KAPITEL 15

Nur einen Moment lang blieb Regan wie erstarrt in der Tür stehen.

Nach Tagen endloser, aufreibender, unaufhörlicher Suche war sie über ihre verdammte Beute gestolpert, als sie noch nicht einmal nach ihr gesucht hatte.

Was für eine Ironie.

Sie umklammerte den Dolch und betrachtete den Kobold genau, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte.

Er sah … fürchterlich aus.

Seine Augen waren verbunden, und er lehnte sich schwer gegen die Ketten, als ob er sein eigenes Gewicht nicht tragen könnte, sein rotes Haar war mit ekelhaften Klumpen durchsetzt, und seine weiße Haut trug eine Schicht aus Dreck und getrocknetem Blut.

Der unverfrorene, eingebildete Dämon, dem es einen solchen Spaß gemacht hatte, sie zu foltern, war verschwunden. An seiner Stelle fand sie eine traurige, erbärmliche Kreatur vor, die nicht mehr am Körper trug als einen roten Lederriemen an seinem Hals.

Ein erfreutes Lächeln bildete sich allmählich auf Regans Lippen, als er schwach den Kopf zu heben versuchte. Er spürte deutlich, dass jemand den Schuppen betreten hatte, aber war zu orientierungslos, um ihren Geruch zu erkennen.

»Wer ist da?«, fragte er krächzend. »Bitte helfen Sie mir. Ich werde gegen meinen Willen hier festgehalten. Bitte …« Seine flehenden Worte wurden ihm abgeschnitten, als sie zu ihm ging und ihm die Augenbinde herunterriss. Er blinzelte gegen das Sonnenlicht, das in den Raum strömte. Dann riss er die Augen vor Entsetzen weit auf, als er seine Retterin erkannte. »Oh, Scheiße.«

»Hallo, Culligan«, schnurrte Regan und senkte den Blick zu dem kleinen Medaillon, das er um den Hals trug. Das Amulett der Hexe. Und der Grund dafür, dass sie den Mistkerl nicht gleich gerochen hatte, als sie sich der Blockhütte genähert hatte.

»Du«, krächzte er und wehrte sich gegen die schweren Ketten, die ihn festhielten.

»Überraschung!«

»Was zum Teufel tust du hier?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass du mir nicht entkommst.« Regan streckte die Hand aus, riss das Amulett von dem Lederriemen um Culligans Hals und steckte es in die Tasche.

Augenblicklich war der Schuppen von einem durchdringenden Pflaumengeruch erfüllt, während ihr eigener Geruch nicht mehr wahrzunehmen war.Wie praktisch. Regans Lächeln wurde breiter und zeigte boshafte Freude. »Natürlich habe ich damals nicht erwartet, dass die Wolfstölen so unhöflich sein würden, mein Spielzeug zu klauen und vor mir zu verstecken. Ich hoffe, sie haben dich nicht kaputtgemacht.«

Schweiß bildete sich auf Culligans Stirn, und Visionen von seinem Tod tanzten durch seinen Kopf.

»Es wimmelt hier nur so von Wolfstölen«, versuchte er sie verzweifelt abzuschrecken. »Versuchst du dich erwischen zu lassen?«

Da hatte er nicht ganz unrecht.

Eine intelligente Werwölfin würde Culligan das Herz herausschneiden und verschwinden, bevor die Wolfstölen zurückkamen.

Leider ging es bei ihrer Mission inzwischen nicht mehr nur um Rache. Jagr brauchte sie. Und wenn das bedeutete, diesen Mistkerl am Leben zu halten und dabei Kopf und Kragen zu riskieren, dann sollte es eben so sein.

Natürlich bedeutete das nicht, dass sie keinen Spaß mit dem Idioten haben konnte.

Sie hob den Dolch und ritzte damit eine dünne Linie über seinem Herzen in seine Haut, um dann zu beobachten, wie Blut über seine Brust tröpfelte.

»Eigentlich ist hier keine Wolfstöle zu sehen«, spottete sie.

Er erzitterte, obwohl sie ihn noch nicht richtig verletzt hatte. Noch nicht.

