Kapitel 20

Ich ließ einen leisen Seufzer entweichen. Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen. Julias warmer Körper dicht neben mir und das schwache Licht und Knistern des Kamins hinter uns ließen mich vollkommen entspannen. »Was für ein Jahresausklang.«

»Mmh?«

Ich schaute neben mich und musste grinsen, als ich Julias halb offene Augen sah. »Das Wellnessprogramm im Hotel heute war echt traumhaft.«

Julia lächelte, sagte aber nichts.

»Hätte ich schon früher gewusst, wie toll Wellness sein kann, hätte ich Nathalie schon vor Jahren in einen dieser Wohlfühltempel geschleppt.«

»Sie hätte sich sicher nicht gewehrt«, sagte Julia schmunzelnd.

»So viel ist mal sicher.« Ich rutschte ein bisschen näher zu Julia und legte den Kopf auf ihre Schulter. Das vergangene Jahr war nicht immer leicht gewesen. Unglaublich viel war passiert. Alles hatte sich verändert. Nur Julia nicht. Was auch passierte, auf sie konnte ich mich verlassen. Ihr konnte ich vertrauen.

Was wohl passiert wäre, wenn wir einander niemals begegnet wären? Eine furchtbare Vorstellung. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken runter und ich schüttelte mich.

»Ist dir kalt?«, fragte Julia und zog mich etwas näher zu sich. Jetzt, gerade in diesem Augenblick, brauchte ich ihre Nähe, also nickte ich, obwohl mir eigentlich schon ziemlich warm war, mit dem Kaminfeuer hinter uns. Wir waren einander so nahe, dass ich fast auf Julias Schoß saß. Ich vergrub das Gesicht in ihrem Nacken und seufzte erneut.

»Bequem?« Julia klang amüsiert.

»Ja.«

Julia lachte.

»Was ist denn so witzig?«

»Wenn wir noch eine Weile so hier rumsitzen, rutschst du … man könnte sagen auf mir ins neue Jahr.«

Ich hob den Kopf und gab ihr einen Klaps aufs Schlüsselbein.

»Hey«, protestierte Julia.

»Das klang irgendwie versaut.«

Julia hob eine Augenbraue. »Findest du?«

Wir lachten und ich rückte etwas von Julia ab.

»Wie spät haben wir eigentlich genau?«, fragte ich und suchte im Panoramaraum des Strandhauses nach einer nicht vorhandenen Wanduhr.

Ein kurzer Blick auf ihre Uhr, und Julia kicherte.

»Was?«

»Du bist auf meinem Schoß ins neue Jahr gerutscht.«

Was? »Es ist schon Neujahr?« Warum hatte ich draußen denn nichts gehört oder gesehen? Dass wir von hier aus kein Feuerwerk sehen konnten, war klar, weil der Panoramaraum einen Blick auf den Strand und das Meer bot, aber ich hatte nicht mal Kirchenglocken gehört.

»Gleich zwei nach zwölf.« Julia drehte sich mehr zu mir und schaute mich mit leuchtenden Augen an. »Frohes neues Jahr, Scarlett.«

»Frohes neues Jahr, Julia.«

Etwas unsicher beäugten wir einander. Eigentlich war jetzt ein Silvesterkuss angesagt.

Nathalie hätte selbstverständlich ein Bussi auf den Mund bekommen. Aber Julia? Ach was, warum nicht? Wenn ich Nathalie einen Silvesterkuss geben konnte, dann ging das auch bei Julia.

Wir starrten einander an.

Im nächsten Moment sah ich auf ihren Mund. Mein Herz schlug wie wild, als Julias Gesicht näherkam. Ich neigte den Kopf etwas zur Seite.

Unsere Lippen berührten einander.

Meine Augenlider fielen zu. So weich. Wie Samt.

Julia lehnte sich zurück und unterbrach damit den Kuss.

