Kapitel 3

»Da bist du ja«, begrüßte mich Nathalie, als ich in die Küche kam.

Ich warf ihr einen eindeutigen Blick zu. »Hast du dich gestern noch gut amüsiert?«

Andere Frauen wären vermutlich errötet. Schließlich hatte ohne Zweifel jeder auf der Party gewusst, wohin sie mit Daniel später am Abend verschwunden war und vor allem warum.

Doch Nathalie grinste. »Es wäre besser gewesen, wenn Daniel nicht so betrunken gewesen wäre. Seine … Standfestigkeit ließ zu wünschen übrig.«

Ich goss mir eine Tasse Kaffee ein und legte meine Jacke über eine Stuhllehne. »So genau wollte ich es auch wieder nicht wissen.«

Wir setzten uns einander gegenüber an den Esstisch.

»Was war gestern mit dir los?«, fragte Nathalie nach kurzem Zögern.

»Was meinst du?«

»Du hast doch nicht wirklich gemeint, was du zu Julia gesagt hast.«

Ich wich Nathalies Blick aus und nahm einen großen Schluck. Wie sollte ich darauf antworten? Sicher, ich war gestern etwas direkt gewesen, aber sie hatte darauf total überzogen reagiert.

»Ich fasse es nicht.« Nathalie stand auf, goss sich auch einen Kaffee ein und nahm wieder Platz. »Wir kennen uns jetzt wie lange? Etwas über zwei Jahre, richtig?«

Ich nickte.

Nathalie stellte ihre Tasse beiseite. »Du musst denken, ich sei bekloppt, aber die wenigen Situationen, in denen du schwulenfeindliche Sprüche gebracht hast, habe ich wirklich gedacht, du machst Scherze. Ich fand‘s nicht komisch, aber ich dachte, das wäre halt dein Humor. Im Leben hätte ich nicht gedacht, dass meine beste Freundin homophob ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt übertreibst du aber.«

Nathalie stand erneut auf und stellte sich mit verschränkten Armen vor mich. »Ist das so? Scarlett, ich habe mich gestern Abend geschämt, deine Freundin zu sein. Verdammt, es war mir sogar peinlich, dich zu kennen.«

Meine Kinnlade fiel runter.

Eine lange Zeit sahen wir einander schweigend an.

Dann sagte Nathalie: »Das gestern Abend warst nicht du.«

»Was war ich nicht?« Ich schob mein Kinn nach vorne. »Hab ich nicht das Recht auf meine Meinung? Du tust fast so, als ob ich die Wiedereinführung der Apartheid in Südafrika gefordert hätte.« Ich nahm mehrere tiefe Atemzüge, um mich zu beruhigen. Erfolglos. »Du fragst mich, was gestern mit mir los war? Was ist mit dir los, Nathalie?«

»Was du hast, ist keine Meinung. Deine Worte gestern klangen wie eine Hasstirade.« Sie legte eine Hand auf meine Schulter und sagte leise: »Ich habe dich nicht wiedererkannt.«

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Vielleicht war ich nicht sehr diplomatisch gewesen, aber deshalb hatte ich es nicht weniger gemeint. Alles, was ich getan hatte, war, die Wahrheit auszusprechen.

Ich hasste Homosexuelle nicht. Sie taten mir bestenfalls leid, und ich fühlte mich von ihnen belästigt. Und … ja, ich sah sie auch als Gefahr für Kinder und Jugend und Sitte und Moral. Aber Hass fühlte ich nicht. Oder? »Ich habe mich bei Julia entschuldigt. Und heute Abend gehen Oliver, Julia, eine Freundin von ihr und ich sogar zusammen tanzen. Das sagt doch wohl genug.« Wieso rechtfertigte ich mich hier eigentlich? Warum sollte ich mich dafür entschuldigen, dass Homos mehr und mehr in die Öffentlichkeit drängten und unsere Gesellschaft vergifteten?

Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war es doch keine gute Idee, heute Abend mit den Dreien auszugehen. Am Ende würde Julia noch denken, ich würde ihren kranken Lebensstil gutheißen.

Nathalie setzte sich wieder. Ihre braunen Augen betrachteten mich eindringlich. »Ich hab es selbst mal mit einer Frau ausprobiert.«

Oh mein Gott! Mit beiden Händen umklammerte ich die Tischkante, in der Hoffnung, nicht vom Stuhl zu fallen.