»Es ist eine Falle. Sie werden jeden Augenblick zurückkommen. «

Sie drückte den Dolch tiefer in seine Haut. »Nicht rechtzeitig, um mich davon abzuhalten, dir das Herz herauszuschneiden. «

»Warte!« Er rang nach Luft, und seine Augen hatten einen wilden Ausdruck der Angst angenommen. Köstlich. »Lass uns nichts überstürzen, Regan.«

»Überstürzen?« Ihr Blut fing an zu kochen. »Ich habe dreißig Jahre darauf gewartet, dich zu töten. Nur davon habe ich jede einzelne Nacht geträumt.«

»Wie kannst du so was sagen? Ich war für dich wie einVater.« Er stieß einen schrillen Schrei aus, als der Dolch tiefer in sein Fleisch eindrang. »Okay, vielleicht nicht wie ein Vater, aber vergiss nicht, dass ich dich aus diesem Graben gerettet habe. Du hättest sterben können, wenn ich nicht gewesen wäre.«

Ihre Augen verengten sich. »Graben, ja?«

»Vielleicht war es mehr ein Abzugskanal.«

»Du wertloses Stück Scheiße – ich habe mit Gaynor gesprochen«, zischte sie. »Ich weiß, dass die Wolfstölen mich dir in Chicago gegeben haben.«

Entsetzen blitzte in den hellgrünen Augen auf, bevor Culligan verzweifelt versuchte, sich herauszureden.

»Gaynor? Man kann ihm kein einziges Wort glauben! Er hat mich absichtlich nach Hannibal gelockt.« Sein Gesicht versteinerte sich. »Dieser verräterische Bastard.«

»Ich würde eher diesem verräterischen Bastard glauben, wenn er mir erzählen würde, der Himmel wäre grün, als auch nur ein einziges Wort zu glauben, das aus deinem dreckigen Mund kommt.«

Er blickte den Dolch an, der direkt über seinem Herzen steckte, und leckte sich die Lippen.

»Klar, ich verstehe. Du bist wütend. Ich habe dich nicht so gut behandelt, wie ich es hätte tun sollen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht zu einer … Übereinkunft kommen können.«

Ihr scharfes Lachen hallte durch den kleinen Schuppen. »Übereinkunft?«

»Alles. Sag mir einfach, was du willst.«

Vor ein paar Tagen hatte sie gewollt, dass dieser Kobold starb. Langsam, schmerzhaft und durch ihre Hand.

Jetzt musste sie akzeptieren, dass es Wichtigeres gab.

Jagr.

Und die Wahrheit über ihre Vergangenheit.

»Was ich will, sind Antworten«, stieß sie krächzend hervor.

»Gut.Was auch immer.«

»Sag mir, wie du mich in deine abscheulichen Finger bekommen hast, als ich ein Baby war.«

»Ich habe dir doch gesagt, ich habe dich in ei…« Er schrie auf, als Regan den Dolch eine Handbreit von seinem Herzen entfernt in seine Brust stieß. »Scheiße!«

»Noch eine einzige Lüge, und du bist tot«, warnte sie ihn. »Du hast mich in keinem Graben gefunden.«

Culligan wich so ängstlich zurück, dass Regan das wie Balsam auf ihre rachsüchtige Seele empfand, und gab seine lahme Geschichte auf.

»Okay, okay.« Er holte vorsichtig Luft. »Ich war in Chicago und kümmerte mich um meine eigenen Angelegenheiten, wie ich hinzufügen darf, als mich eine Wolfstöle ansprach, die behauptete, heiße Ware zu haben, die sie schnellstens abstoßen müsste.«

»Und ich war die heiße Ware?«

»Du und deine Schwestern«, stellte er klar. »Die Wolfstölen hatten grobe Fehler gemacht und die Aufmerksamkeit des örtlichen Sozialamtes erregt. Die Menschen hatten bereits einen der Säuglinge weggenommen, aber die Wolfstölen haben es geschafft, mit den anderen drei zu entkommen.«

Regan versteifte sich. Dieses Detail würde Darcy gefallen. Laut Salvatore hatte ihre Schwester nie herausfinden können, wie sie in den Händen von Menschen gelandet war. Und natürlich wusste sie jetzt, wie Culligan es geschafft hatte, eine Rassewölfin in seine Gewalt zu bekommen, aber nicht, wie die Wolfstölen sie und ihre Schwestern überhaupt erst in die Finger bekommen hatten.

»Sie versuchten das alles zu vertuschen, aber auf der Straße verbreiteten sich Gerüchte, und die Wolfstölen hatten Angst, dass die Neuigkeit bis ans Ohr der Rassewölfe dringen könnte. Sie mussten die Beweise loswerden, bevor sie auf frischer Tat ertappt wurden.«

»Was ist mit meinen Schwestern passiert?«, wollte Regan wissen. Sie war erstaunt festzustellen, dass ihr die Antwort wirklich wichtig war.

Was war mit der einsamen Wölfin geschehen, der ihre Familie scheißegal war? Die sich lieber die Augen hätte auskratzen lassen, als sich zu einem Thanksgiving-Essen einladen zu lassen?

Jagr war passiert, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf.