Ich öffnete die Augen wieder und beobachtete, wie sich Julias Brustkorb hob und senkte, als ob sie einen Marathon hinter sich hätte. Ich blinzelte mehrfach und lehnte mich auch zurück. Danach rutschte ich etwas von ihr weg. Was war hier gerade passiert? Das war nicht nur ein harmloser Silvesterkuss gewesen. So was fühlte sich nicht so verdammt gut an. »Ich … ich gehe jetzt besser schlafen.« Oh ja, das klang toll. Ich sprang auf und hastete zur Tür. Schon halb im Gang stehend, stoppte ich und drehte mich um.

Julia betrachtete ihre Füße und spielte nervös mit ihren Händen.

»Danke für den wundervollen Tag. Es war …« Mein Blick wanderte wieder zu ihrem Mund. »Wundervoll.« Bevor ich noch einen größeren Trottel aus mir machte, beschloss ich, jetzt aber wirklich zu verschwinden. »Gute Nacht.«

Julia rang sich mehr oder minder erfolgreich ein Lächeln ab. »Gute Nacht, Scarlett. Schlaf schön.«

»Du auch.« Ich flüchtete aus dem Raum und eilte so schnell ich konnte in mein Zimmer. Dort angekommen schloss ich die Tür hinter mir und ließ mich aufs Bett fallen. Was war los mit mir? Ich war nicht so.

Heterosexuell. Ich war heterosexuell. Frauen interessierten mich nicht auf diese Weise. Ich stand auf Männer. Ja, auf Männer.

Warum spürte ich immer noch Julias Lippen auf meinen? So warm und … Ich schüttelte den Kopf. Das musste enden. Unsere Freundschaft würde leiden, wenn ich diese Verwirrung nicht in den Griff bekam. Ich musste mit jemandem sprechen, sobald ich wieder zu Hause war. Und ich hatte auch schon eine Idee.

* * *

Mein Blick wanderte über den menschenleeren Strand auf der anderen Seite der Glasfront.

»Schmeckt dir das Essen nicht?«, fragte Julia

Ich schaute auf und betrachtete Julia auf der anderen Seite des Tisches. »Nein. Nein, es ist lecker.« Ich rang mir ein Lächeln ab und nahm einen Bissen von meinem Brötchen. Eigentlich hatte ich keinen Hunger. »Es ist echt lieb von dir, mich zu einem Neujahrsbrunch einzuladen. Es ist ganz toll hier.«

Julia erwiderte kurz mein Lächeln. Danach betrachtete sie intensiv ihr kaum angerührtes Croissant.

Es war albern. Schon den ganzen Morgen war ich nervös und angespannt in Julias Nähe. Warum konnte ich den Kuss nicht vergessen? Ich atmete frustriert aus, und Julia lugte für einen Moment auf, bevor sie wieder auf ihr Essen starrte. Jetzt wo ich so drüber nachdachte … Julia war heute auch komisch.

Sie schaute mich nie lange an, redete kaum. Ihre Hände waren ständig in Bewegung und offenbar wahnsinnig interessant zu beobachten.

Ob sie der Kuss auch beschäftigte? Verdammt, ich musste aufhören, ständig darüber zu grübeln. Sobald wir zurück waren, würde ich mit jemandem über diese ganze Sache sprechen. Bis dahin dachte ich einfach nicht mehr drüber nach.

Worüber konnten wir jetzt sprechen? Das Wetter? Ich glotzte aus dem Fenster. Kalt, windig und grau. Wie erstaunlich an der Nordsee Anfang Januar. Und wie wäre es mit …? »Hast du dich mittlerweile entschieden, wo du nach dem Praktikum anfangen willst?«

Julias Blick schnappte zu mir. »Zwei Abteilungen haben mir eine Stelle angeboten.«

»Wirklich? Das ist ja klasse. Und welche?«

»Gynäkologie und Chirurgie.«

»Aber du bist doch erst seit einem Monat in der Chirurgie.«

»Schätze, ich mache einen guten Eindruck«, sagte Julia grinsend und biss von ihrem Croissant ab.

