Kapitel 22
Das »Versteck« platzte aus allen Nähten, als wir kurz nach neun dort auftauchten.
»Hi, Mädels«, rief Lisa, eine der Kellnerinnen. »Gebt mir eure Mäntel. Ich pack sie nach hinten in den Personalraum.«
»Danke, echt lieb von dir«, sagte Nathalie und reichte Lisa ihren Mantel.
Vollbepackt mit unseren Sachen, stiefelte Lisa von dannen.
»Wir kümmern uns mal um was zu trinken. Lisa hat mit den Tischen schon genug zu tun«, sagte Nathalie und zog Daniel mit sich zum Tresen.
Dem Schutz meines Mantels beraubt, verschränkte ich die Arme vor der Brust. Wer hätte gedacht, dass ich je wünschen würde, eine Krake zu sein? Am liebsten hätte ich mich überall bedeckt. Ich fühlte Dutzende von Blicken auf mir. Nächstes Jahr würde ich definitiv wieder als Nonne gehen. Instinktiv ergriff ich Julias Arm.
Die schmunzelte.
»Geh bloß nicht weg«, sagte ich und rückte etwas näher an sie ran.
»Bis du mir ein Signal gibst, zu verschwinden, bleibe ich an deiner Seite«, sagte Julia. »Versprochen.«
Ein Vampir tauchte vor mir auf. »Hi.« Er grinste mich mit seinen langen Zähnen an. »Sag mal … tun dir deine Füße nicht weh?«
Ich schaute auf meine High Heels und wollte gerade nicken, da redete er weiter: »Du bist doch gerade vom Himmel gefallen, stimmt‘s?«
Julia rollte mit den Augen.
Wow, das war mal eine schlechte Anmache. Was sollte ich darauf antworten?
»Darf ich dir vielleicht etwas ausgeben?«, fragte der bleiche Kerl.
Darauf hatte ich eine Antwort. »Nein, danke.«
»Sag nicht, dein Freund ist hier irgendwo?« Der Vampir guckte sich um, als ob er meinen imaginären Freund suchen würde.
»Nein, aber meine Freundin«, sagte ich, zog Julia zu mir runter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Julia hob beide Augenbrauen, sagte aber nichts.
»Oh … ihr seid …?« Graf Dracula fuchtelte mit dem Zeigefinger zwischen uns hin und her.
»Sieht so aus«, sagte ich.
Er hob die Arme. »Sorry, hatte keine Ahnung. Dann … dann viel Spaß.«
»Danke, dir auch«, sagte ich und verkniff mir erfolgreich ein Grinsen.
Julia schmunzelte. »Freundin, hä?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Du bist meine Freundin. Und du bist hier. Also hab ich nicht gelogen.«
Julia lachte und schaute zu Daniel und Nathalie, die gerade mit unseren Guinness zurückkamen.
Wir tranken alle einen großen Schluck.
»Lust auf ‘ne Runde Billard?«, fragte Nathalie.
»Ich glaub, das ist keine gute Idee«, sagte ich. »Mein Kleid ist zu kurz. Das würde sicher nichts werden.«
»Papperlapapp«, sagte Nathalie. »Das wird sicher lustig.«
Ich schnitt eine Grimasse. »Für wen?«
* * *
Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Bis jetzt hatte ich es geschafft, bloß nahe Kugeln zu treffen und mich nicht tief herunterzubeugen. Aber egal, welche Kugel ich jetzt anstieß, ich würde mich zumindest ein bisschen über den Tisch lehnen müssen. Hilfe suchend sah ich zu Julia. »Möchtest du nicht den Stoß haben?«
Grinsend schüttelte Julia den Kopf.
Ich warf ihr einen bösen Blick zu und beugte mich so wenig wie möglich über den Tisch. Meine Brüste fielen fast aus dem Dekolleté und mein Allerwertester war teilweise entblößt. War es Segen oder Fluch, heute Nacht einen String zu tragen?