Er hatte sie … weich werden lassen.Verdammt sollte er sein.

Sich ihres inneren Konfliktes nicht bewusst, warf Culligan einen weiteren Blick auf das Messer, das aus seiner Brust ragte.

»Eine von ihnen blieb bei den Menschen, und eine wurde zu Wolfstölen in einem anderen Staat geschmuggelt. Du wurdest mir übergeben, und was mit der vierten passiert ist, weiß ich nicht.«

Sie biss die Zähne zusammen. »Die Wolfstölen haben eine meiner Schwestern?«

»Ich habe sie nicht gesehen, aber sie behaupten, eine zu haben. Angeblich machen sie irgendwelche Experimente mit ihr.«

Regan blieb die Luft weg. »Was für Experimente?«

»Sehe ich wie ein Wissenschaftler aus?« Die gereizten Worte verwandelten sich in Schmerzensschreie, als sie das Messer herumdrehte. »Au! Verdammt, irgendwie geht es darum, die Wolfstölen mächtiger zu machen. Das ist alles, was ich weiß, das schwöre ich.«

Also war der Verdacht, dass der mysteriöse Caine davon besessen war, die Wolfstölenversion von Frankensteins Monster zu erschaffen, nicht so weit hergeholt, wie es schien. O Gott. War der Mann völlig gestört? Wer wusste, was passieren konnte, wenn er damit anfing, mit der uralten Magie herumzupfuschen, die Menschen in Wolfstölen verwandelte?

Aber gab es überhaupt einen Unterschied zu Salvatore? Er hatte absichtlich die DNS von ihr und ihren Schwestern verändert, um Werwölfinnen zu erschaffen, die sich nicht verwandelten. Und das hatte er getan, damit sie zu einer Art Zuchtstuten wurden, um die verschwindenden Werwölfe zu neuem Leben zu erwecken.

Verdammt sollten die arroganten Männer und ihre Gottkomplexe sein!

In einer perfekten Welt hätten die Frauen das Sagen.

»Wenn die Wolfstölen meine Schwester haben, was wollen sie dann mit mir?«, stieß sie hervor.

»Ich kann nur vermuten, dass du die Reserve bist, für den Fall, dass deine Schwester ins Gras beißt, bevor sie ihre Experimente an ihr abgeschlossen haben.«

»Diese Bastarde!«

Culligan zitterte. »Du hast ja keine Ahnung. Lass mich frei, Regan, dann kann ich dir helfen.«

»Weißt du, wo die meine Schwester gefangen halten?«

»Ich …« Die Lüge, die ihm schon auf der Zunge lag, erstarb, als Regan warnend die Augen zusammenkniff. »Nein, eigentlich … nicht so genau, aber …«

»Wertlos«, murmelte sie, als ihr abrupt klar wurde, dass dies das perfekte Wort war, um diesen armseligen Dämon zu beschreiben.

Culligan war ein schwacher, gieriger Dummkopf, der der Welt nichts zu bieten hatte.

Er war nicht einmal ein anständiger Bösewicht.

Sie umfasste den Griff des Dolches fester. Ihr bitterer, überwältigender Rachedurst wurde durch diesen Gedanken irgendwie schwächer. Es fühlte sich so an, als hätte sie das Monster unter dem Bett hervorgezogen und festgestellt, dass es nicht mehr war als eine rückgratlose Schnecke.

Culligan erzitterte, als Regan ihm das Messer unabsichtlich tiefer in sein Fleisch bohrte. »Verdammt, pass auf das Ding auf!«

Als Antwort beugte sich Regan mit unbarmherzigem Gesichtsausdruck vor. Sie hatte ihr Glück genug auf die Probe gestellt. Es war an der Zeit, sich die Informationen zu holen, derentwegen sie hergekommen war.

»Hier kommt meine letzte Frage. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass dein Leben von deiner Antwort abhängt.« Die Spitze der Klinge lag auf Culligans pochendem Herzen. »Wo ist Jagr?«

»Was? Wer?«

»Der Vampir, der … den Darcy nach Hannibal geschickt hat.« Sie bemühte sich, ihre Angst und ihren Schmerz nicht zu zeigen. Culligan würde nur versuchen, das zu seinem Vorteil auszunutzen. »Gaynor hat ihn durch ein Portal entführt.Wohin ist er verschwunden?«

Culligan funkelte sie wütend an, auch wenn er klug genug war, sich nicht zu wehren. »Wie zur Hölle soll ich das wissen? Falls du das Memo nicht gekriegt haben solltest – ich war ziemlich beschäftigt, seit ich nach Hannibal gekommen bin.«

OhneVorwarnung zog Regan den Dolch aus dem Brustkorb des Kobolds und presste ihn gegen seine kostbarsten Juwelen.