»Ich wollte mal sehen, ob das was für mich ist.«

Ich starrte sie an. War das ein Witz? Wenn ja, hatte Nathalie einen echt kranken Humor.

Sie zuckte mit den Schultern. »Es war ganz nett, aber irgendwas fehlte halt.« Sie betrachtete mich ernst. »Der Punkt ist, es wäre nicht schlimm gewesen, wenn ich es gemocht hätte und dabei geblieben wäre. Oder wenn ich Männer und Frauen mögen würde.« Nathalie griff nach meiner Hand, doch ich zog sie weg.

In ihren Augen zeichneten sich Tränen ab. »Wer zur Hölle hat dir bloß so einen Mist eingetrichtert?«

Ruckartig stand ich auf. Ich konnte mir das nicht länger anhören. Ohne ein Wort zu sagen, schnappte ich mir meine Jacke und verließ die Küche.

»Wo gehst du hin?«

»Ich brauche frische Luft«, brummte ich und stürmte aus der Wohnung.

* * *

Mein Weg führte mich in den nahegelegenen Stadtpark. Mit hochgeschlossener Jacke und den Händen in den Hosentaschen ließ ich das Gespräch mit Nathalie und die aktuellen Ereignisse noch einmal Revue passieren. Was würde mein Vater jetzt wohl tun? Ich schüttelte den Kopf über diesen automatischen Gedanken. Mein Vater war vor drei Jahren an einem Aortenaneurysma gestorben und trotzdem versuchte ich nach wie vor, ihm alles recht zu machen. Aber das hatte ich schon zu seinen Lebzeiten nie geschafft.

Ich vergrub mein Gesicht im Jackenkragen und fasste einen Entschluss.

* * *

»Jetzt erzähl mal, warum du hier bist.« Meine Mutter stellte eine Tasse Pfefferminztee vor mir ab und setzte sich neben mich an den Esstisch in der Küche.

»Brauche ich einen Grund, um dich zu besuchen?«, fragte ich, während ich Popeye auf meinem Schoß hinterm Ohr kraulte.

»Nein, natürlich nicht«, sagte meine Mutter. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass dich etwas beschäftigt.«

Ich senkte den Blick und suchte nach den richtigen Worten. Diese ganze Sache war einfach lächerlich. Warum musste Nathalie bloß so überreagieren? Ich holte tief Luft. »Nathalie und ich haben uns gestritten.«

»Worum ging es?«

Ich blies auf meinen Tee und nahm einen kleinen Schluck. »Wir haben unterschiedliche Meinungen über etwas.«

»Und worüber?«

»Sie findet es vollkommen in Ordnung und normal, wenn Homosexuelle durch die Gegend laufen und ihre … Neigungen ausleben. Sie hat mir sogar erzählt, sie«, ich musste schlucken, »hat so was selbst mal gemacht.«

Meine Mutter schaute mich mit einem sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck an, und ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob es eine so gute Idee gewesen war, mit ihr über dieses Thema zu sprechen.

»Man kann nichts für seine Gefühle, Scarlett.«

Ich blinzelte. Mit dieser Antwort hatte ich echt nicht gerechnet. »Was meinst du damit?«

Mama sah unglaublich traurig aus. Es war derselbe Gesichtsausdruck, den ich so oft in meiner Kindheit bei ihr beobachtet hatte. »Du kannst Menschen nicht für ihre Gefühle verurteilen.«

»Das tue ich doch gar nicht«, sagte ich lauter als beabsichtigt und Popeye sprang von meinem Schoß. »Diese Leute können nichts dafür, krank zu sein. Aber die meisten versuchen nicht mal, was dagegen zu tun. Sie sehen nicht, dass die Art, wie sie leben, falsch ist.«

»Du musst das, was sie tun, nicht richtig finden. Denn das ist es nicht.« Meine Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Aber hier geht es nicht um richtig oder falsch. Es geht um Toleranz. Wir müssen nun mal alle miteinander auskommen. Das schließt auch Homosexuelle mit ein.«

Ich dachte einen Moment über ihre Worte nach. Dann sagte ich: »Das ist keine Frage der Toleranz. Sie verderben unsere Kinder und bringen sie auf dumme Gedanken. Außerdem fühle ich mich in der Gegenwart von diesen Leuten nicht wohl.«

