Das ist der einzige Weg für dich, Culligan in die Finger zu bekommen.«

»Sagen Sie mir, wo er ist, dann komme ich später nach«, konterte sie.

»Auf keinen Fall. Entweder lässt du mich jetzt zu ihm bringen, oder du wirst ihn nie finden.«

Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Wie soll ich …«

Etwas raschelte, als Jagr sich auf dem harten Boden bewegte und deutlich erkennbar den Zauber abschüttelte, von dem er getroffen worden war.

»Mist.« Ohne Vorwarnung streckte die Wolfstöle die Hand aus, um Regan am Arm zu packen. Der charmante Gesichtsausdruck hatte sich in einen hässlichen Ausdruck von Wut verwandelt. »Gerade ist deine Zeit abgelaufen, du Miststück. Du kommst mit mir.«

»Nicht in diesem Leben«, fauchte Regan, riss sich los und holte zum Schlag gegen die überhebliche Wolfstöle aus.

Der Mann wich aus, und seine Faust traf sie mitten in den Magen, bevor sie reagieren konnte. Regan ächzte, als ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde, aber statt gegen den schmerzhaften Hieb anzukämpfen, ließ sie es zu, dass sie zu Boden stürzte und neben Jagrs Beinen zu liegen kam.

Sie hatte kaum den Boden berührt, als die Wolfstöle sich auf sie stürzte. Eine Faust traf sie seitlich am Kopf, und die andere packte sie an den Haaren, in dem Versuch, sie wieder auf die Beine zu zerren.

Indem sie versuchte, das Schwindelgefühl zu unterdrücken, streckte Regan grimmig die Hand nach Jagrs Bein aus. Sie war so oft verprügelt worden, dass sie sich jetzt nicht von einem kleinen Schmerz ablenken ließ. Nicht einmal, wenn ihr die Haare an der Wurzel ausgerissen wurden.

Die Wolfstöle fauchte vor Wut, legte die Hand um Regans Kehle und quetschte ihr die Luftröhre zusammen, als sie versuchte, sie gewaltsam auf die Beine zu stellen. Regan biss die Zähne zusammen und trat dem Mann gegen das Knie, während sie eine Hand an Jagrs Bein entlang bis zu seinem Stiefel gleiten ließ.

Der Angreifer heulte vor Schmerz, als ihr Absatz mit einem entsetzlichen Knacken seine Kniescheibe traf, aber seine Finger schlossen sich nur noch fester um ihren Hals.

Regan rang nach Luft, aber endlich schlossen sich ihre Finger um den Dolch, den Jagr in seinen Stiefel gesteckt hatte. Sie zog ihn aus der versteckten Scheide und zielte auf den Arm, der sie gefangen hielt.

Die Silberklinge glitt mit Leichtigkeit durch Fleisch und Muskel und kratzte über den Knochen, als die Wolfstöle abrupt einen Sprung nach hinten machte und so den harten Griff um ihre Kehle löste.

Der Mann hielt sich den Arm und funkelte sie mit mörderischem Zorn an, bevor sich ein Energieschimmer um seinen muskulösen Körper bildete und er sich verwandelte. Ein Widerhall von Macht prickelte in Regans Blut, als sie zusah, wie sein attraktives Gesicht sich verlängerte und seine Kleidung gesprengt wurde, als sich sein Körper wand und veränderte. Schließlich nahm der Mann die Form einer riesigen wolfsähnlichen Kreatur an, die über ein dunkles Fell und glühende rote Augen verfügte.

Regan sprang auf die Beine, bereit für den bevorstehenden Angriff.

Einen Angriff, der nie erfolgte.

Gerade als Regan sich in Position brachte und den Dolch gezückt hielt, war neben ihr ein Knurren zu hören, und urplötzlich ragte hinter ihrer Schulter Jagr drohend wie ein Racheengel auf.