»Gaynor ist schon seit Jahrhunderten dein Freund. Du musst irgendwas wissen.«

Panik blitzte in den grünen Augen auf. Wie sie es schon erwartet hatte, hatte der Idiot mehr Angst davor, kastriert zu werden, als davor, getötet zu werden.

»Bist du völlig irre?«

»Das machen dreißig Jahre Folter eben aus einem total netten Mädchen.« Ihre Stimme konnte es mit der von Jagr aufnehmen, was die Eiseskälte betraf. »Fang an zu reden, sonst verlierst du was Wichtiges.«

Schweiß strömte ihm über den Körper, als er versuchte, seine Stimme wiederzufinden. » Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass Gaynor früher immer ein unterirdisches Versteck hatte. Darin gab es eine Zelle, die er benutzen konnte, um niedere Dämonen einzusperren.«

Sie runzelte die Stirn. »Warum sollte er Dämonen einsperren? «

»Man kann mit Lösegeld ein Vermögen verdienen, wenn man Dämonen mit Clans oder Familien findet, die bereitwillig zahlen, um sie zurückzubekommen.«

»O Gott.« Regan schüttelte angewidert den Kopf. Kobolde sollten zum Abschuss freigegeben werden. »Ist diese Zelle stark genug, um einen Vampir gefangen zu halten?«

Culligan zuckte mit den Achseln. »Wenn er sie anständig hat verzaubern lassen.«

»Wo wird das wohl sein?«

Ein listiger Ausdruck zeigte sich auf dem schmalen Gesicht. Dieser Idiot wollte versuchen, sie hereinzulegen. Oder wenigstens hatte er das vor, bis sie das Messer in eins seiner Eier grub.

»Arrg!«

Er verdrehte die Augen, und Regan wartete ab, um zu sehen, ob er bewusstlos wurde. Als das nicht passierte, beugte sie sich so weit vor, dass sie mit ihrer Nase fast seine berührte.

»Wo wird das wohl sein?«

»Das dürfte in der Nähe seines Ladens sein …« Er stieß die Worte keuchend und schmerzerfüllt hervor. »In der Nähe des Teeladens, den er führt.«

Regan erstarrte. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in ihr auf. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Gaynor mag imstande sein, ein Portal zu beschwören, aber er hat kaum mehr Kraft als ich. Er kann nicht mehr als ungefähr hundert Meter reisen, wenn er einen Passagier hat. Wenn er deinen Vampir entführt hat, kann er nicht weit gekommen sein.«

»Wenn er da ist, warum kann ich ihn dann nicht spüren?«

»Die Zaubersprüche hemmen jeden Geruch.«

»Verdammt.«

Regan stand abrupt auf und machte einen Schritt von Culligan weg, um ihre Dummheit zu verfluchen. Was für eine Idiotin sie doch war! Wenn sie nicht so panisch versucht hätte, Jagr zu finden, hätte sie vielleicht auch nicht das Offensichtlichste übersehen.

Gott, vielleicht war er direkt unter ihren Füßen gewesen, während sie um den Teeladen herumgeschlichen war …

Sie schüttelte heftig den Kopf.

Verdammt, sie hatte genug Zeit vergeudet.

Sie musste zu Jagr.

Regan wirbelte auf dem Absatz herum und steuerte auf die Tür zu, fest entschlossen, zum Teeladen zurückzukehren. Selbst wenn sie Jagr nicht wegbringen konnte, bevor die Nacht hereinbrach, musste sie ihn doch finden.

In seiner Nähe sein.

Ziemlich erschreckend, oder?

Regan verließ den Schuppen, als eine Stimme hinter ihr sie unvermittelt daran erinnerte, dass Culligan immer noch an die Wand gekettet war.

»Hey, warte, wohin gehst du? Du kannst mich doch nicht hier zurücklassen!«

Sie drehte sich um und sah ihn leicht überrascht an. In ihrer Eile, zu Jagr zu gelangen, hatte sie ihn einfach vergessen.

Den Kobold, der ihr das Leben dreißig Jahre lang zur Qual gemacht hatte.

Den Kobold, den zu foltern und zu töten sie sich geschworen hatte.

Das zeigte ohne Zweifel irgendeine tiefe, weltbewegende Veränderung in ihrer Psyche, aber sie hatte nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

»Doch, das kann ich«, entgegnete sie. Sie tröstete ihren noch übrigen Rachedurst mit dem Wissen, dass die Wolfstölen hervorragende Arbeit leisteten, um Culligan das Leben unerträglich zu machen.

Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, wehrte sich Culligan verzweifelt gegen die Fesseln, die ihn gefangen hielten.