Ich wollte gerade stoßen, da fing ein neues Lied an: »Sexy Bitch«. Ohne groß zu zielen, stieß ich die weiße Kugel an und richtete mich schnell wieder auf. Verdammt. Die rote Kugel prallte von der Bande ab und landete in der Mitteltasche. Das hieß, ich war ein zweites Mal dran. Ich schob meinen Rock so weit runter, wie es ging. Nicht dass es viel gewesen wäre. Ich ging um den Tisch herum und schaute mich um. Keiner der Männer im Raum spielte mehr. Stattdessen gafften alle in meine Richtung. Na super. Ich rollte mit den Augen. Konnte dieser Abend noch peinlicher werden?
»Ich hasse dich«, flüsterte ich Nathalie im Vorbeigehen zu und konzentrierte mich danach auf den nächsten Stoß. Diesmal erwischte ich Julia am anderen Ende des Tisches dabei, wie sie auf meine Brüste starrte. Ich stieß, ohne wirklich hinzuschauen, und verfehlte beinahe die weiße Kugel.
Jetzt war Daniel dran und ich verdrückte mich zu einer Wand zwischen zwei Barhockern.
Einige der Männer an den Nachbartischen warfen mir flirtende Blicke zu.
In einem weniger knappen Kostüm hätte ich vielleicht zurückgeflirtet, doch so … Ich stellte mich neben Julia.
Ihr Gesichtsausdruck unterschied sich kaum von dem der Männer.
»Tu doch wenigstens so, als ob dich mein Outfit kalt lässt.«
Julia studierte ausgiebig ihre Füße. »‘Tschuldigung.«
Ich lächelte sie an und lehnte den Kopf an ihre Schulter. Obwohl ich mich beschwerte, genoss ich es, wie sie mich ansah. Die anderen Blicke waren mir unangenehm, aber der von Julia war … heiß. Meine Haut prickelte und mein Mund war auf einmal ganz trocken. Ich nahm einen großen Schluck von meinem zweiten Guinness.
* * *
Mit einem fluffigen Handtuch rubbelte ich mir die Haare trocken.
Wir waren kaum in der Wohnung angekommen, da hatte ich auch schon das Bad gestürmt, um eine lange Dusche zu nehmen. Als ich in den Flur trat, war meine Freundin nirgendwo zu sehen. »Julia?«
Stille.
Ich lugte ins Wohnzimmer. Da war sie nicht. Küche? Da auch nicht. Schließlich schaute ich in ihr Zimmer.
Und da war Julia. Voll bekleidet und im Ärztekittel lag sie quer auf dem Bett und schnarchte leise vor sich hin. Offensichtlich hatte ihr der viele Alkohol, den wir heute Abend auf der Karnevalsfeier getrunken hatten, ganz schön zugesetzt.
Ich ging in den lediglich vom Flurlicht erleuchteten Raum und setzte mich neben sie. Vorsichtig streichelte ich Julias weiches Haar. Irgendwie wollte ich gar nicht, dass sie aufwachte. Es war viel zu schön, sie unbekümmert berühren zu können. Aber so konnte Julia nicht liegen bleiben. Vorsichtig ergriff ich das Stethoskop, das immer noch um ihren Hals hing, und zog es weg. Dabei spürte ich ihre warme, weiche Haut unter meinen Fingerspitzen. Ich streifte Julias Schuhe ab und zog anschließend mit etwas Mühe die Decke unter ihr hervor.
Sie zeigte keine Reaktion.
Ich legte mich neben Julia, kuschelte mich an sie und deckte uns zu. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, war ich auch schon eingeschlafen.
* * *
Wärme. Geborgenheit. Mein Körper war vollkommen entspannt. Ich atmete tief ein und Julias Geruch umhüllte mich wie eine kuschelige Decke. Stopp mal. Ich öffnete ein Auge und sah eine Brust. Eine Brust? Oh Gott, ich lag auf Julia. Meine Beine zwischen ihren. Wie hatte ich bloß wieder mit Julia zusammen einschlafen können? Und wie konnte sich ihr Körper so verdammt gut anfühlen?
Ich schloss kurz die Augen. Das sollte nicht passieren. Es war schon alles kompliziert genug. Vorsichtig, damit ich Julia nicht aufweckte, rollte ich von ihr runter. Danach verließ ich das Bett und flüchtete in mein Zimmer.