»Und was willst du tun?«

»Weiß nicht. Die Arbeit in der Chirurgie kommt mir irgendwie wie Metzgerarbeit vor.«

Bilder aus dem Fernsehen schossen mir durch den Kopf und ich hörte auf zu kauen.

»Aber der Schwerpunkt der zwei gynäkologischen Stationen in meinem Krankenhaus liegt im Bereich der Onkologie. Die anderen klassischen Felder werden etwas vernachlässigt.« Mit dem Croissant gestikulierend sagte sie: »Auf der anderen Seite hätte ich, wenn ich Chirurgie wähle, auch die Möglichkeit, etwas in die Herz-Thorax- und Gefäßchirurgie reinzuschnuppern. Das ist eine tolle Gelegenheit und wirklich interessant.« Julia beugte sich nach vorne und fragte: »Was hättest du lieber als Freundin? Eine Gynäkologin oder eine Chirurgin?«

Wie sollte ich darauf antworten? »Was macht dir mehr Freude?«

»Beantworte meine Frage nicht mit einer Gegenfrage. Sag schon. Was wäre dir lieber?«

Spontan wollte ich Chirurgin sagen. Es schien besser zu ihr zu passen. Was sollte diese Frage eigentlich? Nathalie hätte mich so was nie gefragt. Oder?

»Also?«

»Chirurgin?«

»Und warum?« Julia steckte sich das letzte Stück ihres Croissants in den Mund.

»Es passt besser zu dir, glaube ich. Kannst du das Fachgebiet wechseln, wenn es dir nicht gefällt?«

»Klar. Das ist wie beim Studienfachwechsel. Möglich ist das immer.«

Ich nickte. »Und? Was wirst du tun?«

»Ich werde die Stelle in der Chirurgie annehmen.«

Was? Ich ließ mein Brötchen sinken. Das machte sie doch nicht wirklich, weil ich das gesagt hatte, oder? »Einfach so?«

»Einfach so. Na ja, nicht ganz. Ich hab viel darüber nachgedacht, und beides hat seine Vor- und Nachteile. Manchmal gibt es keine logische Entscheidung. Dann muss man eben aus dem Bauch heraus handeln. Und was das betrifft, bist du unschlagbar.«

Ich schürzte die Lippen. »Soll das heißen, du denkst, ich lasse mich mehr von Gefühlen als von meinem Verstand leiten?«

Julia zuckte mit den Schultern. »Du kannst schnell Entscheidungen treffen, die sich in der Regel vom Kopf her begründen lassen, obwohl sie eigentlich aus dem Bauch heraus getroffen wurden.« Julia schaute mich einen langen Moment an und biss sich auf die Unterlippe, bevor sie sagte: »Oft triffst du auch Entscheidungen, die in Wahrheit nicht unbedingt logisch sind, sondern bloß dem Ausweichen von Gefühlen dienen.«

In meinem Kopf drehte es sich. Wie kam sie denn darauf? Sollte ich mich jetzt angegriffen fühlen?

»Scarlett?«

Ich blickte auf.

»Habe ich was Falsches gesagt?«

»Ich weiß nicht. Findest du wirklich, dass ich meinen Gefühlen aus dem Weg gehe?«

Julia ergriff meine Hand. »Vielleicht hätte ich meine Worte vorsichtiger wählen sollen. Am Ende weißt nur du, was in dir vorgeht. Aber ich denke, du machst es dir selbst oft schwerer, als es sein müsste.«

»Und wo zum Beispiel?«

Julia öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schließlich sagte sie leise: »Manchmal scheinst du nicht nachzudenken und lässt dich gehen und bist ausgelassen. Dann wirst du plötzlich wieder ganz ernst. So als ob du auf einmal merken würdest, dass du dich für einen Moment nicht unter Kontrolle hattest.«

»Konkreter. Ich will ein Beispiel.«

Julia senkte den Blick. Nach einer Weile grinste sie mich an. »IKEA, letzten Monat.«

»Hä?«

»Du bist von Couch zu Couch geeilt und hast dich zurückfallen lassen und bist mit dem Hintern auf und ab gesprungen.«

»Ich habe die Federungen ausprobiert«, sagte ich.