Mama betrachtete mich für eine Weile, bevor sie fragte: »Hat dir jemals ein Homosexueller etwas getan?«

»Wie meinst du das?«

»Ist dir zum Beispiel jemals eine Lesbe zu nahe getreten?«

Ich dachte sofort an Julia und unsere Zusammentreffen. War sie mir wirklich zu nahe getreten? Nein, eigentlich nicht. »Nein.«

»Vielleicht wollen diese Leute bloß das, was alle anderen auch wollen: einfach in Frieden leben.«

»Aber warum müssen sie es so zur Schau stellen?«

»Ich hab auch nicht alle Antworten, Scarlett.« Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Dein Vater und ich hatten etwas unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema.«

Warum erwähnte sie das? Erst jetzt wurde mir etwas bewusst: Mama hatte nie so hasserfüllt wie mein Vater über Homosexuelle geredet. Ich lehnte den Kopf an ihre Schulter und seufzte. »Es ist wirklich eine Schande, dass wegen dieser Sache meine Freundschaft mit Nathalie in Gefahr ist.«

»Glaubst du das?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir denken zu unterschiedlich.«

»Dann sag Nathalie das.«

»Was soll ich ihr sagen?«

»Ihr denkt unterschiedlich darüber, aber es ändert nichts an eurer Freundschaft. Zumindest solltest du ihr das sagen, wenn du so fühlst.«

Tat ich das? War es okay für mich, vollkommen unterschiedlicher Meinung mit Nathalie zu sein? Möglicherweise wäre dem so gewesen, wenn ich nicht ständig das Bild von Nathalie im Kopf gehabt hätte, wie sie mit einer anderen Frau … was auch immer tat. »Danke, Mama. Ich werd drüber nachdenken.«

* * *

Ich klopfte an Nathalies Zimmertür und wartete. Nach wenigen Augenblicken ging die Tür auf und meine beste Freundin stand vor mir.

Ihre Augen waren geschwollen. Hatte sie geweint?

Einen Moment lang schauten wir einander an, bevor wir einander in die Arme fielen.

»Es tut mir leid, Nathalie. Wir haben einfach unterschiedliche Meinungen in dieser Sache.«

Wir brachen in Tränen aus. Es war der erste Streit, den wir jemals gehabt hatten.

»Ich respektiere deine Meinung, Scarlett, aber ich verstehe deinen Hass nicht.«

»Ich hasse Homosexuelle nicht.«

»Es klingt aber so. Ach, lass es uns vergessen. Okay?«

Ich nickte und löste mich aus der Umarmung. Danach nahm ich sie an die Hand, und gemeinsam gingen wir in die Küche.

»Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe, Scarlett. Also, dass ich dich gar nicht kenne.«

Ich tätschelte Nathalie den Arm. »Es ist okay. Lass es uns einfach vergessen. Vielleicht wollen du und Daniel heute Abend ja auch mitkommen?«

Nathalie lächelte. »Ich frag ihn, aber ich denke, wir kommen.«

Wir fielen einander erneut in die Arme.

Nach einem langen Moment fragte ich: »Aber das mit deinen Experimenten, oder wie immer du es nennst, hat sich erledigt, oder?«

»Keine Sorge. Ich bin hetero. Keine Experimente mehr.«

Erleichtert ließ ich den angehaltenen Atem entweichen.

* * *

Nathalie, Daniel und ich kamen pünktlich am »Atlantis« an.

Oliver, Julia und Anja waren noch nicht da, und so suchten wir uns einen der wenigen freien größeren Tische und bestellten Cocktails. Gleichzeitig mit unseren Getränken kamen auch die drei Verspäteten.

»Hey, Scarlett, wen hast du denn hier mitgebracht?«, rief Julia. Sie sprach etwas zu laut und gestikulierte wild herum. Julia gab ihrem Bruder Daniel eine kurze Umarmung und Nathalie einen Kuss auf die Wange. Danach betrachtete sie mich und zögerte.

Ich streckte ihr höflich die Hand entgegen, und Julia ergriff sie. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass sich Anja und Oliver sehr ungeschickt bewegten und in der Gegend herumgrinsten. Anschließend begrüßten sie mich mit einem Kuss auf die Wange.

»Schön, dich wiederzusehen«, flüsterte mir Oliver ins Ohr.