Mein eigenes Bett war kalt. Ich legte mich unter die Decke und starrte nach oben. Es war eine Sache, Julia attraktiv zu finden und ihr nah sein zu wollen, aber im Schlaf, wenn ich nicht dachte, mich nicht unter Kontrolle hatte, ging ich zu weit. Das konnte so nicht weitergehen. Ich wollte das nicht. Was sollte ich bloß tun? Wenn ich dem Ganzen nicht schnell ein Ende setzte, würde bald mehr passieren. Und das durfte nicht sein. Ich könnte damit niemals umgehen. Es wurde Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
Ich zog mich im Bad an und flüchtete in den Stadtpark, um in Ruhe über alles nachzudenken. Es war ein relativ warmer Märzmorgen, und dennoch fröstelte es mich nach einer Weile. Warum konnte ich nicht nur rein freundschaftliche Gefühle für Julia haben? Es war doch alles so schön mit ihr. Warum wollte ich mehr? War ich in Wahrheit gar nicht heterosexuell? Sicher, die Psychologin hatte ihre Meinung gesagt, und ja, es bestand kein Zweifel mehr daran, ich hatte mich in Julia verliebt, aber … hieß das automatisch, ich war … bisexuell? Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie in einen Mann verliebt. Bedeutete das also, ich war … lesbisch? War Mama lesbisch, weil sie eine Frau geliebt hatte?
Verdammt, warum musste immer alles so kompliziert sein? Was war richtig und was falsch? Man konnte sich seine sexuelle Orientierung nicht aussuchen. Entscheidend war, was man daraus machte. Oder?
Ich schüttelte den Kopf. Ich würde das Richtige tun. Jetzt, wo ich wusste, dass ich mich wahrscheinlich nie in einen Mann verlieben würde, wäre es doch viel einfacher, eine Beziehung ohne Erwartungen zu beginnen. Ich schloss die Augen. Doch was, wenn ich so unglücklich wie Mama werden würde? Andererseits war es nicht ihre Entscheidung gewesen, meinen Vater zu heiraten. Nicht wirklich. Sie liebte eine Frau über Jahre und war bereits weiter mit ihr gegangen, als ich jemals auch nur in Gedanken mit Julia. Vielleicht war es genau jetzt der richtige Moment, dem Ganzen ein Ende zu setzen, bevor ich Gefangene meiner Gefühle wurde, wie Mama es gewesen war. Ja, ich hatte immer noch die Chance, mit einem Mann zumindest halbwegs glücklich zu werden, wenn ich meiner Neigung nicht folgen würde.
Ich sank auf eine Parkbank. Tränen strömten über mein Gesicht. Ich musste es beenden. Jetzt. Bevor es zu spät war.
* * *
Es war schon früher Nachmittag, als ich nach Hause zurückkehrte.
Julia kam aus dem Wohnzimmer und eilte auf mich zu. »Ist alles in Ordnung? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« Sie trug ihre Lieblingsjeans und ihren roten »Is‘ was, Doc?«-Sweater.
Es fiel mir schwer, nicht zu lächeln. Aber ich musste jetzt stark sein. Es würde nur einen Moment wehtun, dann würde alles gut werden. »Mir geht‘s gut. Ich war etwas im Park spazieren.«
Julia umarmte mich und ergriff anschließend meine Hände. »Gott, du bist ja ganz kalt. Komm, zieh deinen Mantel aus, und ich mach dir einen heißen Kakao.«
Warum war sie bloß so lieb zu mir? Ich senkte den Blick, während ich den Mantel auszog. »Mach dir keine Mühe. Ich möchte mit dir sprechen.«
Julia nickte, nahm mir den Mantel ab und hängte ihn auf. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen.«
»Okay«, murmelte ich und folgte ihr.
Wir setzten uns jeweils an ein Ende der Couch.
Julia platzierte ein Bein unter sich und betrachtete mich ernst.