Die Wolfstöle knurrte und schnappte, aber sie war noch nicht so jenseits von Gut und Böse, dass sie glaubte, gegen einen riesigen, erzürnten Vampir antreten zu können. Nicht einmal gegen einen, der erst vor so kurzer Zeit verwundet worden war.

Nur einen kurzen Augenblick lang waren sie wie auf einem seltsamen Bild erstarrt, und die Gewalt hing zitternd in der Luft, bereit, bei der ersten Bewegung zu explodieren.

Albernerweise stellte Regan fest, dass sie den Atem anhielt. Ihr Blick war auf die Wolfstöle geheftet, die weiterhin bereit war anzugreifen. Letzten Endes war das ein Fehler. Obwohl die Wolfstöle ihre beträchtlichen Fangzähne aufblitzen ließ und tief in der Kehle knurrte, war es die Hexe, die die Angelegenheit in die Hand nahm.

Buchstäblich.

Sie hob die Arme und murmelte einen leisen Sprechgesang. Jagr fluchte und stieß Regan mit einer heftigen Bewegung zur Seite. Den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Das grelle Licht loderte auf, und ein heftiger Schmerz explodierte in Regans Kopf.

 

Jagr trug seine schlanke Last durch die stillen Straßen und die Steilküste hinauf zu der verborgenen Höhle. Erfüllt von Sorge, unternahm er keinerlei Anstrengung, seine eisige Macht zu verbergen, die durch die Dunkelheit strömte und ein Gefühl kalter Furcht in den glücklosen Bewohnerinnen und Bewohnern von Hannibal hervorrief.

Weshalb sollte ihn das kümmern? Mochten die Menschen erwachen und sich unbehaglich in ihren Betten herumwälzen, und mochten die niederen Dämonen entsetzt aus der Gegend flüchten. Seine einzige Sorge galt dem Auffinden des Gargylen und Regans Wiederbelebung.

Jagr, der den winzigen Dämon mühelos wahrnahm, schlüpfte durch die Höhlenöffnung. Er war bereits auf Levets Entsetzensschrei vorbereitet, als er Regans ohnmächtige Gestalt mitten auf den harten Boden legte.

»Regan!« Mit flatternden Flügeln und zuckendem Schwanz eilte Levet zu Regan. »Was haben Sie mit ihr getan, Sie untotes Reptil?«

Jagr ging in den hinteren Bereich der Höhle und holte seinen langen Lederstaubmantel, um ihn sorgsam über Regans zu stillem Körper auszubreiten. Dann kniete er sich neben sie und ergriff eine ihrer schlanken Hände.

»Sie wurde von einem Zauber getroffen.« Jagr durchbohrte seinen Kameraden mit einem wilden Blick. »Entfernt ihn.«

»Und wie …« Levet verschluckte seine Frage, als er beinahe von einem Stoß von Jagrs eiskaltem Zorn getroffen wurde. Stattdessen schloss er die Augen und berührte Regans Stirn mit einem knotigen Finger. »Menschliche Hexe. Ein Abwehrzauber.«

»Ich fragte nicht nach CSI-Unsinn«, knurrte Jagr. »Nehmt den Zauber von ihr.«

»Sacrebleu.« Levet öffnete seine Augen. »Ich muss wissen, welche Magie verwendet wurde, damit ich sie umkehren kann.«

»Schön, es war eine menschliche Hexe. Nun fahrt fort.« Jagr deutete mit einem warnend erhobenen Finger in das hässliche Gesicht des Gargylen. »Und, Levet …«

»Oui?«

»Behaltet Folgendes im Gedächtnis: Falls Ihr einen Fehler macht, so wird es Euer letzter sein.«

Levets Augen verengten sich, und plötzlich schimmerte der große Stolz seiner Vorfahren in den grauen Tiefen.