Anja schaute schmunzelnd auf unsere Cocktails. »Ihr habt wohl schon ohne uns angefangen.«

»Und was ist mit euch? Erzählt bloß nicht, ihr hättet nichts getrunken, bevor ihr hier aufgetaucht seid«, sagte Daniel.

»Das ist meine Schuld«, erklärte Anja übertrieben reumütig. »Die beiden wollten mich aufheitern und haben mit mir eine Flasche Tezi leer gemacht.«

»Tezi?«, fragte ich.

»Tequila mit Zimt. Hat nur so zwanzig oder fünfundzwanzig Prozent, aber haut trotzdem ganz schön rein.« Anja kicherte.

Unterdessen spürte ich Julias Blick auf mir. Ich ignorierte sie. »Klingt interessant.« Nervös rutschte ich auf meinem Sitzplatz herum und versuchte, Julia nicht anzusehen.

»Wir haben noch eine Flasche zu Hause. Du kannst ja mal vorbeikommen und was probieren«, flüsterte Oliver mir ins Ohr.

Ich schenkte der Zweideutigkeit in seinen Worten keine Beachtung. »Wer ist wir? Du und Julia, ihr wohnt zusammen?«

Oliver nickte und blickte mir tief in die Augen. Dann beugte er sich vor und gab mir einen sanften Kuss auf den Mund. Als der Kuss intensiver wurde, räusperte sich jemand.

»Stören wir?«, fragte Daniel.

Oliver und ich lösten uns voneinander.

Er wurde rot im Gesicht, und dem Brennen meiner Wangen nach zu urteilen, ich auch. Ich sah zu Julia hinüber und bemerkte, dass sie auf ihren Schoß starrte. Hatten Homos ein Problem damit, Heterosexuelle küssen zu sehen?

Ach, wen scherte das? Gerade wurde mein zweiter Cocktail gebracht. Das war wesentlich interessanter. Richtig? Richtig. Normalerweise war nach dem ersten Mai Tai Schluss, aber irgendwie war mir heute danach, mir die Kante zu geben.

* * *

Schon vor der Disco konnten wir die laute Musik hören. Oliver und ich gingen ebenso wie Daniel und Nathalie Arm in Arm. Anja hatte sich bei Julia eingehakt.

Ich nahm mir vor, es als das zu sehen, was es war: eine einfache freundschaftliche Geste. Dennoch hatte ich dieses ungute Gefühl, immer wenn Julia in der Nähe war.

Die Musik in der großen Halle war klasse. Als wir reinkamen, riefen gerade alle im Saal: »Who The Fuck Is Alice?«. Wir stürmten auf die Tanzfläche und begannen, zu tanzen und mitzusingen.

Oliver tanzte ganz dicht vor mir und hielt mit einer Hand lose meine Hüfte fest.

Am liebsten wäre ich ein paar Zentimeter zurückgewichen. Mein Blick wanderte zu den Paaren um uns herum. Sie schienen sich alle nicht nah genug sein zu können. Was war mein Problem? Warum wollte ich das nicht? Ich sollte nicht so viel nachdenken. Oliver war ein attraktiver Mann. Also tat ich das, was ich in diesen Fällen immer tat: Ich spielte mit. Ich schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn zu einem Kuss herunter. Während wir uns küssten, schwang ich meine Hüften im Takt der Musik. Als Olivers Körper jedoch zu … animiert reagierte, wich ich zurück.

Oliver versuchte, mich festzuhalten.

»Oliver, ich hol mir was zu trinken«, rief ich, um die Musik zu übertönen. »Bin gleich wieder da.«

Einen Schmollmund machend, ließ er mich los. Danach verschwand er in Richtung der Männertoiletten.

Als ich an der Bartheke auf die Bedienung wartete, tauchte Julia neben mir auf. »Er hatte ein bisschen zu viel heute Abend.«

Ich spielte mit einem herumliegenden Bierdeckel. »Ich mag es nicht, ihn zurückweisen zu müssen, aber er ist wirklich etwas aufdringlich, um ehrlich zu sein.«

Julia lehnte sich mit dem Rücken an die Theke und betrachtete mich. »Er war sehr nervös wegen heute Abend. Da hat er sich Mut angetrunken und es scheinbar etwas übertrieben.«

Ich nickte. Die Bedienung kam und ich bestellte einen Wodka Red Bull. Kaum hatte ich bezahlt, begann ein neues Lied.