Am besten sagte ich es geradeheraus. Alles andere würde die Sache nur länger und schwerer machen. »Ich werde ausziehen.« Ich studierte intensiv die Couchlehne. Hätte ich Julia angesehen, wäre ich nicht in der Lage gewesen, weiterzusprechen. »Es tut mir leid. Das kommt jetzt sicher überraschend für dich, aber es ist besser so.«
Julia stand auf und ging zum Fenster. Für eine Weile stand sie regungslos da. Irgendwann drehte sie sich um.
Ich vermied es immer noch, sie direkt anzusehen.
»Wenn es dein Wunsch ist zu gehen, kannst du das jederzeit tun. Aber ich will eine Sache: Sag mir ganz ehrlich, warum.«
Gott … sie wusste nicht, was sie da von mir verlangte. Julia stand nach wie vor am Fenster, und ich spürte ihren Blick auf mir. Ich würde Julia nicht anlügen, aber ich hoffte, es auch irgendwie vermeiden zu können, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ich kann nicht mehr so mit dir zusammenleben. Es ist falsch.«
»Fühlst du dich von mir bedrängt?« Julias Stimme klang nicht ärgerlich oder vorwurfsvoll. Sondern unglaublich traurig.
»Nein.«
»Dann, bitte, erkläre es mir.« Julia gestikulierte wild mit den Händen. Ihre Stimme klang verzweifelt. »Ich akzeptiere deinen Wunsch, aber bitte … ich will es verstehen.«
Warum konnte sie nicht wütend sein? Mit Anschreien konnte ich leben, aber nicht mit diesem traurigen Tonfall. Ich musste ihr eine Antwort geben. »Solange ich hier wohne, kann ich keinen Freund haben und eine ernsthafte Beziehung beginnen.«
»Und das ist, was du willst?« Julia ballte die Hände zu Fäusten. »Als wir zusammenzogen, schien das für dich noch kein Problem zu sein.«
Da war aber auch alles anders gewesen. Ich war anders gewesen. Nichts, aber wirklich gar nichts, lag mir in diesem Moment ferner, als mit einem Mann eine Beziehung zu beginnen. »Darum geht es nicht. Wir halten uns beide davon ab, jemanden kennenzulernen.«
»Zieh mich da nicht mit rein«, sagte Julia mit angespannter Stimme. »Rechtfertige das, was du tust, mit dem, was du fühlst und willst, und nicht mit dem, was du glaubst, was ich fühle oder will.«
Nun hörte ich einen Hauch Ärger in Julias Stimme und merkte, dass ich doch nicht so gut damit umgehen konnte, wenn sie wütend auf mich war. Auch das tat weh.
»Es geht nicht immer darum, was wir wollen. Manche Dinge, die wir fühlen, sind einfach falsch«, sagte ich mit lauter Stimme. »In solchen Fällen müssen wir auf unseren Verstand hören.«
Julia kam mit schnellen Schritten zur Couch und setzte sich neben mich. Sie nahm meine Hände in ihre und ich betrachtete Julia zum ersten Mal, seit unsere Unterhaltung begonnen hatte. »Was willst du, Scarlett? Und was fühlst du?«
Ich fühlte mich wie in einer Falle. Wie sollte ich da rauskommen, ohne Julia zu sagen, was in mir vorging, und nicht lügen? Nein, sie verdiente die Wahrheit. Wenn unsere Freundschaft schon hier und jetzt enden musste, dann wenigstens ehrlich. »Lässt du mich gehen, wenn ich es dir sage?«
»Wenn es das ist, was du willst.«
Ich nickte und sah Julia tief in die Augen. Gott … diese wunderschönen Augen. Sie würden mir fehlen. »Ich liebe dich.« Julia schnappte nach Luft, doch ich blickte nicht auf und redete weiter. »Ich liebe dich auf eine Art, wie ich dich nicht lieben möchte. Schon seit einer Weile ist mir bewusst, dass … dass ich in dich verliebt bin. Ich war sogar bei einer Psychologin deshalb.«
Julia öffnete den Mund, doch anstatt etwas zu sagen, stierte sie auf ihre zitternde Hand, als ich mit dem Daumen darüberstrich.