»Ich würde mir eher einen Dolch in mein eigenes Herz rammen, als Darcys Schwester zu verletzen«, schwor er. »Nun halten Sie die Klappe, und lassen Sie zu, dass ich mich um sie kümmere.«

Jagr spannte den Kiefer an, um gegen den Zorn anzukämpfen, der mit brutaler Gewalt in ihm aufloderte.

Diese Nacht war eine Katastrophe gewesen.

Er war in dem brennenden Wohnmobil gefangen gewesen. Er hatte es zugelassen, dass ihm der Zauber einer Hexe, und zwar einer menschlichen Hexe, das Bewusstsein geraubt hatte, sodass Regan gezwungen gewesen war, ihre Angreifer allein zu bekämpfen. Und er war zu langsam gewesen, um sie vor dem Zauber zu beschützen, der sie nun in seiner Gewalt hatte.

Er hatte es von Anfang bis Ende auf katastrophale Weise vermasselt.

Und Regan musste für sein Scheitern bezahlen.

Er hielt den Blick fest auf Regans bleiches Gesicht gerichtet und achtete kaum darauf, wie Levet etwas vor sich hinmurmelte und gelegentlich mit den Händen wedelte, aber er erkannte den Augenblick, in dem der Zauber gebrochen war.

Es war in der Entspannung ihres Körpers zu erkennen, und in dem sanften Aufseufzen, das durch ihre geöffneten Lippen drang. Levet setzte sich auf seine Fersen, und seine Flügel hingen vor Erschöpfung schlaff herunter.

»Ich habe den Zauber aufgehoben, aber sie wird eine beträchtliche Menge an Schlaf benötigen, damit sie sich von dem entstandenen Schaden erholt.«

»Wird sie sich denn erholen? Vollständig?«

» Oui.«

Das Gefühl der Beklemmung, das Jagrs nicht schlagendes Herz einschnürte, ließ nach, doch es verschwand nicht. Regans Körper würde heilen, aber die, welche ihr Schaden zufügen wollten, blieben am Leben.

Vorerst.

Jagr drückte ihre Finger gegen seine Lippen und legte dann sanft ihre Hand auf ihren Brustkorb, der sich mit beruhigender Regelmäßigkeit hob und senkte. Den Schmerz ignorierend, den die Hexe ihm zugefügt hatte, erhob er sich.

Die Stimme derVernunft flüsterte ihm in seinem Hinterkopf zu, dass er zu dem verkohlten Wohnmobil zurückkehren solle. Es bestand nicht nur die Hoffnung, dass die Wunden, die Regan der Wolfstöle zugefügt hatte, die Fähigkeit der Hexe bezwingen würden, ihren Geruch zu überdecken, sondern er musste sich außerdem darum kümmern, dass seine eigene Fährte zurück zur Höhle anständig verwischt wurde.

Die Vernunft bedeutete jedoch nicht das Geringste, wenn seine Beschützerinstinkte dermaßen in Aufruhr waren. Auf gar keinen Fall würde er Regan verlassen, während sie ohnmächtig und vollkommen verletzlich war.

Auf gar keinen Fall.

»Levet.« Mit zusammengekniffenen Augen winkte er den argwöhnischen Gargylen heran. »Ich habe eine kleine Aufgabe für Euch.«

»Verdammt.«

 

Regan war sich nicht sicher, wie lange sie ihren Kampf mit der anhaltenden Dunkelheit ausfocht.Wenn die dichte Umhüllung eins war, dann hartnäckig. Aber andererseits war sie selbst das auch. (Manche Leute, insbesondere ein gut aussehender Westgotenhäuptling, würden vielleicht sogar behaupten, dass sie störrisch wie der Teufel wäre.)

Sie weigerte sich, sich geschlagen zu geben, und schaffte es, die Bewusstlosigkeit zu durchdringen, die sie gefangen hielt. Allmählich erwachten ihre Sinne wieder kribbelnd zum Leben, auch wenn ihre Augenlider weiterhin zu schwer waren, als dass sie sie hätte heben können.

