KAPITEL 12

Es war nicht leicht, einen Vampir zu bezwingen, der so alt war wie Jagr.

Seine Kräfte waren Furcht einflößend, seine Intelligenz eindrucksvoll, und er konnte allein mit der Stärke seines Willens die schrecklichsten Gegner besiegen.

Aber er konnte nicht der Tatsache entrinnen, dass er von einer cholerischen, unberechenbaren, ärgerlich schönen Werwölfin in die Knie gezwungen worden war.

Jagr legte das Kinn auf Regans Kopf und umschlang sie fest mit den Armen. Reuevoll erfasste er mit dem Blick die Glasscherben und die zerbrochenen Bilder, deren Scherben auf dem ganzen Teppich verstreut waren.

Er verlor niemals die Kontrolle. Und ganz gewiss nicht beim Sex.

Allerdings war das, was er gerade mit Regan geteilt hatte, nicht nur Sex gewesen.

Es war … Zum Teufel, er hatte nicht einmal ein Wort für die erstaunlichen Gefühle, die seinen Körper weiterhin erbeben ließen.

Ein Vampir würde alles dafür opfern (seinen Clan, seine geistige Gesundheit, selbst seine Seele), um eine solche Freude zu erleben.

Unglücklicherweise war Regan nicht danach bestrebt, dass jemand Anspruch auf sie erhob. Insbesondere nicht ein arroganter, überfürsorglicher Vampir, der über die sozialen Fertigkeiten einer übellaunigen Kobra verfügte.

»Regan …«

Seine sanften Worte wurden ihm abgeschnitten. Regan legte ihm die Hand auf den Mund und veränderte ihre Position, sodass sie ihn anfunkeln konnte. Die Verärgerung in ihrem Blick hatte er nicht erwartet.

»Nein.«

So viel zu den zärtlichen, intimen Liebkosungen, die er sich ausgemalt hatte.

Jagr löste ihre Finger von seinen Lippen und betrachtete ihr schönes Gesicht, das von zerzausten goldenen Locken umrahmt wurde. Ein selbstgefälliger Stolz stieg in ihm auf, als er die Erregung wahrnahm, die Regans Augen noch immer verdunkelte, und die Röte in ihrem Gesicht durch den Genuss, den sie nicht verbergen konnte.Vielleicht würde sie niemals zugeben, dass sie in seiner Berührung Befriedigung gefunden hatte, aber es stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Ist es nicht ein wenig zu spät, um Nein zu sagen?«

»Ich meine, ich möchte nicht analysieren, was gerade passiert ist.«

Er zog amüsiert die Augenbrauen in die Höhe. »Hast du etwa den Eindruck, ich gehöre zu den analytischen Vampiren? «

Ganz plötzlich zog sie das schwarze Laken über ihren schlanken Körper.

»Ich will einfach nicht darüber reden.«

Jagr widerstand dem Drang nachzuhaken. Er mochte die mysteriösen Wege des weiblichen Verstandes vielleicht nicht nachvollziehen können, doch er kannte seine störrische Werwölfin. Wenn sie zu dem Ergebnis kam, dass sie nicht über das reden wollte, was sie gerade miteinander geteilt hatten, gab es nicht eine einzige verdammte Sache, die er dagegen tun konnte.

»Was auch immer dich glücklich macht, meine Kleine.« Jagr drückte einen Kuss auf ihren Kopf, glitt vom Bett herunter und zog einen seidenen Morgenmantel an, den Tane auf einem Stuhl in seiner Nähe deponiert hatte. »Hast du Culligans Tresor? «

Regan rutschte im Bett nach oben, bis sie aufrecht dasaß, wobei sie albernerweise nach wie vor die Decke um sich geschlungen hatte. Als habe er nicht jeden bezaubernden Quadratzentimeter ihres Körpers geküsst.

»Er ist in einer von meinen Tüten. Warum?«

»Im Augenblick stellt er die einzige Verbindung zu Culligan dar, über die wir verfügen.«

Jagr kehrte ins Wohnzimmer zurück und suchte Regans kostbare Tüten sowie seine eigene Tasche zusammen. Dann kehrte er ins Schlafzimmer zurück und durchsuchte sie, bis er den kleinen Safe entdeckte, der zwischen Regans Kleidung versteckt war.