»Du bist so ein wundervoller Mensch, Julia. Du verdienst es, mit einer Frau glücklich zu werden. Aber ich kann diese Frau nicht sein. Ich kann nicht leben als …« Ich brach ab. Dieses Wort in Zusammenhang mit mir zu sagen, schien falsch. Ich konnte es nicht. »Bitte verzeih mir, dass ich unsere Freundschaft aufgeben muss, aber ich kann diese Situation nicht länger ertragen.«
Ich wollte aufstehen und gehen, doch Julia hielt mich zurück. Wortlos starrte ich sie an.
»Als ich mir eingestand, lesbisch zu sein, wollte ich sterben«, sagte Julia mit leiser Stimme. »Es klingt vielleicht drastisch, aber es ist die Wahrheit. Ich war ziemlich jung und dachte, ich sei weit und breit die Einzige. Die ganze Zeit hindurch fühlte ich mich allein und hilflos und dachte, niemand könnte mich verstehen.«
Wollte ich das wirklich hören? Warum erzählte sie mir das jetzt überhaupt?
»Als ich mich in Victoria verliebte, wusste ich schon, dass ich auf Frauen stand. Vom ersten Tag an fühlte ich mich stark zu ihr hingezogen. Wir waren füreinander die erste Freundin. Dementsprechend gingen wir die Sache langsam an. Und ich meine … total langsam.« Julia lachte kurz und betrachtete mich für einen langen Augenblick. »Ich war schon neunzehn und trotzdem war ich noch nicht bereit, aufs Ganze zu gehen, wenn du weißt, was ich meine.«
Ich nickte.
»Obwohl ich es eigentlich besser wissen musste, dachte ich immer, es sei falsch, was ich fühlte, ganz zu schweigen davon, diesen Gefühlen nachzugeben.« Julia lächelte. »Es war Oliver, der mir sehr half. Er sagte mir, Liebe könne doch nicht falsch sein.« Julia rutschte nervös hin und her. Sie schaute zwischen unseren Händen, die einander hielten, und meinen Augen hin und her. »Scarlett, ich liebe dich. Ich bin schon so lange in dich verliebt. Jeder Tag mit dir ist ein Geschenk.«
Was? Meine Kehle schien sich zuzuschnüren. Sie fühlte dasselbe? Mein Kopf war vollkommen leer.
»Ich könnte mit dir ein ganzes Leben zusammen sein, ohne dich jemals auch nur zu küssen. Wenn es bloß bedeuten würde, dass du bei mir bleibst.« Julia schüttelte langsam den Kopf. »Wenn du wirklich dasselbe für mich fühlst, dann tu dir das nicht an. Tu uns das nicht an. Geh nicht. Bleib bei mir.«
Ich spürte, wie mir Tränen die Wangen runterliefen. Niemals zuvor hatte ich mich so verloren gefühlt. Zögerlich beugte ich mich vor und lehnte meinen Kopf auf Julias Schulter.
Sie schlang die Arme um mich und hielt mich fest.
Ich fühlte mich so sicher, so beschützt vor der Welt und … vor mir selbst.
Irgendwann ließ sie mich los und sah mich mit einem Blick an, der am besten mit dem Wort liebevoll beschrieben werden konnte.
Das gab mir den Mut zu sprechen. »Julia, glaubst du, dass ich … dass ich … homosexuell bin? Glaubst du, ich bin eine … Lesbe?«
Erneut nahm Julia meine Hand und schaute mir tief in die Augen. »Das ist eine Frage, die niemand außer dir selbst beantworten kann.«
»Ich weiß es nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Alles, was noch vor einer Weile Sinn gemacht hat, erscheint jetzt vollkommen sinnlos. Und alles, was ich geglaubt habe, über mich zu wissen, scheint plötzlich falsch.«
»Und das alles bloß, weil du Gefühle für mich hast?«
Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Wie meinte sie das?
»Stell dir mal für einen Moment vor, ich sei ein Mann.«
Sie als Mann? Kurze Haare, groß, kräftige Schultern, volle Brü… nein, so ähnlich sie und Oliver sich auch waren, Julia konnte niemals ein Mann sein. Aber worauf wollte sie hinaus? »Okay«, sagte ich.
»Ich bin ein Mann und du hast dich in mich verliebt.«
Ich nickte.