Regan lag auf einem harten Lehmboden. Es handelte sich ohne Zweifel um die Höhle. Sie konnte kühle, feuchte Luft riechen und nahm nur noch eine Spur vom Gargylen-Geruch wahr, als ob Levet sich nicht länger in ihrer Nähe aufhielt. Und über allem der kühle, exotische Geruch der Macht, der nur zu Jagr gehören konnte.

Er war in ihrer Nähe. Bewachte sie.

Wärme durchströmte sie, verbannte den anhaltenden Schmerz und brachte ein seltsames Gefühl von Frieden mit.

Frieden?

Durch einen arroganten Vampir, der dachte, er könnte ihr eine Leine anlegen?

Gott, sie war wohl verrückt.

Regan zwang ihre Augen mit Gewalt, sich zu öffnen, und sah sich in der von einer Fackel erleuchteten Kammer um, um sich davon zu überzeugen, dass sie sich in der Höhle in Sicherheit befand und nicht in den Händen der Wolfstölen. Oder was noch schlimmer gewesen wäre, wieder in dem verdammten Silberkäfig.

Vorausgesetzt, das grässliche Ding hatte das Feuer überlebt.

Überzeugt, dass sie nicht in unmittelbarer Gefahr war, rappelte Regan sich auf und war erleichtert, als sie nicht direkt der Länge nach hinfiel. Sie stolperte nicht einmal.

Während sie ihre Finger durch ihr Haar gleiten ließ, sah sie sich in den immer dunkler werdenden Schatten um. Die kühle Macht, die in der Luft lag, überzeugte sie, dass Jagr in der Nähe war, aber seine ansehnliche große Gestalt war nirgendwo zu entdecken.

Also hatte er entweder seine Vampirtricks genutzt, um sich in Finsternis zu hüllen, oder er hielt sich in einer der angrenzenden Höhlen auf.

Sie zögerte kurz.

Ihr Stolz sagte ihr, dass nichts sie hier in der Höhle hielt. Sie konnte aus dem Vordereingang spazieren und ihre Suche nach Culligan fortsetzen. Oder, wenn sie wirklich intelligent war, konnte sie in den nächsten Bus springen und einfach verschwinden.

Keine Kobolde, keine Werwölfe, keine ärgerlich attraktiven Vampire …

Allerdings hatte ihr Stolz keine Kontrolle über ihre Füße. Statt sie aus der Höhle zu führen, steuerten sie auf die Höhlenöffnungen im hinteren Bereich zu.

Indem sie den Kopf einzog, um dem niedrigen Durchgang auszuweichen, schlüpfte sie in den beengten Raum, der eine natürliche Zisterne aufwies. Als sie sich aufrichtete, war sie darauf vorbereitet, Jagr zu finden. Aus dieser kurzen Entfernung war seine Macht deutlich fühlbar. Was sie nicht erwartet hatte, war, ihn splitternackt vorzufinden. Er stieg aus dem flachen Wasser und warf sein nasses Haar über seine breiten Schultern.

Die Welt hielt an.

Zumindest in der kleinen Ecke, in der Regan stand.

Gott. Sie hatte bereits akzeptiert, dass er ein wahrhaft großartiges Prachtexemplar war. Die herrliche Mähne aus goldenem Haar. Die stolze, maskuline Schönheit seiner Gesichtszüge. Die unnachgiebige Intelligenz in den eisblauen Augen.

Aber ohne seine Kleidung war er … Holla die Waldfee.

Rohe Kraft, geformt zu dicken Muskeln und Sehnen, das waren die einzigen Worte, die ihr in den Sinn kamen. Es reichte aus, um das Herz jeder Frau zum Stillstand zu bringen.

Da sie sich für kurze Zeit in der reinen Perfektion seines Körpers verlor, dauerte es einen Moment, bis Regans begeisterter Blick sich fokussiert hatte. Da bemerkte sie, dass die geschmeidige Schönheit seiner Elfenbeinhaut grausam durch eine Reihe von Narben, die kreuz und quer über seinen Rücken verliefen, entstellt worden war, die von seiner Brust bis zu seiner Leiste reichten.

