Kapitel 10
Ich presste die Fingerspitzen gegen das kalte Glas und sah hinaus auf die Nordsee. »Willst du den Sonnenuntergang vom Strand aus sehen?«
Julia schaute vom Kamin auf. »Ich weiß was Besseres.«
War das gerade ein Lächeln in ihrem Gesicht?
Sie eilte mit mir die Treppe hoch.
Neben dem Schlafzimmer befand sich zur Meerseite hin ein weiterer Raum, in dem ich bisher nicht gewesen war. Zwei kleine Tischchen flankierten eine Couch. Ein deckenhohes Bücherregal und ein Kamin spiegelten sich in der Glasfront.
Julia führte mich zur Couch und feuerte den Kamin an. »Möchtest du einen Kakao?«
Ich nickte, während mich der atemberaubende Ausblick in seinen Bann zog. Da das Haus in den Dünen lag, sah ich auf den langen Sandstrand herab. Das blaugrüne Meer schien von hier aus endlos zu sein und mit dem wolkenverhangenen Himmel zu verschmelzen.
Julia verschwand und kam wenige Minuten später mit zwei Tassen Kakao zurück.
Ich nahm meine Tasse entgegen, nippte am Sahnehäubchen und schlürfte dann genüsslich das heiße Getränk.
Wir saßen nebeneinander auf der Couch und beobachteten, wie die Farbe des Horizonts sich langsam von gelb zu orange veränderte und in einem tiefen Rot mündete, bevor der Himmel sich verdunkelte.
Ich stellte meine leere Tasse auf den Tisch neben mir, rutschte etwas nach unten und streckte die Füße aus. Die angenehme Wärme des Kamins ließ mich vollkommen entspannen. Überrascht stellte ich irgendwann fest, dass mein Kopf auf Julias Schulter ruhte. Doch es war bequem und sie beschwerte sich nicht. Der Ausblick, das Knistern des Kamins und das leise Rauschen des Meeres … so ließ es sich leben.
Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen und die Wolkendecke war aufgerissen. Endlos viele Sterne funkelten hell am Himmel.
Leise fragte Julia: »Besser, als am Strand in der Kälte zu sitzen, Oder?«
Ich seufzte. »Du musst denken, ich bin verrückt, aber ich wünschte, ich könnte für immer hierbleiben.« Meine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.
»Irgendwann würde es wohl ziemlich langweilig werden«, sagte Julia. »Aber ich weiß, was du meinst.«
»Julia?«
»Ja?«
Ich hob den Kopf und sah sie ernst an.
In der Dunkelheit wurde ihr Gesicht nur vom Feuer des Kamins erhellt.
»Warum wolltest du nicht hierherkommen? Ich meine, warum hättest du Nein gesagt, wenn man dich gefragt hätte?«
Julia blickte nach draußen. »Es tut mir leid, was ich gestern zu dir gesagt habe. Ich wollte dich nicht verletzen.«
Wie kam sie denn jetzt darauf? »Hast du nicht.«
»Doch. Ich konnte es in deinem Gesicht sehen.«
Ich schloss die Augen. »Vielleicht ein bisschen.«
»Du bist meine Freundin, und na ja, was ich sagen will, ist, du kannst mir deine Meinung sagen. Ich werde versuchen, nicht mehr so aggressiv zu reagieren.«
Freundin? Oh mein Gott, Freundin? Sie verstand mein Verhalten vollkommen falsch. Wie konnte sie bloß denken, dass … stopp. Freundin? Wie in »gute Freundin«? Meine Güte, ich sollte wirklich nicht so viel nachdenken. Sie meinte es ganz harmlos. Ich nahm ihre Hand und schaute in Julias Gesicht. »Ja. Wir sind Freundinnen. Willst du … willst du mir erzählen, warum du dich so abschottest?«
Julia betrachtete unsere Hände und zog ihre langsam weg. »Ich mag es einfach, allein zu sein.«
Ich folgte ihrem Blick, und wir schauten gemeinsam aufs dunkle Meer. Der Mond spendete gerade genug Licht, um die Wellen erkennen zu können, die sich wie sanfte Berührungen an den Strand anschmiegten. Woah, wo kam das denn her? Wurde ich jetzt auch noch poetisch? Worüber hatten wir gerade gesprochen? Ach ja, Julia mochte es, allein zu sein. »Wärst du jetzt lieber allein?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
Julia lächelte und nahm wieder meine Hand.