Regan runzelte die Stirn. »Denkst du, wir haben vielleicht was übersehen?«

Jagr drehte den Tresor in seinen Händen hin und her und ließ seine Finger über das glatte Metall gleiten. »Kobolde sind bekanntlich paranoid, wenn es um ihre Schätze geht. Es muss zumindest ein Geheimfach geben, das wir noch nicht gefunden haben.«

»Und was machst du jetzt? Versuchst du damit Zauberwürfel zu spielen?«

»Ich ziehe einen direkteren Vorstoß vor.« Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung riss Jagr den unteren Teil des Tresors ab.

»Du bist ein sehr zerstörerischer Dämon«, murmelte Regan und warf einen Seitenblick auf das zerbrochene Glas, das auf dem Boden verteilt war, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den zerbrochenen Safe richtete.

Jagr verkniff sich klugerweise sein Lächeln. Es war ihm gelungen, sich an ihren starken Schutzschilden vorbeizuschleichen, ihre intimsten Sehnsüchte zu schüren. Nun versuchte sie verzweifelt, ihn fortzustoßen.

»Aber effektiv.«

»Na klar.«

Jagr griff in das gähnende Loch, zog einen dicken Umschlag heraus und warf ihn Regan in den Schoß.

»Ich glaube, ich habe den Beweis angetreten.«

Sie rollte mit den Augen und riss den Umschlag auf. »Gefälschte Ausweise … Kreditkarten …« Sie hielt inne und faltete ein Blatt Papier auseinander. »Ah, das ist interessant.«

»Was ist das?«

»Eine Nachricht …«

 

Clemens Tea Shop. Samstag. Mitternacht.

 

Regan hob den Kopf, ihre Augen waren geweitet. »Culligan hat St. Louis am Samstag verlassen.«

»Ich erinnere mich, eine Hinweistafel gesehen zu haben. Es ist ein Restaurant im Westen der Stadt.«

»Das könnte die Erklärung sein, warum Culligan nach Hannibal gekommen ist.«

»Es wäre eine Untersuchung wert«, stimmte Jagr langsam zu.

»Ja, das stimmt.« Sie rutschte in Richtung Bettkante. »Und genau das werde ich auch tun.«

Er zog die Brauen zusammen. »Jetzt?«

»Natürlich jetzt.«

»Regan, wir können nicht sicher sein, dass uns niemand gefolgt ist.«

»Um Gottes willen, dein Jason-Bourne-Möchtegernfreund hat halb Missouri verkabelt wie das Pentagon.Wenn da draußen irgendwas wäre, hätte er es längst mit seiner Strahlenkanone verdampft.«

Jagrs Stirnrunzeln vertiefte sich. Er konnte nicht leugnen, dass Tane weit über die üblichen Schutzmaßnahmen hinausgegangen war. Oder dass er mit Leichtigkeit jede streunende Wolfstöle in der Umgebung entdeckt hätte.

Er konnte nicht einmal die Notwendigkeit leugnen herauszufinden, wer die Nachricht an Culligan geschickt hatte.

Aber jeder seiner Instinkte schrie danach, Regan sicher in diesem Versteck verborgen zu wissen, in dem nichts an sie herankommen konnte.

Fast so, als spüre sie die Weigerung, die ihm auf der Zunge lag, rutschte Regan vom Bett herunter, schnappte sich eine der Tüten und eilte in Richtung Badezimmer. Jagr konnte nur einen kurzen Blick auf ihre appetitliche Kehrseite werfen, bevor sich die Tür hinter ihr schloss und er hörte, wie die Dusche angestellt wurde.

Jagr, der allein im Schlafzimmer zurückblieb, riss sich den Morgenmantel vom Leib und zog eine schwarze Jeanshose und einen schwarzen Pullover an, die er aus seiner Tasche zog. Ein geringerer Vampir wäre vielleicht gekränkt von Regans verzweifeltem Wunsch gewesen, vorzugeben, sie habe ihm nicht soeben ihre Unschuld geschenkt. Oder ihre peinliche Hast, Schatten nachzujagen, statt allein mit ihm in dem abgelegenen Versteck zu bleiben.

Glücklicherweise war er kein geringerer Vampir.

Nur einer, der plötzlich in der Stimmung war, die Zerstörung der restlichen Pornobilder zu vollenden, die an den Wänden hingen.

Jagr flocht sein Haar, band es mit einem Lederband zusammen und zog seine schweren Stiefel an, gefolgt von seinen Waffen. Die beiden Dolche ließ er in Futterale in seinen Stiefeln gleiten, und die Handfeuerwaffe schob er hinten in seinen Hosenbund. Die Silberkugeln kämen gelegen, wenn sie auf eine Wolfstöle stießen.