Regan, die ebenso über den Schmerz schockiert war, der ihr Herz ganz plötzlich durchzuckte, wie über den Anblick von Jagrs grausigen Verletzungen, hob langsam den Blick und traf auf den aus seinen eisblauen Augen.

Wie immer war sein Gesichtsausdruck nicht zu deuten, aber Regan war nicht dumm. Jagr hatte mit Sicherheit den Moment gespürt, in dem sie aufgewacht war. Und das bedeutete, dass er sich ganz einfach hätte verhüllen können, bevor sie auf ihn stieß.

Vampire waren nicht sittsam, aber sie verabscheuten jede Missbildung. Die Narben waren für einen solchen Dämon vermutlich eine Quelle der Demütigung.

Warum hatte er sie ihr also wohl gezeigt?

Und warum jetzt?

Regan, die sich bemühte, Ordnung in ihre verworrenen Gedanken zu bringen, zwang sich, trotz der Enge in ihrer Kehle zu atmen, und ihr Blick glitt zu dem Wasser mit der gekräuselten Oberfläche.

»Sollten Sie nicht irgendein Schild aufhängen, wenn Sie vorhaben, in einer gemischten Höhle zu duschen?«

Ein Rascheln war zu hören. Als Regan insgeheim einen Blick aus dem Augenwinkel in Jagrs Richtung warf, sah sie, wie er eine ausgebleichte Jeanshose anzog. Er zog den Reißverschluss hoch, ließ aber den Knopf offen.

Wow.

Ihr Mund wurde trocken. Und das hatte nichts mit seinen Narben zu tun.

Hatten alle Männer solche großen … männlichen Teile?

Und sollten sie eine Frau wirklich wie eine läufige Hündin keuchen lassen?

»Wie fühlst du dich?«, wollte er wissen und ging auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand.

»Kopfschmerzen, trockener Mund, Haare aus der Hölle.« Mit einiger Mühe hob sie den Kopf, um seinem zurückhaltenden Blick zu begegnen. »Wie lange war ich bewusstlos?«

»Du hast einen Tag verloren.«

Ein Gefühl von Frustration begann sich tief in ihrem Magen bemerkbar zu machen. Falls es in dieser Geschwindigkeit weiterging, konnte sie sich im Altersheim anmelden, wenn es ihr endlich gelungen war, Culligan aufzuspüren.

»Mist. Ich erinnere mich daran, dass wir aus dem Wohnmobil gekracht sind und von dieser Wolfstöle angegriffen wurden … Aber an den Rest kann ich mich nicht erinnern.«

»Die menschliche Hexe«, antwortete er knapp und mit eiskalter Stimme. »Sie belegte dich mit einem Zauber.«

»Das Miststück. Ist sie tot?«

»Nein. Es gelang dir, die Wolfstöle zu verletzen, doch sie entkamen beide.«

Regan verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Sie musste nicht fragen, um zu wissen, dass Jagr sich dafür entschieden hatte, sie in Sicherheit zu bringen, statt die Wolfstöle und die Hexe zu töten. Oder auch, die beiden gefangen zu nehmen, damit sie befragt werden konnten.

Dieses Wissen hätte sie wütend machen sollen.

Sie brauchte seinen Schutz nicht. Und ganz sicher hatte sie ihn nicht darum gebeten.

Aber sie war nicht wütend.

Sie war lächerlich zufrieden. Als ob sie es so haben wollte, dass jemand sich um ihr Wohlergehen sorgte.

Das ist gefährlich, Regan. Sehr, sehr gefährlich.

So gefährlich, wie sich zu wünschen, ihre Hände über die vernarbte Haut seiner Brust gleiten zu lassen, um zu beweisen, dass sie seine wilde Schönheit nicht im Geringsten schmälerten.