»Sie werden mich töten! Kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren?«

Langsam hob sie die Augenbrauen. »Ganz ehrlich, Culligan – das ist mir scheißegal.«

Was Texte für dramatische Abgänge betraf, war das wirklich hervorragend. Regan konnte sich ein selbstgefälliges Lächeln nicht verkneifen, als sie den Schuppen verließ und die Tür hinter sich zuknallte.

Vielleicht würde sie es ja später bedauern, ihn nicht aufgeschlitzt zu haben, um seine Eingeweide als Fischköder zu benutzen, aber vorerst begnügte sie sich damit, seine Folter den Wolfstölen zu überlassen.

Das Lächeln und die Zufriedenheit dauerten ganze zwei Sekunden.

Diese Zeit reichte nämlich einer männlichen Wolfstöle, die ihr ziemlich bekannt vorkam, um hinter den Bäumen hervorzutreten.

Duncan.

Einen seltsamen, zeitlosen Moment lang starrten sie sich gegenseitig einfach schockiert an. Dann hob er unvermittelt den Arm, um ihr irgendetwas direkt ins Gesicht zu werfen.

Regan duckte sich instinktiv und erwartete, dass ein Messer oder ein Schwert in der Tür hinter ihr stecken bleiben würde.

Stattdessen gab es eine grelle Explosion, und sie hatte nur eine einzige Sekunde Zeit, um zu denken, dass sie Jagr im Stich gelassen hatte, als die Welt um sie herum auch schon schwarz wurde.

 

Die Sonne bemalte den Horizont mit ihren letzten verblassenden Strahlen, als Regan sich bemühte, die schmerzhafte Benommenheit abzuschütteln.

Sie fühlte sich, als sei sie von einem Zementlastwagen getroffen worden.

Endlich schaffte sie es, ihre widerwilligen Augen dazu zu bringen, sich zu öffnen, wobei sie die explosionsartig auftretenden Schmerzen in ihrem Hinterkopf ignorierte. Scheiße. Sie hätte sie geschlossen lassen sollen.

Wenn sie sich vormachte, all dies wäre nur ein schrecklicher Albtraum, würde das zwar nichts an der Tatsache ändern, dass sie im Augenblick mit Ketten an einen Baum gefesselt war, die genügend Silber enthielten, um ihr die Kraft zu rauben und schwere Brandwunden auf ihrer Haut zu hinterlassen. Oder dass sie von der Blockhütte auf eine der kleinen, mit Bäumen und Unterholz bedeckten Inseln gebracht worden war, von denen es in der Mitte des Flusses so viele gab.

Noch immer benommen, beobachtete Regan, wie Duncan aus dem Segeltuchzelt trat, das mitten auf der kleinen Lichtung stand.

Sie unterdrückte das Knurren, das instinktiv in ihr aufstieg.

Dieser verdammte Bastard. Es war schlimm genug, dass er ihr Kopfschmerzen aus der Hölle verpasst und sie wie irgendein Tier an einen Baum gebunden hatte. Noch schlimmer war, dass sie den gesamten Nachmittag im Reich der Träume verbracht hatte.

Wenn es in diesem Tempo weiterging, würde sie Jagr nie erreichen.

Die attraktive Wolfstöle blieb direkt vor ihr stehen. Der Mann wirkte ziemlich mitgenommen mit seinem langen Haar, das ihm wirr um das schmale Gesicht hing, und seiner schwarzen Hose, die völlig verdreckt war. Ein Hemd fehlte ihm ganz.

Regan sah ihn finster an und war lächerlich befriedigt, als er vorsichtig einen Schritt nach hinten machte.

»Was haben Sie mir angetan?«, fragte sie heiser.

Mit einiger Anstrengung brachte die Wolfstöle eine brüchige Spur ihrer früheren Arroganz zustande.

»Das war nur eine kleine Zauberbombe, die ich mir von Sadies Schoßhexe ausgeliehen habe, bevor ich ihr die Kehle herausgerissen habe.«

Regan starrte ihn an, eigenartig schockiert über das unverblümte Geständnis. »Sie haben die Hexe umgebracht?«

»Das Amulett enthält einen Zauber, der den Geruch jeder Person überdeckt, die es trägt.« Duncan schnitt eine Grimasse. »Leider gibt es da auch noch einen zusätzlichen Zauber, mit dem die Hexe es an jedem Ort auf der Welt aufspüren konnte. Das ist Sadies hässliche Methode, die Kontrolle über ihr Rudel zu behalten. Keine Hexe, kein GPS.«