Es war unbedingt nötig, dass er den quälenden Duft von Seife und süßem Jasmin ignorieren konnte.Also kehrte er in die Küche zurück und leerte eine Flasche mit Blut, die im Kühlschrank stand. Sein Bedürfnis nach Nahrung war nicht sonderlich groß, doch er wollte nicht riskieren, dass sich sein Hunger regte, während sie sich auf der Jagd befanden.

Selbst wenn Regan bereitwillig Blut spendete, war er doch kein Masochist. Diese nervtötende Frau bedeutete eine Bedrohung für mehr als nur seine geistige Gesundheit.

Es gab die sehr reale Gefahr, dass Regan seine wahre Gefährtin sein konnte.

Ein Schicksal verfluchend, das entschlossen schien, ihn zu quälen, versteifte Jagr sich, als sie in der Türöffnung auftauchte, das feuchte Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und die schlanken Kurven mit einer niedrig sitzenden Jeanshose und einem allzu eng anliegenden Strickoberteil bedeckt.

Hitze, roh und primitiv, flammte in ihm auf. Verdammt. Wenn er nach Chicago zurückkehrte, hatte er die Absicht, Styx in den Hintern zu treten.

Der uralte Vampir musste sich für einiges verantworten.

Regan, die zum Glück Jagrs düstere Gedanken nicht lesen konnte, forschte mit vorsichtigem Ausdruck in seinem Gesicht.

»Solltest du nicht das Chaos im Schlafzimmer beseitigen?«

Jagr zuckte mit einer Schulter und wandte sich der Tür zu, die aus der Wohnung herausführte. Es war nicht die richtige Zeit, näher auf den intensiven Genuss einzugehen, der dazu geführt hatte, dass seine Macht Tanes abstoßende Kunstwerke zerbrochen hatte. Nicht, wenn er seine wenigen übrigen Gehirnzellen dazu benötigte, um dafür zu sorgen, dass er sie nicht in eine weitere Katastrophe führte.

»Tanes Bedienstete können die Dinge zum Abfall werfen. Dorthin gehörte dieser Plunder ohnehin«, murmelte er, öffnete die Tür und wartete, bis sie an ihm vorübergegangen war, bevor er die Tür wieder schloss und sich auf den Weg durch den schmalen Gang machte.

Regan ging neben ihm her, und ihr sarkastischer Blick war ihre einzige Reaktion auf seine mürrische Stimmung.

»Also hast du dein eigenes Versteck nicht mit Hustler-Ausschussware dekoriert?«

»Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, überhaupt zu dekorieren. «

»Warum überrascht mich das nicht?«

»Es schien mir nicht notwendig.« Jagr blieb abrupt stehen, nahm Regans Gesicht in beide Hände und stahl ihr einen schnellen, frustrierten Kuss. Als er den Kopf wieder hob, sah er ihren erstaunten Blick. »Bis jetzt.«

Ihre Lippen öffneten sich zu einer bissigen Bemerkung, aber bevor sie Atem holen konnte, trat er in die Kommandozentrale und sprach mit dem dunkelhaarigen Vampir, der Wache hielt.

»Wir benötigen ein Transportmittel.«

Der Krieger mit dem dunklen Haar, das er sehr kurz geschoren trug, und der großen Gestalt, die mit zahlreichen Waffen ausgestattet war, erhob sich. Ganz offensichtlich hatte er den Befehl, Jagr mit allem zu versorgen, was immer er benötigte.

»Folgt mir.«

Indem er sich trocken fragte, was Tane wohl als Bezahlung für seine Gastfreundschaft verlangen würde, folgte Jagr dem anderen Vampir durch den Raum.

Er wartete ab, bis der Bedienstete eine schmale Tür geöffnet hatte, und war nicht überrascht, als er die riesige Tiefgarage entdeckte, die ein Dutzend glänzende Autos enthielt. Viele Vampire waren von teuren Wagen fasziniert. Regan ihrerseits holte schockiert Luft.

»Gott, kein Batmobil?«

»Dessen Reifen werden gerade gewechselt.« Er führte sie durch die Parkgarage auf eine dunkle Ecke zu.

Sie streckte die Hand aus, um über die eleganten Kurven eines silbernen Mercedes zu streichen, an dem sie vorbeikamen.

»Ich frage mich, ob Salvatore eine Werwolfassassine braucht. Ich könnte so eine Bezahlung gebrauchen, die sich offensichtlich im finanziellen Bereich von Donald Trump bewegt.«

Jagr wurde zornig. Salvatore mochte zwar nicht willens sein, Regan als seine Königin anzunehmen, aber er war mehr als interessiert daran, sie in sein Bett mitzunehmen. Bevor das geschah, würde Jagr den König jedoch in die Hölle schicken.