In diesem Moment klingelte mein Handy. Ich riss meine Hand von Julias los. Warum war ich heute bloß so … anhänglich? Nach kurzem Suchen in meiner Handtasche fand ich mein Handy. Gut, dass ich sie mit hochgenommen hatte. »Ja?«
»Hallo, Schatz.«
»Oh, hallo, Oliver.«
Julia stand auf und legte einen Holzscheit ins Feuer.
»Wie ist es bis jetzt?«, fragte Oliver. »Wie geht es Julia?«
»Ganz gut, denke ich. Wir haben uns gerade den Sonnenuntergang angesehen.«
»Gerade?«
»Ja, wieso?«
»Na ja, der war vor über zwei Stunden.«
Oh. »Anschließend haben wir uns die Sterne angesehen.« Saßen wir wirklich schon so lange zusammen auf der Couch?
»Was plant ihr beiden denn noch für heute Abend?«
Mein Blick wanderte zu Julia, die jetzt an der Glasfront stand und nach draußen schaute. Ich sah lediglich ihren Rücken und dass sie die Arme vor der Brust verschränkt hatte. »Mal sehen.« Was sollte ich sonst sagen?
»Habt ihr schon gegessen?«
»Jetzt, wo du es erwähnst, nein.«
»Ich bin sicher, Julia wird was Leckeres kochen.«
»Hoffentlich. Wenn ich es versuchen würde, wären wir beide nicht glücklich mit dem Ergebnis.«
Oliver lachte. »Hattest du mir nicht erzählt, dass meine liebe Schwester dir Kochen beibringen wollte?«
»Doch, schon.«
»Aber?«
»Nichts, aber. Mal sehen, wann.«
»Mir hat sie ja schließlich auch Kochen beigebracht.«
»Aber wohl bloß ein bisschen. Zumindest von dem, was ich bisher gesehen habe.« Ich kicherte.
»Nur damit du es weißt: Ich bin ein toller Koch. Ich bin halt wählerisch, wem ich das zeige.«
»Ich hoffe, du zeigst es mir, wenn ich wiederkomme.«
Oliver lachte und Julia verließ den Raum.
Ich wollte sagen, sie solle doch bleiben, aber Oliver sprach weiter. »Ich zeig dir, was immer du willst, Baby. Ich ruf dich morgen Abend wieder an. Grüß Julia. Schlaf schön.«
»Mach ich. Du auch.« Ich legte auf, nahm unsere Tassen und ging nach unten.
Julia saß auf der Couch und starrte in den dunklen Kamin.
Ich stellte die Tassen in die Küche und setzte mich neben Julia.
Sie blickte weiterhin auf die Asche im Feuerplatz.
»Ich soll dich lieb von Oliver grüßen.«
»Danke.« Sie schaute einige Minuten gebannt zum Kamin, bevor sie mich ansah. »Ich denke, ich werde früh ins Bett gehen. Ich bin immer noch etwas mitgenommen.«
»Oh, sicher. Aber sollten wir nicht vorher was essen?«
»Würde es dir was ausmachen, bloß ein paar Cornflakes zu essen?«
»Nein, das ist okay. Soll ich dir auch eine Schüssel machen?«
»Nein, danke.« Julia schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.«
Ich strich über ihren Arm. »Iss wenigstens ein bisschen. Ich mach dir eine ganz kleine Portion, ja?«
Unsere Blicke trafen sich.