»Konnten Sie es nicht einfach abnehmen?«

»Damit alle Werwölfe und Vampire meinen Geruch wahrnehmen, die in Scharen nach Hannibal geströmt sind? Wohl kaum. Ohne die Hexe habe ich alle Vorteile des Amuletts ohne die unangenehmen Nebenwirkungen.«

Regan verzog sarkastisch die Lippen. » Wer sagt, es gäbe keine Ganovenehre?«

»Du solltest mir danken, Schatz.« Er ließ den Blick geflissentlich zu der Hosentasche gleiten, in der sie das Amulett versteckt hatte, das sie Culligan gestohlen hatte. Offensichtlich hatte er sie durchsucht, bevor er sie gefesselt hatte. »Außerdem habe ich jeden Anspruch auf Ehre verloren, als ich mich vor dreißig Jahren Caine angeschlossen habe. Ich hätte es besser wissen sollen, aber der Mann kann gut mit Worten umgehen. Er kann Leute beschwatzen, wie meine Mutter sagen würde, und er hat mich überzeugt, dass seine verrückten Ideen tatsächlich umsetzbar sind.«

»Caine.« Regan kniff wütend die Augen zusammen, als sie sich vergeblich gegen die Ketten wehrte, die ihr brennende Schmerzen verursachten. »Sie waren bei der Wolfstöle, die uns geraubt hat. Sie Mistkerl! Wie hat er vier Rassewolfkinder in die Finger bekommen?«

Ein schockierter Ausdruck bildete sich auf seinem Gesicht. »Woher weißt du …« Er unterbrach sich und fuhr sich mit den Händen durch sein zerzaustes Haar. »Egal. Caine hat noch nie freiwillig verraten, wie er dich und deine Schwestern in seine Gewalt bekommen hat. Alles, was ich weiß, ist, dass er mit euch vieren in den Jagdgründen von Illinois aufgetaucht ist und behauptet hat, eine Prophezeiung gehört zu haben, dass das Blut der Rassewölfe uns gesund machen würde.«

Ach ja, der Eckstein jedes großen Kultes. Irgendeine geheimnisvolle Prophezeiung … die Aussicht auf Größe… und so weiter und so fort.

»Eine Prophezeiung von wem?«, erkundigte sich Regan.

Duncan zuckte mit den Schultern. »Das ist eine dieser Fragen, die zu stellen sich noch niemand getraut hat. Oder vielleicht wollten wir auch einfach nicht fragen. Er hat uns Macht und Unsterblichkeit versprochen. Die Möglichkeit, vom Boden des Misthaufens ganz nach oben zu gelangen.« Die Wolfstöle schnaubte vor Selbstekel. »Du meine Güte, ich hätte wissen müssen, dass er ein Scheißkerl ist, als er uns nach Chicago gebracht hat und wir fast verhaftet worden wären.«

Seine Geschichte bestätigte das, was Regan von Gaynor und Culligan erfahren hatte, aber sie erklärte nicht, wie oder warum es die Wolfstöle geschafft hatte, vier Rassewölfinnen zu rauben.

Regan dachte nicht weiter über die Vergangenheit nach. Vielleicht fand sie ja nie heraus, wie Caine sie in seine dreckigen Finger bekommen hatte, und im Augenblick spielte das auch keine Rolle. Alles, was ihr wirklich wichtig war, war, eine Methode zu finden, sich zu befreien, sodass sie zu Jagr gelangen konnte.

»Wenn er so ein Scheißkerl ist, warum haben Sie mich dann gekidnappt?«, fuhr sie ihn an.

Duncans Gesicht versteinerte sich vor Ärger. »Ich hatte nicht vor, dich zu kidnappen. Ich bin zur Blockhütte zurückgekehrt, um Sadie gefangen zu nehmen. Natürlich ist diese Schlampe nie da, wenn ich sie wirklich brauche.«

Sadie gefangen nehmen?

Okay, das ergab ungefähr null Sinn.

»Ich dachte, ihr beide wärt ein Paar?«

»Sie ist so psychotisch wie Caine, und ich nehme für keinen von beiden die Schuld auf mich.«

Regan schüttelte den Kopf. Offenbar hatte die Zauberbombe sie komplett verwirrt. Sie hatte nicht den geringsten Schimmer, worüber er da jammerte.

Und in Wahrheit war es ihr eigentlich auch egal.

In wenigen Minuten würde die Sonne untergehen. Sie musste zu Jagr.

»Wenn Sie also Sadie wollten, warum haben Sie dann mich entführt?«

Duncan fuhr sich schon wieder mit den Händen durch die Haare und lief auf der kleinen Lichtung hin und her.