»Warum würde die Tatsache, dass du dich in mich verliebt hast, ändern, wer du bist?«
Ich dachte über die Frage nach, und es gab darauf nur eine Antwort. »Aber du bist kein Mann.«
Julia ließ den Atem laut entweichen. »Es spielt keine Rolle, weißt du? All dieses Gefasel über die sexuelle Orientierung. Warum glaubst du, auf einmal ein anderer Mensch zu sein, bloß weil du für einen anderen Menschen etwas empfindest?«
Irgendwie machten diese Worte Sinn. Aber war es wirklich so simpel?
»Du bist, wer du bist«, sagte Julia. »Du bist, wer du schon immer warst: ein lieber, sensibler, intelligenter und humorvoller Mensch. Du hast gerade festgestellt, dass du dich in eine Frau verliebt hast. Das ist etwas Neues und vermutlich im ersten Moment Erschreckendes für dich.«
Was für eine Untertreibung.
»Aber es ist nur eines von vielen Dingen, die dich ausmachen.«
»Also denkst du, ich bin lesbisch?«
Julia lehnte sich etwas zurück und sah mich nachdenklich an. »Was denkst du?«
»Ich … ich … vielleicht.«
»Was würde denn passieren, wenn du deinen Gefühlen nachgeben würdest?«
Meinen Gefühlen nachgeben? Was würde ich tun? Julia hier und jetzt küssen? An Julias Nacken knabbern und mit der Zunge über ihren Körper gleiten?
»Scarlett?« Eine Hand wedelte vor meinem Gesicht herum. »Scarlett, ist alles in Ordnung?«
»Was?« Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. »Ich … äh … mir geht‘s gut.« Ich runzelte die Stirn. »Wie meinst du das? Was würde ich tun?« Mit einem Ruck stand ich auf und begann, auf und ab zu gehen. »Ich weiß es nicht.« Weinend vergrub ich das Gesicht in meinen Händen. »Gott, ich fühle mich so verloren.«
Julia stand auch auf und stellte sich mir in den Weg.
Ich sah unsicher zu ihr auf.
Unsere Blicke trafen sich, und während ich in Julias tiefblaue Augen schaute, die mich voller Liebe ansahen, wurde es mir plötzlich klar: Das war es, was ich wollte. Was wir beide wollten. Und es ging hier nicht um richtig oder falsch. Es ging um mich und Julia.
Mein ganzes Leben war ich vor mir selbst weggelaufen, doch nie hatte es mich irgendwo hingebracht. Nun stand ich vor Julia. Kein Davonlaufen mehr. Kein Verstecken mehr vor dem Menschen, der ich wirklich war. Ob ich tatsächlich damit leben konnte, mit einer Frau … nein, mit Julia zusammen zu sein, würde die Zukunft zeigen.
Ich legte die Hand auf ihre Wange und streichelte sie mit meinem Daumen. Nach einem Moment ließ ich die Hand wieder sinken, beugte mich vor und gab derselben Wange einen zärtlichen Kuss. Danach bewegte ich meine Lippen zu der anderen Wange und platzierte auch dort einen sanften Kuss. Es folgte ein vorsichtiger Kuss auf Julias Stirn. Alles fühlte sich vollkommen richtig und natürlich an.
Julias Augenlider fielen zu.
Mein Herz raste. Ich wollte das. Ich brauchte das. Wie in Zeitlupe berührten meine Lippen ihre. Es war nur ein Moment und doch änderte es alles. Mein ganzer Körper kribbelte und Julias Lippen auf meinen raubten mir den Atem. Ich schloss die Augen und küsste sie erneut. Diesmal länger.
Julia zog mich näher zu sich.
Ich hätte erwartet, dass sie den Kuss intensivieren würde, doch sie tat nichts dergleichen. Sie schien mich entscheiden zu lassen, wie weit ich gehen wollte.
Julias Rücksichtnahme und die vielen Emotionen, die mich durchströmten, ließen erneut Tränen kommen. Doch diesmal waren es keine Tränen der Traurigkeit. Ich unterbrach den Kuss und umarmte Julia.
Es hatte sich richtig angefühlt. In diesem Moment wusste ich, dass alles gut werden würde.