Sie hatte mit der Zunge ihre trockenen Lippen berührt, als ihr abrupt klar wurde, dass sie diese breite, köstliche Brust schon viel zu lange anstarrte. Sie zwang sich, ihren Blick loszureißen und Jagr wieder in die Augen zu sehen, aber sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg.

»Ich … frage mich, was eine Hexe wohl bei einem Rudel Wolfstölen zu suchen hat …«

»Nein«, unterbrach er sie rüde und trat so dicht zu ihr, dass sie gezwungen war, ihren Kopf in den Nacken zu legen.

»Was?«

»Das ist nicht das, was du dich fragst. Nicht wahr?« Seine Stimme war kühl, distanziert. »Wenn du etwas wissen möchtest, frage einfach.«

Regan zuckte überrascht zusammen, als ihr klar wurde, dass Jagr fälschlicherweise angenommen hatte, ihre Beschäftigung mit seinen Narben wäre rüde Neugierde. Nicht … Faszination.

Zwei sehr verschiedene Dinge.

Natürlich schien Neugierde ihr vernünftiger zu sein, wenn sie mit einem halb nackten Vampir allein in einer Höhle war, den sie ganz plötzlich von Kopf bis Fuß ablecken wollte.

»Ich wusste nicht, dass sich bei Vampiren auch Narben bilden«, brachte sie die offensichtlichste Frage hervor.

»Das ist kein natürlicher Vorgang.« Seine Augen verdunkelten sich, als eine uralte Wut in ihnen aufstieg. »Brutale Bemühungen und perverse Beharrlichkeit sind notwendig, damit die Haut eines Vampirs permanent verunstaltet wird. Das ist gewiss nichts für schwache Nerven.«

»Warum sollte …« Regan hob die Hand und presste sie gegen ihr Herz. »O mein Gott, Sie wurden gefoltert!«

»Gefoltert und dann ausgehungert, sodass mein Körper nicht heilen konnte.«

»Wie lange?«

»Drei Jahrhunderte.«

Regan drehte sich aus entsetztem Mitgefühl der Magen um. Dreihundert Jahre endloser Folter? Wie hatte er das überlebt? Und was noch wichtiger war: Wie hatte er überlebt und seine geistige Gesundheit behalten?

O Gott, sie konnte nicht einmal erfassen, wie viel Stärke er dazu wohl hatte aufbringen müssen.

Und sie hatte ihm Unbeständigkeit vorgeworfen?

Eigentlich hätte er völlig irre sein müssen.

»War es ein Dämon?«, stieß sie mit heiserer Stimme hervor.

Seine Lippen kräuselten sich zu einem humorlosen Lächeln. » Eine Vampirin.«

»Gott.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Also stimmen die Gerüchte.«

»Welche Gerüchte?«

»Culligan war immer ungeheuer nervös, wenn er sich dem örtlichen Vampirclan nähern und seinen Tribut leisten musste, weil er auf ihrem Territorium Geschäfte machte.« Ihr Blick glitt über die dicken Narben. »Er hat behauptet, dass Vampire bösartige Bestien wären, die jeden abschlachten würden, sogar sich gegenseitig.«

Jagr zuckte die Achseln, und Regan wünschte sich, er hätte das nicht getan. Das Muskelspiel unter dieser Elfenbeinhaut gab ihr das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch.

»Jedes Wesen kann bösartig sein, insbesondere Werwölfe, doch Vampire besitzen ein besonders erlesenes Talent für Schrecken und Schmerz.«

Bei der Andeutung in seinen kalten Worten riss Regan ruckartig den Blick hoch.

»Sie sind aus Spaß gefoltert worden?«

»Gewiss boten meine Schreie meinen Entführern Unterhaltung, doch ich wurde aus Rache gefoltert.«

»Rache wofür?«

»Die Wahrheit? Ich erinnere mich nicht.«