Julia kicherte. »Du hast ›hui‹ gerufen. Und dann wurdest du schlagartig wieder ganz ernst und hast dich nur noch still auf die nächsten Sofas gesetzt.«

»Die Leute gafften mich an.« Während ich es sagte, verstand ich auf einmal, was Julia meinte. Aber es steckte mehr dahinter. »Es geht um Erwartungen.« Ich sprach mehr zu mir selbst als zu Julia. »Meine eigenen und die Erwartungen anderer. Ich will es immer allen recht machen.«

Julia streichelte mit dem Daumen über meine Hand.

Ich schaute mich um und mindestens ein Paar am Nachbartisch starrte auf unsere Hände. Im ersten Moment wollte ich meine Hand wegziehen, aber dann stoppte ich. Herr Gott, ich kannte diese Leute nicht einmal. Was scherte es mich, was die dachten? Ich ergriff Julias Hand und wendete den Blick von den Leuten ab. Sollten die doch denken, was sie wollten.

* * *

Ich holte tief Luft und ließ den Atem laut entweichen. Das Telefon in meiner Hand schien viel schwerer als sonst, aber ich musste das tun. Es gab keine Alternative oder ich würde noch verrückt werden.

Ich tippte die Nummer von der Beratungsstelle, die rot unterlegt hervorstach, vom PC-Bildschirm ab. Das erste Freizeichen ertönte und mein Herz hämmerte wie wild.

Nach wenigen Momenten wurde abgenommen und ein relativ jung klingender Mann murmelte etwas mir Unverständliches.

»Äh, hallo. Mein Name ist Scarlett Winter. Ich … ich würde gerne mit jemandem sprechen.«

»Und worum geht es bei Ihnen?«

»Tja, wo fang ich an? Ich habe ein Problem. Äh, ich habe Gefühle, mit denen ich nicht klarkomme. Ich möchte sie loswerden.«

»Sind es Gedanken, sich etwas anzutun?«

Ich starrte auf den Hörer. Anschließend führte ich ihn wieder zum Ohr. Klang ich so verzweifelt? »Äh, nein. Eigentlich nicht. Es geht mehr um … ja, wie sag ich das am besten? Ich fühle etwas für jemanden, aber das darf nicht sein.«

Stille.

Dann: »Sprechen Sie von Gefühlen für ein Kind oder einen Minderjährigen?«

Verdammt, was für Leute riefen da sonst an, dass er auf solche Sachen kam? »Nein. Es geht um … um meine Mitbewohnerin.«

»Und warum dürfen diese Gefühle nicht sein?«

Meine Güte, wie sollte ich das erklären und noch dazu am Telefon? Musste ich das überhaupt? »Kann ich nicht mit jemandem persönlich sprechen?«

»Wann hätten Sie Zeit?«

»In der Regel nachmittags.«

»Ginge es morgen um siebzehn Uhr?«

»Ja.«

* * *

Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet, es war kurz vor fünf. Seit etwa einer Viertelstunde saß ich jetzt schon alleine im Warteraum der Beratungsstelle. Komisch, ich hätte schwören können, es wäre schon mindestens eine Stunde vergangen. Als die Tür aufging, zuckte ich zusammen.

»Frau Winter?«

Ich war die Einzige hier. Wer sollte ich sonst sein? »Ja.«

»Ich bin Susanne Lindner.« Sie ergriff meine Hand. »Wenn Sie mitkommen, können wir uns in Ruhe unterhalten.«

Ich nickte und folgte ihr. Gott, die war doch kaum älter als ich. Und mit der sollte ich reden? Hatte die überhaupt schon ‘nen Abschluss? Ob ich fragen sollte?