»Du benötigst Salvatore nicht. Der Anasso würde dir freiwillig jeden Luxus bieten, den du haben möchtest.« Er verzog die Lippen. »Ich kann dir versprechen, dass sein Reichtum wesentlich größer ist als der Donald Trumps.«

»Ich brauche die Wohltätigkeit des Anasso nicht.« Regan riss sich von ihm los. »Oder die Bedingungen, die damit verknüpft sind.«

»Nein, du schnittest dir lieber ins eigene Fleisch«, knurrte er und ignorierte ihr wütendes Funkeln, als er neben einem zerbeulten roten Lieferwagen stehen blieb. »Dies sollte ausreichen.«

»Dies?« Sie rümpfte die Nase. »Soll das ein Witz sein? Da gibt es einen Lamborghini, einen Porsche, einen Aston Martin und zwei Corvettes, die geradezu darum betteln, dass man mit ihnen fährt, und du willst diese Schrottkiste nehmen?«

Jagr öffnete die Beifahrertür für sie und sah sie mit einem kritischen Blick an. »Ich ziehe es vor, keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Wie viele Lamborghinis hast du bisher in Hannibal zu Gesicht bekommen?«

»Schön.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum gehen wir dann nicht dahin zurück, woher wir gekommen sind? Ich würde lieber zu Fuß gehen, als in diesem Ding durchgeschüttelt zu werden.«

»Die Wolfstölen werden nicht nach einem roten Lieferwagen Ausschau halten«, betonte Jagr. »Und wir könnten ihn brauchen, falls jemand von uns verletzt wird.«

»Spielverderber«, murmelte sie und griff widerwillig nach dem Türgriff, um in das hohe Führerhaus zu steigen.

»Das habe ich schon einmal gehört.«

Jagr wartete, bis sie sich auf den abgenutzten Ledersitz gesetzt hatte, schloss die Tür hinter ihr und umrundete die Motorhaube, um seinen Platz hinter dem Steuer einzunehmen. Er beachtete den Schlüssel im Zündschloss nicht weiter, sondern nutzte seine Kräfte, um den kraftvollen Motor zu starten, und steuerte auf den Tunnel zu, der aus dem unterirdischen Komplex herausführte.

Sie tauchten aus dem Tunnel auf und fanden sich inmitten eines Dickichtes aus Bäumen und Unterholz wieder, das die Öffnung vor neugierigen Blicken schützte. Oder zumindest vor den neugierigen Blicken von Menschen. Der Wolfsanteil in Regan war so groß, dass sie die zahlreichen Kameras entdeckte, die zwischen den Ästen versteckt waren, sowie hin und wieder einen Vampir, der durch die Dunkelheit glitt.

»Scheiße.« Ihr Blick blieb an den Hitzedetektoren hängen, die in einer Gruppe von wilden Gänseblümchen verborgen waren. »Und was passiert, wenn jemand zufällig auf diese kleine Area 51 stößt?«

Jagr zuckte die Achseln. »Sie werden fortgeschafft, und ihre Erinnerungen werden verändert.«

»Genau wie bei der anderen Area 51.«

Seine Lippen zuckten. »Nicht so ganz.«

Er nahm den schmalen Weg durch die Felder der Umgebung, wobei er die Scheinwerfer nicht einschaltete, bis sie auf eine befestigte Straße kamen, die nach Süden führte. Dann ignorierte er jede Intelligenz, die er besaß, und jagte den Motor hoch, sodass sie in einem atemberaubenden Tempo nach Hannibal rasten.

Lange Minuten herrschte Schweigen. Jagr grübelte über seinen Absturz in den Wahnsinn nach, und Regan beobachtete die vorbeiziehende Landschaft mit einer merkwürdigen Neugierde.

Schließlich schrieb Jagr sein sonderbares Verhalten einem Ausbruch von Demenz zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau an seiner Seite.

»Du bist beängstigend ruhig. Planst du ein allgemeines Chaos oder nur mein eigenes Ableben?«

»Ich genieße den Ausblick auf die Landschaft.«

Sein Blick ruhte auf den Feldern, die irgendwann mit Mais, Sojabohnen und stellenweise auch mit Sorghumhirse bepflanzt werden würden. Die kürzlich bestellten Felder waren zweifellos ein hübscher Anblick für die örtlichen Farmer, gehörten aber wohl kaum zu den sieben Weltwundern.