»Das ist mein Lieblingssong.« Julias Blick sprang zwischen mir und dem Boden hin und her. »Willst du … tanzen?«

Warum eigentlich nicht? Es war ja nur Tanzen. Und ich hatte mir vorgenommen, mir Mühe im Umgang mit Julia zu geben. Ich trank meinen Drink in einem Zug aus, stellte das Glas auf die Theke und folgte Julia zur Tanzfläche. Zwar achtete ich darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, aber abgesehen davon, war ich zum ersten Mal, seit ich von Julias … Neigung wusste, entspannt in ihrer Gegenwart.

Das nächste Lied war auch perfekt für die Stimmung, und wir sangen laut mit.

Ich stoppte, als mir bewusst wurde, was ich da sang. Bei der Stelle »be my baby« hatten wir einander angesungen. Oje. Meine Wangen wurden ganz heiß. Ich winkte in Richtung der Theke, bevor ich hastig die Tanzfläche verließ. Das hatte Julia sicher missverstanden. Ich musste Oliver finden. Sie musste sehen, wie wir einander küssten. Dann würde sie verstehen, dass ich mitgesungen hatte, ohne nachzudenken.

Doch Oliver war nirgends zu sehen.

Nach etwa zehn Minuten hatte ich ihn immer noch nicht gefunden. Also fragte ich Daniel und Nathalie. Ich störte die beiden nur ungern.

Sie standen in einer dunklen Ecke und küssten sich ziemlich wild.

Aber ich machte mir langsam Sorgen um Oliver. Und Julia wollte ich nicht fragen.

»Ich hab weder Oliver noch Anja in der letzten Zeit gesehen«, meinte Daniel und zu dritt beschlossen wir, auf die Suche zu gehen.

* * *

Als wir die beiden fanden, traute ich meinen Augen kaum.

Anja saß auf Olivers Schoß in einer Ecke nahe der Garderobe und sie küssten einander leidenschaftlich.

Oliver sah mich, bevor Anja es tat. Sofort schob er Anja zur Seite, stand auf und torkelte in meine Richtung. »Es is‘ nich‘, wonach es aussieht«, lallte er hastig.

»Oliver, wir haben keine Beziehung. Du kannst machen, was du willst«, sagte ich, aber meine Stimme zitterte. Noch nicht mal richtig zusammen und schon betrogen.

»Sie hat ohne Vorwarnung angefangen, mich zu küssen.«

»Du armes Opfer«, rief Nathalie.

Selbst Daniel starrte Oliver mit zusammengekniffenen Augen an.

Nathalie hakte sich bei mir ein und zog mich weg. »Lass uns Spaß haben.«

Daniel folgte uns.

* * *

An der Theke bestellte uns Nathalie doppelte Tequila.

Wir leckten das Salz von unseren Handrücken und tranken den Schnaps in einem Zug aus. Anschließend lutschten wir an den beiliegenden Zitronenscheiben.

»Bah.« Ich verzog das Gesicht. »Warum lass ich mich von dir immer zu so was überreden?«

Nathalie zuckte mit den Schultern.

In diesem Moment tauchte Julia auf. »Alles okay?«, fragte sie, während ihr Blick zwischen Nathalie und mir hin- und herwanderte.

War es so offensichtlich, dass was passiert war?

Daniel zog sie zur Seite und sagte ihr etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen konnte, weil die Musik zu laut war.

Julia riss die Augen auf und glotzte ihn an.

Dann begannen die Geschwister ein Streitgespräch, in dessen Verlauf sie wild herumgestikulierten.

Schließlich stapfte Julia davon.

* * *

Julia tauchte plötzlich neben mir auf und ich zuckte zusammen.

Nathalie reichte mir wenige Momente später das dritte hochprozentige Gesöff und ich leerte es in einem Zug, um mich wieder zu beruhigen.

Daniel rückte näher. »Was hast du gemacht?«

Julia hielt ihm ihre flache Hand vor die Nase.

Ich ergriff sie. Die Hand war leicht gerötet. Was hatte sie getan? Mit offenem Mund starrte ich Julia an. Als Oliver mit einer deutlich geröteten Wange vor uns auftauchte, sprang mein Blick zwischen den Zwillingen hin und her. Wie hatte Julia bloß ihren eigenen Bruder schlagen können? Dieses Rumgeknutsche betraf sie doch nicht einmal selbst.