»Sie hatten Glück, so kurzfristig einen Termin zu bekommen. Wenige Minuten vor Ihrem Anruf gestern hat jemand abgesagt.«

Wen interessierte das denn? Ich rang mir ein Lächeln ab.

Nach langem Fußmarsch durch ein Labyrinth von Gängen öffnete Frau Lindner eine Tür, und ein Raum mit rustikalem Holzinventar, zwei tropischen Pflanzen und Räucherstäbchen auf der Fensterbank kam zum Vorschein. Zwei Holzstühle standen von einem kleinen, ebenfalls hölzernen Couchtisch getrennt. Wie Öko.

»Setzen Sie sich, bitte.« Die junge Frau schloss die Tür, und nachdem ich mich gesetzt hatte, nahm sie mir gegenüber Platz. »Was kann ich für Sie tun?«

Mir Ihr Alter und Ihre Qualifikation verraten? »Ähm …« Jung und gut aussehend. Na ja, soweit ich das beurteilen konnte. Psychologen sahen anders aus. Ob sie nur Praktikantin war? Schulterlange dunkelblonde Haare, grüne Augen und weiche Gesichtszüge … wenn alle Psychologinnen heutzutage so aussehen würden, begäben sich mehr Männer in Therapie. Die sich unter ihrer lässigen Kleidung abzeichnende Figur wirkte nicht dürr, aber dünn. Und die oberen drei Knöpfe ihrer Bluse…

»Frau Winter?«

Oh. »Entschuldigung. Diese Sache nimmt mich ziemlich mit.«

Frau Lindner lehnte sich zurück. »Warum fangen Sie nicht ganz am Anfang an?«

Ich räusperte mich. »Also, ich hab auf einer Party einen Mann kennengelernt. Oliver. Wir waren etwa sechs Wochen zusammen, bevor ich mit ihm Schluss machte, weil ich nichts für ihn empfand. Zumindest nicht, was ich sollte. Na, auf jeden Fall verdächtigte er mich und seine Zwillingsschwester Julia danach, etwas miteinander zu haben. Aber das war eine Lüge. So … wo war ich? Ach ja, um es kurz zu machen, ich wurde die neue Mitbewohnerin von Julia. Aber Oliver machte weiter mit den Verdächtigungen, dass Julia und ich etwas miteinander haben. Aber da ist nichts. Und … und alle anderen denken auch, wir sind ein Paar.«

»Also Sie und Julia?«

Ich nickte. »Und wir sind wirklich gute Freundinnen. Also beste Freundinnen. Oh, ich vergaß zu sagen, Julia ist lesbisch und ich war zu Anfang homophob. Aber da bin ich jetzt drüber weg. Glaube ich.«

Das angestrengte Gesicht von Frau Lindner, als sie versuchte, meiner Geschichte zu folgen, wäre in jeder anderen Situation vermutlich witzig gewesen. Jetzt gerade nicht.

»Und dann hat meine Mutter mir am Weihnachtsabend gesagt, ihre große Liebe sei eine Frau gewesen. Aber die hat sich umgebracht, weil sie nicht mit Mama zusammen sein konnte und … na ja, meine Mutter hat trotzdem oder deswegen, weiß nicht, meinen Vater geheiratet und mich gekriegt.« Ich rollte mit den Augen. »Nein. Das stimmt nicht ganz. Meine Großeltern haben sie mehr oder weniger in die Ehe mit Papa gezwungen. Mein Vater starb vor einer Weile und jetzt … jetzt denkt sie, also meine Mutter, immer noch, es sei falsch, sich ihren Gefühlen hinzugeben. Sie denkt, es sei eine Entscheidung, homosexuell zu sein. Und … und dann habe ich Julia auf den Mund geküsst, während sie schlief, und an Neujahr. Aber da war sie wach. Und jetzt bin ich durcheinander.«

Mein hastiges Gebrabbel endete, und eine mir endlos vorkommende Weile herrschte Stille.