»Den Ausblick auf die Landschaft?«

Ihre Lippen kräuselten sich zu einem wehmütigen Lächeln. »Culligan hat immer die Nebenstraßen genommen, wenn wir von Stadt zu Stadt gefahren sind. Ich habe immer die Menschen beneidet, die gemütlich in ihren Betten lagen und keine Ahnung von den Monstern hatten, die in der Dunkelheit lauerten. «

Jagr verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er hatte keine Erinnerung an die Zeit als Mensch, aber die Gerüchte über seine brutalen Ausschreitungen waren legendär. Es waren nicht viele Tränen vergossen worden, als er auf mysteriöse Weise verschwunden war.

»Bei den Menschen gibt es durchaus auch Monstren.«

»Vielleicht, aber die Landschaft sieht immer so friedlich aus. Vor allem nachts.«

»Offensichtlich hast du nicht das Buch Kaltblütig gelesen. In dieser wahren Geschichte wird eine vierköpfige Farmerfamilie grausam ermordet.«

Sie rollte mit den Augen. »Gesprochen wie ein wahrer Stadtvampir. «

»Ich habe nicht immer in Städten gelebt, weißt du«, erwiderte er langsam. »Ich habe Jahrhunderte verborgen in Verstecken gelebt, die so abgelegen waren, dass ich Stunden brauchte, um zu meiner Nahrung zu gelangen.«

»Jahrhunderte in Einsamkeit?« Sie holte tief Luft. »Das klingt paradiesisch.«

»Manchmal.« Er drosselte die Geschwindigkeit, als er sich zu Regan umdrehte, um die glatte Perfektion ihres Profils zu studieren. »Doch es gibt auch Zeiten, in denen es einsam, langweilig und beängstigend ist.«

Sie wandte sich zu ihm um und begegnete seinem intensiven Blick. »Beängstigend?«

»Ohne Verbindung zur Welt wird es allzu einfach, den Sinn darin anzuzweifeln, weiterhin zu existieren.«

Selbst in der Finsternis hatte Jagr keine Mühe, Schock und Entsetzen zu erkennen, die sich auf ihrem Gesicht abzeichneten.

»Hast du …?«

»Wenn ich nicht die Leidenschaft für meine Forschung entdeckt hätte, hätte ich nicht gegen die Verlockung angekämpft, das alles zu beenden«, gestand er bereitwillig. »Das ist eine Versuchung, gegen die alle Unsterblichen ankämpfen müssen.«

Ohne Vorwarnung begann sie zu zittern und schlang die Arme um ihre Körpermitte, als ob sie sich vor einem plötzlichen Kältegefühl schützen wolle.

»Du solltest besser nicht so was Dummes tun, während ich in deiner Nähe bin, Meister«, murmelte sie. »Ich habe vor, die einzige Tragödie zu sein, die dir zustößt.«

Ein Anflug von Befriedigung erfasste ihn bei ihrer unverkennbaren Sorge. Ihr gefiel der Gedanke nicht, dass er seiner inhaltslosen Existenz beinahe ein Ende bereitet hätte.

»Keine Sorge, meine Kleine, du wirst mich nicht so einfach los.«

Sie drehte absichtlich den Kopf weg, um aus dem Fenster zu starren, während sie vorgab, an Häusergruppen, Parkplätzen und Tankstellen interessiert zu sein, die die Felder ablösten, als sie um den Stadtrand herumfuhren. Jagr ermöglichte es ihr, stumm mit ihren Emotionen zu kämpfen, während er sich selbst zwang, zu überlegen, wo genau er das Teeladenschild gesehen hatte.

Während sie durch die schlafenden Wohnstraßen krochen, hätte er beinahe das restaurierte dreistöckige Haus übersehen, das hinter zwei hoch aufragenden Eichen stand.

»Hier ist es«, sagte er und hielt abrupt auf der anderen Straßenseite an. Es war beinahe zwei Uhr morgens, und in den feineren Stadtvierteln von Hannibal lagen die Bürgerinnen und Bürger wohlbehalten in ihren Betten.

Regan beugte sich vor und studierte das hübsche weiße Gebäude mit den rosafarbenen Dekorationen und all den Schnörkeln, nach denen die Leute aus der Viktorianischen Zeit süchtig gewesen waren.