»Okay.«
* * *
Ich reichte Julia ihre Schüssel und nahm neben ihr Platz. »Möchtest du morgen irgendetwas Besonderes machen?«
Julia lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. »Wir können ja etwas am Strand spazieren gehen.«
Meine Lippen formten ein Lächeln. »Ich liebe es, aufs Meer hinauszusehen. Es beruhigt mich, und irgendwie gibt es mir inneren Frieden.«
Julia nickte. »Mir geht es genauso. Es kann einen großen Unterschied zwischen äußerer Gelassenheit und innerer Ruhe geben. Hier«, Julia machte mit ihrer Hand eine Geste, die Haus, Strand und Meer miteinschloss, »scheint alles in mir im Einklang zu sein.«
Ich lehnte mich zurück. »Und sonst ist das nicht so?«
Julia runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
»Du wirkst meist ruhig. Aber wie sieht es in dir drin aus?«
Julia betrachtete mich lange, ohne etwas zu sagen. Anschließend drehte sie sich mehr zu mir und verlagerte ihre Füße unter ihre Schenkel. »Anders.«
»Und wie genau?« Julia war echt eine harte Nuss.
»Wie sieht es denn in dir aus, Scarlett?«
Ich seufzte. Wenn ich Julia jetzt antwortete, dann ehrlich. »Ich bin oft unsicher.« Nach einer langen Pause fügte ich hinzu: »Manchmal habe ich das Gefühl, mich selbst nicht zu kennen. Und ich stelle alles in Frage. Was ich sage, was ich tue, sogar was ich denke.« Ich hatte Julias Blick bis gerade gemieden, doch jetzt sah ich in ihre tiefblauen Augen.
»Das klingt ziemlich anstrengend.«
Ich nickte.
»War das schon immer so?«
Ich dachte darüber eine Weile nach. »Wenn es jemals anders gewesen ist, kann ich mich nicht daran erinnern.« Jetzt konnte ich auch alles sagen. »Ich habe deshalb sogar eineinhalb Jahre Therapie gemacht. Na ja, deshalb und weil ich mich nicht so gut einlassen kann.«
»Was meinst du mit ›einlassen‹?«
»Einlassen, also gefühlsmäßig und auch … körperlich.« Die ganze Sache war mir peinlich, aber irgendwie wollte ich mit Julia darüber reden.
»Ich bin nicht sicher, ob ich dich verstehe.«
»Es ist wahrscheinlich besser, wenn wir das ganze Thema vergessen. Es ist nicht so wichtig.«
Julia berührte mich sanft am Arm. »Nein, bitte, erklär es mir. Ich möchte das verstehen.«
Ich ließ den Atem langsam entweichen. »Kennst du das Gefühl, wenn nichts richtig zu sein scheint? Wenn sich alles … falsch anfühlt?«
»Was zum Beispiel?«
Ich schloss kurz die Augen. »Mein ganzes Leben?«
»Und etwas spezifischer?«
Ich überlegte eine Weile. »Mein Exfreund Matthias.«
Julia nickte.
»Wir waren eineinhalb Jahre zusammen.«
Ein erneutes Nicken.
»Nach etwa sechs Monaten ließ ich ihn das erste Mal ran, und wenn ich ehrlich bin, hätte ich auch sechs Monate länger warten können.« Besprach ich hier gerade mein Sexleben mit einer Lesbe? Wieso redete ich überhaupt so offen mit Julia? Sie war es, die offenbar Probleme mit sich hatte. Wie waren wir eigentlich bei mir gelandet?
»Und warum?«
Julias Frage riss mich aus den Gedanken. »Was?«
»Warum hättest du auch noch sechs Monate warten können? Fandest du ihn nicht attraktiv?«
Gute Frage. Matthias war ein gut aussehender Mann: hochgewachsen, blonde Haare, blaue Augen und ein sportlicher Körper. »Doch, doch. Er ist sehr attraktiv.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
Ich runzelte die Stirn. Was wollte sie hören?