»Ich muss einfach hoffen, dass du genügst.«

»Wofür?«

Die Wolfstöle hielt an und holte tief Luft, bevor sie sich langsam umdrehte, um Regan mit einem harten, erbarmungslosen Blick anzusehen.

»Ich will einen Deal aushandeln.«

»Einen Deal mit Caine?«

»Nein, mit Salvatore.«

Ja, sie war definitiv komplett verwirrt, denn sie verstand nur Bahnhof.

»Sie … Sie wollen mit Salvatore verhandeln?«, stieß sie schließlich hervor. »Warum?«

Resignation vertrieb die brüchige Arroganz und zeigte einen ersten flüchtigen Eindruck von der echten Wolfstöle.

»Weil ich diese Selbstmordmission satt habe. Ganz zu schweigen davon, Sadies Prügelknabe zu sein«, gestand der Mann mit rauer Stimme. »Ich würde freiwillig alles, was ich über Caine und seine Verschwörung gegen das Versteck weiß, gegen das Versprechen eintauschen, dass die Rassewölfe mir Schutz bieten.«

Ganz plötzlich zweifelte Regan nicht mehr an seiner Aufrichtigkeit, nur noch an seiner geistigen Gesundheit.

»Haben Sie Salvatore schon mal getroffen?«, fragte sie. »Er ist nicht der Typ, der vergibt und vergisst. Ich bezweifle, dass ein bisschen Klatsch und Tratsch über Caine das ändern wird.«

Duncans Augen blitzten vor Wut. »Schön, wenn ihm Caine egal ist, was ist dann mit deiner Schwester?«

Gegen ihren Willen blieb Regans Herz einen Moment stehen. Das sensible Gehör der Wolfstöle konnte daraus wohl mühelos erkennen, wie viel die Information über ihre Schwester ihr bedeutete.Verdammt, sie hatte doch gewusst, dass die unwillkommenen Emotionen ihr in die Quere kommen würden.

Sie biss die Zähne zusammen. »Sie wissen, wo Caine sie gefangen hält?«

Er hielt inne, als ob er darüber nachdächte, ob er lügen sollte, aber gestand dann mit offensichtlichem Widerstreben die Wahrheit.

»Er wechselt ihren Aufenthaltsort häufig, aber ich weiß, wo die meisten seiner Labors versteckt sind. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bevor du ihn in die Enge treiben könntest.«

Regan runzelte die Stirn. Diese Information gehörte zu genau der Art von ungenauem, unzuverlässigem Blödsinn, den sich jeder ausdenken konnte. Trotzdem konnte sie die Chance, ihre Schwester zu retten, nicht einfach aufgeben, so gering sie auch sein mochte.

Gerade sie verstand, dass ab und zu Wunder passierten.

Das bedeutete allerdings nicht, dass der arrogante König der Werwölfe willens sein würde, einen Deal mit der verräterischen Wolfstöle abzuschließen.

»Warum sollte Salvatore Ihnen trauen?«, fragte sie. »Sie haben doch schon bewiesen, dass Sie ein Verräter sind.«

»Darum wollte ich ja Sadie gefangen nehmen«, knurrte er frustriert. »Ich wollte sie als Geste meines guten Willens aushändigen, aber an ihrer Stelle bist du aus der Blockhütte gekommen. Jetzt habe ich keine andere Wahl, als zu hoffen, dass ich, indem ich dich nicht Caine ausgeliefert habe, als ich es gekonnt hätte, bewiesen habe, dass meine Absichten ehrlich sind.«

Regan schnaubte verächtlich.Wenn Duncans Absichten ehrlich waren, war sie die Königin von England.

»Na klar.«

Er zuckte die Achseln. »Okay, meine Absichten sind völlig selbstsüchtig, aber wenn du deine Schwester zurückhaben willst, bin ich deine größte Hoffnung.«

Regan biss die Zähne zusammen. Auch wenn es sie total ärgerte, in eine offenkundige Erpressung einzuwilligen, würde sie im Moment alles tun, sogar ihre Seele verkaufen, um ihre Freiheit zu gewinnen und zu Jagr zu gelangen.

Außerdem – wenn es auch nur die entfernte Möglichkeit gab, dass ihre Schwester gerettet werden konnte, dann sollte sie sie ergreifen.

»Schön, lassen Sie mich gehen, dann nehme ich Kontakt zu Salvatore auf …«

»Nein«, unterbrach er sie rüde. Sein Gesichtsausdruck war hart.

Regan wehrte sich gegen die Ketten und ignorierte den sengenden Schmerz, der ihren Körper erschütterte. Sie hatte in all den Jahren weitaus Schlimmeres ertragen.