»Nein.« Regan schüttelte den Kopf. »Das kann nicht stimmen. «

Er warf einen betonten Blick auf die goldenen Lettern auf dem Erkerfenster. »Hier wird behauptet, das sei der Clemens Tea Shop. Meinst du, es gibt mehr als einen?«

»Das ist viel zu exklusiv für Culligans Freunde«, murmelte sie. »Der hängt üblicherweise mit anderen Schmarotzern rum.«

»Schön. Wir können zum Versteck zurückkehren und …«

Er verkniff sich sein Lächeln, als Regan hastig die Tür öffnete und aus dem Lieferwagen sprang.

»Wir können auch genauso gut mal einen Blick darauf werfen, wenn wir schon mal hier sind.«

Jagr holte sie ein, als sie über den weißen Palisadenzaun sprang, und seine Sinne versicherten ihm, dass es im Haus lediglich eine umherstreifende Katze gab. Natürlich waren seine Sinne wertlos, wenn es um die Wolfstölen und ihre verdammte Hexe ging, wie er sich in Erinnerung rief. Er zog die Handfeuerwaffe aus seinem Hosenbund, als sie das Haus umrundeten und den winzigen Rosengarten auf der Rückseite betraten.

Als sie den Rand der Terrasse erreichten, die mit Tischen übersät war, blieben sie beide abrupt stehen.

» Riechst du das?«, fragte Regan, und ihre Augen glitzerten, als sie den deutlichen Pfirsichgeruch wahrnahm, der nichts mit den Torten oder dem Gebäck zu tun hatte, die in der nahe gelegenen Küche hergestellt und hier serviert wurden.

Jagr nickte. Es war nicht der eindeutige Pflaumengeruch von Culligan, aber er gehörte definitiv zum Feenvolk.

»Ein Kobold. Männlich.« Seine Finger schlossen sich fester um den Griff der Waffe. »Erkennst du den Geruch?«

»Nein.« Sie holte tief Luft und nutzte ihre Werwolfkräfte, um zu wittern. »Ich glaube nicht, dass Culligan je im Kontakt mit diesem Kobold stand, während er mich gefangen gehalten hat.«

»Weshalb sollte dieser mysteriöse Kobold also Kontakt zu ihm aufnehmen, mit einer Einladung, sich in Hannibal zu treffen? «

Ihre Augen weiteten sich. »Eine Falle?«

Das war auch Jagrs erster Gedanke gewesen. »Ein Kobold würde seine eigene Mutter verkaufen, wenn er daraus Gewinn ziehen könnte.«

Ihre Lippen kräuselten sich in freudiger Erwartung. »Ich glaube, ich würde diesen Kobold gerne treffen.«

Jagr sah sie finster an. In ihm sträubte sich alles allein bei dem Gedanken, dass Regan einen Kobold jagte, der möglicherweise über alle möglichen hässlichen Fertigkeiten verfügte.

»Ich werde ihn aufspüren.« Er achtete sorgsam darauf, seine Worte eher nach einer Bitte als nach einem Befehl klingen zu lassen. »Du kehrst in Tanes Versteck zurück, und ich werde …«

»Fang bloß nicht so an.« Sie stemmte die Hände in die Hüften, und ihr Gesicht hatte seinen störrischsten Ausdruck angenommen.

»Regan, wir wissen nichts über diesen Kobold oder wie eng der Umgang ist, den er mit den Wolfstölen pflegt.«

»Hör mal, ich habe dir erlaubt, mit mir herumzuhängen, weil du ab und zu mal nützlich bist, aber ich nehme von dir keine Befehle entgegen.« Sie kniff die Augen zusammen. »Verstanden? «

Er murmelte einen leisen Fluch. »Also willst du dich in Gefahr begeben, um zu beweisen, dass du das kannst?«

»Ich will das tun, was nötig ist, um Culligan zu finden. Für den Fall, dass du das vergessen hast – das ist der Grund, warum ich hier bin.« Sie drehte sich um und marschierte auf die Hecke auf der Rückseite zu. Ihr Rücken war durchgedrückt, als sie der Spur des Kobolds folgte. »Das ist der einzige Grund, warum ich hier bin.«

Jagr zwang sich, ruhig zu bleiben, und kämpfte mit seiner raubtierhaften Natur, die von Regans unverfrorener Herausforderung bis zum Siedepunkt aufgewühlt war.

Wenn er bereits Anspruch auf sie erhoben hätte, dann wären diese Wortgefechte nichts weiter als die köstlichen Spiele zwischen Gefährte und Gefährtin. Doch ohne die Verbindung …

Verdammt.

Er hatte angenommen, Kesi sei die Folterexpertin.

Sie war eine Amateurin, verglichen mit Regan.

 

Levet trat nach einem vereinzelten Stein, als er am Ufer des Mississippi entlangwanderte.