Bis Frau Lindner sagte: »Es scheint derzeit eine Menge in Ihnen vorzugehen.«

Danke, Dr. Freud. Das hätte ich auch sagen können. »Ja.«

»Das ist nicht erstaunlich nach allem, was passiert ist. Mein Kollege sagte mir, Sie hätten am Telefon erwähnt, dass Sie Gefühle haben, mit denen Sie nicht klarkommen. Geht es dabei um die Sexualität Ihrer Mutter oder um Ihre eigene?«

»Was meinen Sie mit meiner eigenen Sexualität? Ich bin heterosexuell.«

Frau Lindner runzelte die Stirn. »Also möchten Sie über Ihre Mutter sprechen?«

»Nein. Über Julia.«

»Und was ist mit ihr? Haben Sie ein Problem damit, dass sie lesbisch ist?«

»Nein … ja … nein.«

Frau Lindner hob beide Augenbrauen. »Und das heißt?«

»Ich hatte ein Problem damit, aber wir, also sie und ich, haben darüber gesprochen und eigentlich komme ich jetzt damit klar.«

»Sie sagen ›eigentlich‹.«

Wie sollte ich das bloß erklären? »Ich fühle etwas, das keinen Sinn ergibt.«

»Und was ist das?«

Ich schaute zu Boden. »Manchmal will ich Julia küssen. Wenn wir kuscheln, uns an den Händen halten oder uns auf die Wange küssen, wünschte ich mir oft …« Ich musste schlucken. »Ich wünschte mir oft, es wäre mehr.« Zögerlich hob ich den Kopf und sah Frau Lindner in die Augen. Doch es war unmöglich, etwas darin zu lesen.

»Und dieser Wunsch beunruhigt Sie.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Was für eine Untertreibung. »Ich bin heterosexuell. Warum will ich also mehr?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Und was wäre, wenn Sie bisexuell oder lesbisch wären?«

Mein Mund klappte auf. »Das bin ich aber nicht.«

»Und was wäre, wenn?«

»Ich bin an Frauen nicht interessiert. Nicht … so.«

Frau Lindner verlagerte ihr Gewicht im dadurch leise knarrenden Holzstuhl. »Sie sind hier und erzählen mir, dass Sie sich wünschen, mehr mit, äh, Julia zu machen. Also haben Sie zumindest an einer Frau Interesse.«

Sie drehte mir die Worte im Mund um. »So ist das nicht.«

»Wie ist es dann?«

Ich seufzte laut. Was war denn daran so schwer zu verstehen? »Ich möchte diese Gefühle nicht. Sie sind nicht wirklich meine. Ich bin nur verwirrt und brauche Ihre Hilfe, diese Gefühle wieder loszuwerden.«

Frau Lindner schwieg und betrachtete mich. Irgendwann beugte sie sich vor. »Sie meinen, wie ein Exorzist?«

Was für ein dämlicher Vergleich. »Können Sie mir helfen oder nicht?«

»Wir können uns Ihre Gefühle näher ansehen, damit Sie sie besser einordnen können.«

»Ist das ein ›ja‹?« Diese Frau war wohl kein simpler Ja/Nein-Typ.

Frau Lindner griff in ihre Hosentasche und holte ein Minzbonbon heraus. »Möchten Sie auch eins?«

Ich schüttelte den Kopf.

Sie steckte sich die Süßigkeit in den Mund und lutschte darauf herum. Nach einer Weile schaute sie mich ernst an. »Darf ich hundertprozentig ehrlich sein?«

Diese Frage war nie ein gutes Zeichen. Mein Magen fühlte sich an, als wäre er mit Blei gefüllt. Widerwillig nickte ich. Was sollte ich auch sonst tun?