»Ich habe keine Zeit für diesen Mist«, zischte sie. »Lassen Sie mich frei, oder ich schwöre bei Gott, Salvatore wird Ihre kleinste Sorge sein.«

Bei der unverblümten Drohung in ihrer Stimme wurde er bleich, behauptete sich aber trotzdem noch hartnäckig.

»Ich brauche sein Versprechen, dass er mir seinen Schutz bietet, bevor ich dich freilasse.«

»Und wie zum Teufel soll er Ihnen dieses Versprechen geben? « Regan kniff die Augen zusammen. »Haben Sie ihn auch entführt?«

»Nein, die zweitbeste Möglichkeit.« Mit zwei langen Schritten war Duncan bei einer Decke angelangt, die über einen Busch in der Nähe gelegt worden war, und zog sie beiseite.

Nur war es kein Busch.

Regan riss vor Schreck die Augen auf, als sie den winzigen Gargylen erkannte, der im Augenblick in Stein eingeschlossen war.

»Levet«, keuchte sie. Sie sah wieder Duncan an und durchbohrte ihn mit einem wütenden Blick. »Sie verdammter …«

»Er ist nicht verletzt. In wenigen Minuten wacht er auf. Dann kann er direkt Kontakt zu Salvatore aufnehmen.«

Regan zog die Brauen zusammen. »Er ist ein Gargyle, kein Handy.«

»Alle Gargylen, ganz egal, wie klein sie sind, können ein Portal zu den Gedanken einer anderen Person öffnen.«

Regan schnitt eine Grimasse, als sie sich vorstellte, wie dieser sonderbare Riss im Raum, den Gaynor beschworen hatte, sich in dem Kopf von jemandem öffnete.

»Igitt.«

Duncan sah sie mit einem Anflug von Überraschung an, als sei er erstaunt, dass sie so ahnungslos war.

»Das ist kein physisches Portal. Eher so was wie eine … drahtlose Verbindung.Was bedeutet, dass es nicht mal mit magischen Mitteln belauscht oder aufgespürt werden kann.« Geistesabwesend hob er die Hand, um das Amulett zu streicheln, das ihm um den Hals hing. »Niemand wird von diesem ›Anruf‹ erfahren außer uns dreien und Salvatore.«

»Leicht paranoid, wie?«, murmelte Regan. Sie fühlte sich dumm, weil sie von Levets Fähigkeit nichts gewusst hatte.

Er funkelte sie bei ihrer spöttischen Bemerkung zornig an. Sein Gesicht wirkte in den immer länger werdenden Schatten angespannt.

»Du bist Caine noch nicht begegnet. Er mag ja ein mystischer Fanatiker sein, aber er ist ungeheuer schlau und hat seine persönlichen Spione überall. Noch nie hat jemand ihn zu hintergehen versucht und das überlebt.«

Regan war gerade im Begriff, die Wolfstöle zu informieren, dass Caine sich bei Weitem nicht mit Salvatore messen konnte, wenn es um gnadenlose Gerissenheit ging, wurde aber von dem unverkennbaren Knacken von aufspringendem Stein abgelenkt.

Sie drehte den Kopf und sah ehrfürchtig zu, wie der Granit von dem Levet-Standbild abbröckelte und den Gargylen enthüllte, der sich darunter befand.

»Sacrebleu.« Levet schüttelte sich heftig und befreite sich dadurch von den Steinchen, die noch an ihm hafteten. Dann watschelte er vorwärts und fuchtelte ärgerlich mit den Armen herum. »Du räudiger, verlauster Hund, ich werde …« Als er mit einiger Verspätung die an einen Baum gebundene Regan bemerkte, riss er erschrocken die Augen auf. »Ma chérie, was tun Sie denn hier? Sind Sie verletzt?«

»Stinksauer bin ich, sonst nichts«, erwiderte sie mürrisch.

Levet zog die Stirn in Falten, als er sich auf der Insel umsah. »Wo ist Ihr Vampir?«

Regan drehte den Kopf, um Duncan wütend anzufunkeln. »Er wartet auf mich und wird nicht gerade glücklich sein, wenn ich zu spät komme.«

Duncan stemmte die Hände in die Hüften. »Bring den Gargylen dazu, Kontakt zu Salvatore aufzunehmen, dann bist du frei wie ein Vogel.«

Regan knirschte mit den Zähnen. Sie wusste, dass sie in einer Zwickmühle steckte.

Eine Stimme flüsterte in ihrem Hinterkopf, dass es ja nicht das erste Mal war.

Verdammt, es war nicht einmal das erste Mal am heutigen Tag.

Und bei ihrem Glück würde es auch nicht das letzte Mal sein.

»Gott.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem argwöhnischen Gargylen zu. »Levet, ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«