Er hatte vor zwei Stunden den Pflaumengeruch eines Kobolds gewittert und war seitdem eifrig auf der Suche nach ihm gewesen. Mon dieu. Er war sich so sicher gewesen, dass dies die Gelegenheit war, diesem eiskalten Westgotenhäuptling zu zeigen, wer der bessere Dämon war.

Allerdings sank seine Hochstimmung rasch ins Bodenlose und verwandelte sich in erschöpfte Verärgerung, als die Spur ihn anscheinend auf eine sinnlose Suche durch den Morast und Dreck führte, den Missouri in erstaunlicher Hülle und Fülle hervorbrachte.

Nicht zum ersten Mal dachte er darüber nach, sich aus dieser ganzen Vampirhandlangersache zurückzuziehen und sich auf einer hübschen, ruhigen Kirche in Florida zur Ruhe zu setzen.

Oder vielleicht auch in Arizona.

Die Feuchtigkeit tat seiner Haut nicht gut.

Schließlich war es ja nicht so, dass die kaltblütigen Bastarde seine sensationellen Fähigkeiten tatsächlich zu schätzen wussten. Sacrebleu, sie bemerkten ja kaum, dass er ein vollwertiger Gargyle war – ganz zu schweigen davon, dass sie ihn nicht mit dem Respekt behandelten, der ihm gebührte.

Weshalb also stapfte er durch das abscheuliche Unkraut und folgte einem noch abscheulicheren Kobold, während dieser verdammungswürdige Vampir wieder einmal damit beschäftigt war, die schöne Jungfer in Bedrängnis zu betören?

Weil er ein Schwachkopf war, deshalb.

Ein Schwachkopf mit wunden Füßen, einem leeren Magen und der wachsenden Gewissheit, dass er nicht mehr tat, als im Kreis zu laufen.

Er brauchte eine Pizza. Eine extragroße Pizza mit doppelt Käse, viel Fleisch, einer dicken Kruste …

»Pssst.«

Erschrocken über das unerwartete Geräusch, riss Levet den Kopf hoch und entdeckte eine Frau, die in den mächtigen Fluten des Flusses schwamm. Ihre reine weiße Haut, ihre schräg gestellten blauen Augen und ihr hellgrünes Haar enthüllten, dass sie nicht menschlich war.

Ein Wassergeist.

Und zwar einer, dem er schon begegnet war.

Das Pech verfluchend, das ihn seinen Weg mit Bella, dem nervtötenden Wassergeist, hatte kreuzen lassen, versuchte Levet das flatterhafte Wesen nicht zu beachten.

»Hey. Hey, du!« Sie schwamm näher ans Ufer und winkte mit einem Arm, als sei er zu dumm, um einen Wassergeist zu bemerken, der einen Steinwurf von ihm entfernt auftauchte. »Hier drüben! Pssst.«

»Hör auf mit deinem ›Pssst‹«, knurrte er und setzte seinen Weg am Flussufer entlang fort.

»Ich kenne dich.«

»Non, du kennst mich nicht«, wies er ihre Behauptung zurück.

»Doch, ich kenne dich. Du bist Levet, der verkümmerte Gargyle.«

Bei dieser Beleidigung blieb er stehen und fuhr herum, um mit einer knotigen Klaue auf den dummen Quälgeist zu deuten. »Ich bin nicht verkümmert. Ich bin vertikal herausgefordert. «

Sie klimperte mit den langen Wimpern, und ihre Schönheit war im silbernen Mondlicht beinahe atemberaubend. Natürlich war es diese Schönheit, die seit Anbeginn der Zeit Seeleute in den Untergang getrieben hatte.

Levet hatte seine Lektion gelernt, als der Wassergeist durch sein Portal gekrochen war, bei seinem Versuch,Viper und Shay vor dem früheren Anasso zu retten, der völlig verrückt geworden war.