»Ich habe nicht gefragt, ob er attraktiv ist, sondern ob du ihn attraktiv findest … oder fandest.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wo ist denn da der Unterschied?«
Julia knabberte auf ihrer Unterlippe. »Ashton Kutcher ist ein attraktiver Mann. George Clooney ist ein attraktiver Mann.« Sie grinste. »Natalie Portman und Penelope Cruz sind attraktive Frauen. Können wir uns auf all das einigen?«
Ich überlegte und nickte.
»Bedeutet das, du würdest mit all diesen Leuten gerne ins Bett steigen?«
»Mit beiden Letzteren bestimmt nicht.« Dämliche Frage.
»Und mit den ersten beiden?«
Würde ich? »Nein.«
»Warum nicht? Sie sind doch attraktiv.«
Jetzt dämmerte es mir, und ich kam mir auf einmal ziemlich blöd vor. »Weil ich nichts für sie fühle.«
»Und? Hast du etwas für Matthias gefühlt?«
»Ja, schon. Nur nicht …«
»Nur nicht was?«
»Er war lieb, und ich mochte es, Zeit mit ihm zu verbringen«, sagte ich. »Aber ich mochte es nicht, mit ihm zu schlafen.« Es brach über mich herein wie eine Lawine. »Ich habe es nie gemocht, mit irgendjemandem zu schlafen.« Ich presste die Hand gegen den Mund. »Gott, ich bin frigide.«
Julia begann zu lachen, doch dann stoppte sie abrupt. »Ich kann dich beruhigen. Ich glaube nicht, dass du frigide bist, Scarlett.«
»Wie willst du das wissen?«
»Nenn es ein Gefühl.«
»Dein Gefühl ändert nichts an der Tatsache. Und das erklärt auch, warum ich so Probleme habe, mich in Beziehungen fallen zu lassen. Es dreht sich alles um den verdammten Sex.«
»Klingt so, als könntest du ohne leben.«
Ich sah Julia einen langen Moment an. »Es ist wirklich wahr. Ich könnte vollkommen ohne leben.«
Julia lächelte. »Willkommen im Club.«
»Was meinst du?«
»Ich für meinen Teil habe auch genug davon.«
»Aber du bist doch lesb…«
Julia lachte. »Lass uns das am besten nicht vertiefen.« Nach einer Pause fragte sie mit sanfter Stimme: »Was wirst du jetzt tun?«
»Tun?«
Julia beschrieb mit ihrem Zeigefinger kleine Kreise auf der Couchlehne. »In deiner Beziehung.«
»Ich glaube nicht, dass ich darüber mit der Zwillingsschwester meines Freundes sprechen sollte.«
»Die Zwillingsschwester hat nicht gefragt, sondern die Freundin.«
Erneut trafen sich unsere Blicke.
Obwohl ich mein Gewicht verlagerte, konnte ich keine bequeme Position finden. »Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt habe ich für einen Abend genug über all dieses Zeug nachgedacht.«
»Okay«, sagte Julia.
»Eine Frage habe ich aber noch.«
»Immer raus damit, Scarlett.«
»Was meinst du mit ›du hast auch genug davon‹? Warum?«
Julia schwieg einen langen Augenblick. »Ich hatte zwei Beziehungen in meinem Leben und beide endeten mehr oder weniger in einem Desaster. Kein Sex der Welt ist das wert. Ich habe nicht vor, ein Keuschheitsgelübde abzulegen, aber für den Moment möchte ich mich von all dem fernhalten.«
»Und nur Sex?« Hatte ich das gerade gefragt?
Julia starrte mich an. »Ich fasse es nicht, diese Frage von dir zu hören.«
Da war sie nicht allein. Wie kam ich bloß auf diesen Mist? Wollte ich die Antwort überhaupt hören?
Julia schloss die Augen. »Sex ohne Liebe ist nicht das, was ich will. Ich könnte so was niemals machen.«
Sex ohne Liebe … Hatte ich meine Freunde wirklich geliebt? Gemocht, ja. Geliebt, keinen Einzigen. Vielleicht war ich doch nicht frigide. Vielleicht hatte ich einfach noch nicht den Richtigen gefunden. Aber was bedeutete das in Bezug auf Oliver?