»Ich weiß kaum etwas über Sie und Ihr Leben, aber von dem, was Sie mir bisher erzählt haben, glaube ich nicht, dass Sie heterosexuell sind.«

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Frau Lindner redete weiter: »Sie empfinden offenbar für diese Julia mehr als nur Freundschaft. Von dem, was Sie mir über Ihre Mutter erzählt haben, vermute ich, der Grund für Ihre Zurückhaltung und Unsicherheit bezüglich Julia liegt in Ihrer Kindheit begründet.«

Diese Frau war definitiv eine Psychologin. Immer war die Kindheit schuld.

»Meine Kindheit war vollkommen normal. Und ich bin hundert Prozent heterosexuell.«

»Warum fühlen Sie dann etwas für Julia, das über eine platonische Freundschaft hinausgeht?«

»Tu ich doch gar nicht. Ich bin bloß etwas durcheinander, das ist alles.« Konnte oder wollte sie das nicht verstehen?

»Und warum sind Sie durcheinander?«, fragte Frau Lindner. »Was denken Sie?«

Wir drehten uns hier im Kreis. Dieses Gespräch brachte mich nirgendwohin. »Gerade jetzt bin ich durcheinander, weil Sie mich durcheinanderbringen.«

»Okay, lassen Sie uns das Ganze mal umdrehen.«

Ich betrachtete Frau Lindner misstrauisch.

»Ich komme zu Ihnen und erzähle, dass ich meine Mitbewohnerin küssen möchte. Was würden Sie als Erstes denken?«

Was würde ich denken? »Ich weiß nicht.«

»Wirklich nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. Keine Ahnung.

»Sie würden sich doch sicher fragen, warum ich meine Mitbewohnerin küssen möchte.«

Ja, wahrscheinlich. Ich nickte.

»Irgendeinen Grund muss es schließlich geben.«

Ich nickte erneut.

»Was für Gründe könnte es denn da geben?«

Ich zuckte mit den Schultern, dachte aber darüber nach. »Vielleicht einfach nur Neugier.«

»Vielleicht«, sagte Frau Lindner. »Und was könnte es sonst noch sein?«

Meine Gedanken kreisten um die Möglichkeiten, und was mir in den Kopf kam, gefiel mir gar nicht. Konnte es sein, dass ich an Julia in einer mehr als freundschaftlichen Art interessiert war? »Ich will das nicht«, flüsterte ich, während ich das Gesicht in meinen Händen vergrub.

»Was wollen Sie nicht?«

Tränen liefen mir die Wangen runter. »Ich will für Julia nicht solche Gefühle haben. Ich will für keine Frau so empfinden. Ich bin heterosexuell.« Beim letzten Satz stampfte ich mit dem Fuß auf den Boden.

»Warum wollen Sie das nicht?«

Mit verweinten Augen sah ich Frau Lindner an, die unverändert ruhig in ihrem Stuhl saß und ihr verdammtes Bonbon lutschte.

Wie konnte ich es dieser Frau begreiflich machen? »Ich will nicht eine von denen sein. Verstehen Sie denn nicht? Ich bin normal. Jeder hat eine Wahl, was er oder sie tut. Ich auch. Und … und außerdem fühle ich nicht so was für Julia.« Oh Gott. Es war eine Lüge. Alles war eine Lüge. Ich war in Julia verliebt. Mein Brustkorb war so sehr zusammengeschnürt, dass ich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. »Ich liebe sie«, sagte ich weinend und schnappte mir eines der Kosmetiktücher aus der Box auf dem Tisch. Dabei mied ich den Blick von Frau Lindner. Ich schämte mich zutiefst. Laut schnäuzte ich mir die Nase.

Für eine Weile war mein lauter Herzschlag das einzige Geräusch.

Bis Frau Lindner sich vorbeugte und mir den Arm tätschelnd sagte: »Derzeit ist alles verwirrend und wahrscheinlich schmerzhaft. Aber Sie haben heute einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan.«

Ich sah sie skeptisch an. Wenn das der richtige Weg war, warum fühlte es sich dann so falsch an?