»Ich habe dich schon einmal groß gemacht, als du gegen diesen ekelhaften Vampir gekämpft hast«, flüsterte sie. Damit erinnerte sie ihn an die Freude, die er empfunden hatte, als er über eine Statur verfügt hatte, die die meisten seiner Brüder als selbstverständlich erachteten. Mon dieu. Das war so eine herrliche Sache gewesen. »Willst du, dass ich dich wieder groß mache?«

»Ich habe dich nicht beschworen.Verschwinde.«

»Ich langweile mich.«

»Dann geh, und nerve die Fische.« Er warf sich in die Brust. »Ich bin in einer wichtigen Angelegenheit unterwegs.«

»Was für eine wichtige Angelegenheit sollte ein Miniaturgargyle wohl zu erledigen haben? Jagst du Wichtel?«, spottete sie, und ihr Gelächter klang glockenhell durch die Nachtluft. »Oh, ich weiß, ich weiß. Du jagst Hobbits.«

»Wirklich ungeheuer amüsant.« Levet ballte die Hände zu Fäusten und nahm seine Wanderung durch den Schlamm wieder auf. »Ganz zufällig befinde ich mich auf der Jagd nach einem sehr gefährlichen, sehr gerissenen Kobold.«

»Kobold?« Sie schwamm auf gleicher Höhe mit ihm. »In der Umgebung gibt es keinen Kobold.«

»Doch, gibt es.«

»Nein, gibt es nicht.«

»Doch, gibt es.«

»Nein, gibt es nicht.«

Levet warf die Hände hoch. »Ich rieche ihn, du lästige Kreatur. «

»Das Einzige, was hier außer einem Waschbären vorbeigekommen ist, war eine Wolfstöle.«

»Eine Wolfstöle?« Levet hielt erschrocken an. »Bist du sicher? «

Erfreut, seine ganze Aufmerksamkeit zu haben, ließ Bella verführerisch die Hand durch ihr Haar gleiten. »Ich erkenne einen Hund, wenn ich ihn sehe. Er war wesentlich attraktiver als du, aber mit Blut bedeckt.« Sie schnitt eine Grimasse. »Igitt.«

Eine Wolfstöle, die mit Blut bedeckt war?

War eine von ihnen verletzt worden?

Und weshalb roch sie nach einem Kobold …

Levet schlug sich mit der Faust vor die Stirn.

»Sacrebleu! Ich war so ein Dummkopf.«

»Nun, dein Gehirn ist nicht sehr groß«, meinte Bella mitfühlend.

Levet hob den Kopf und funkelte den Wassergeist wütend an. »Noch ein einziges Wort von dir, dann verwandle ich dich in einen Karpfen.«

»Warum willst du einen dummen Kobold?«, schmollte sie, seine Drohung unbekümmert ignorierend. »Sie sind scheußliche, verschlagene Bestien.Wassergeister machen viel mehr Spaß. Erinnerst du dich nicht, wie es dir gefallen hat, als ich deine Flügel gerieben habe? Beschwöre mich, dann mache ich dich zum glücklichsten Gargylen auf der Welt.«

»Das reicht – du bereitest mir Kopfschmerzen!«, schnauzte Levet.

Es war nicht so, dass er nicht in Versuchung gewesen wäre. Bella war hübsch, und er war ein gesunder Mann, dem es genauso gut gefiel, wenn seine Flügel gestreichelt wurden, wie jedem anderen Gargylen. Trotzdem verstand er, welche Gefahren darin lagen, mit dem Feenvolk zu spielen.

Es machte am Ende immer mehr Schwierigkeiten, als es wert war.

Levet straffte die Schultern und konzentrierte sich auf den immer schwächer werdenden Pflaumengeruch. Die verdammte Wolfstöle mochte ihn getäuscht haben, aber das bedeutete nicht, dass er die Situation nicht zu seinem Vorteil nutzen konnte.

»Warte.« Bella unterbrach seine Konzentration, indem sie näher ans Ufer schwamm. »Wohin gehst du?«

Bei dieser Störung murmelte er einen Fluch. »Ich habe eine Wolfstöle zu fangen.«

»Ich kann dir helfen.«

»Bah.«

»Ich weiß, wo der Kobold ist.«

Levet sah sie missmutig an. »Woher solltest du das denn wissen? «

»Ich sehe Dinge.«

»Du siehst Dinge? Was könntest du denn wohl sehen? Du kannst dich nicht auf dieser Welt aufhalten, solange du nicht beschworen wurdest …«

Er verstummte, als seine Worte in seinen Schädel einsickerten. Sie konnte nicht hier sein. Es sei denn, sie war bereits beschworen worden.

Sie war nichts weiter als ein neuer Köder. Genau wie der Geruch des Kobolds, der ihn genau an diese Stelle geführt hatte.

»Mist«, keuchte er und wirbelte genau rechtzeitig herum, um zu sehen, wie die große Wolfstöle hinter einem Baum hervortrat.

Levet hob die Hände, um hastig einen Zauber zu wirken, aber ihm blieb nicht genügend Zeit, um die Worte zu sprechen, bevor er von einer grellen Explosion getroffen wurde.

Die Welt versank in Finsternis.