In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich immer noch Julias Hand hielt. Hoffentlich hatte sie das jetzt nicht missverstanden. Ich ließ die Hand fallen. »Warum hasse das gemacht?«

Julia beugte sich etwas vor. Vermutlich, um mich trotz der lauten Musik hören zu können.

Ich wich instinktiv zurück.

»So behandelt man keine Frau«, grummelte sie.

Was? Verstand ich das richtig? Eine Lesbe hatte versucht, meine Ehre gegenüber meinem Beinahe-Freund zu verteidigen? Irgendwas stimmte an diesem Bild ganz gewaltig nicht. Ich stemmte die Hände in die Hüften. Warum zum Teufel hatte sie das gemacht? »Und du meinst, ‘s bringt was, wenn du auf deinen stuss… stuss… sturzbetrunkenen Bruder einschlägst?« Ich hielt mich mit einer Hand an der Theke fest. Der Raum um mich herum begann, sich zu drehen. Schätze, der letzte Drink war einer zu viel für mich gewesen.

Julia senkte den Kopf. »Es bringt sicher nichts, aber ich war so wütend auf ihn.«

Ich wollte ihr die Schulter tätscheln, doch verlor beim Vorbeugen das Gleichgewicht. Ehe ich mich versah, rutschte meine Hand von der Theke und ich fiel in Julias Richtung. Dabei riss ich sie mit zu Boden.

Im nächsten Moment lag Julia flach auf dem Rücken und ich auf ihr.

Mein Herz raste. Ich lag auf einer Lesbe. Ich lag auf einer Lesbe! Mit zitternden Händen versuchte ich, mich aufzurichten. Dabei stützte ich mich auf was Weichem ab. Mein Blick folgte meiner Hand. Oh, Gott, ihre Brust. Ich riss die Hand weg und fiel wieder auf Julia.

Glücklicherweise griff mich jetzt jemand von hinten. Es war Daniel. Er half erst mir hoch und dann Julia.

Hoffentlich würde sich der Boden unter mir öffnen und mich verschlucken. Wie peinlich. »Es tut mir sooo leid, Julia. Echt. Isch … isch hab wohl etwas zu viel getr…«

»Wir hatten alle reichlich heute Abend«, unterbrach sie mich und klopfte sich was vom Hintern.

»Süße, lass uns nach Hause fahren«, sagte Nathalie.

»Nein, fahr du mit Daniel.« Olivers Aktion würde denen nicht auch noch den Abend verderben.

Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch ich stoppte sie. »Isch komm schon klar.«

Nathalie hob beide Augenbrauen, doch es war Daniel, der sagte: »Wir lassen dich nicht alleine nach Hause gehen.«

»Ich bring sie.«

Alle schauten zu Julia.

Was? Nie und nimmer. Hatte ich hier etwa nichts zu sagen? Ich würde mich sicher nicht von einer Lesbe nach Hause bringen lassen. Nicht einmal von Julia.

»So machen wir‘s«, sagte Nathalie und Daniel nickte.

Oliver schwieg weiterhin und starrte auf seine Füße.

»Julia, du bringst Scarlett nach Hause. Ist ja nicht weit. Und wir bringen Oliver ins Bett. Das liegt ja eh auf dem Weg. Aber nimm dann ein Taxi zurück. Nicht dass du allein in der Nacht rumwanderst. Ich geb dir auch das Geld«, sagte Daniel, und alle Beteiligten außer mir stimmten zu.

Ich kaute schweigend auf meiner Unterlippe herum.

»Wo ist eigentlich Anja?«, fragte Julia.

»Sie hat ein Taxi nach Hause genommen«, murmelte Oliver.

* * *

Das Laufen fiel mir nicht ganz leicht. Alles drehte sich. Hoffentlich würde ich nicht über die eigenen Füße stolpern.

Nach einigen Schritten blieb Julia stehen, und obwohl wir sehr langsam gingen, fiel es mir schwer, beim Stehenbleiben nicht hinzufallen. Julia seufzte. »Du kannst kaum laufen.«

Ich zuckte mit den Schultern. Zumindest war das meine Absicht. Tatsächlich schlackerten bei der Geste auch beide Arme in der Gegend herum.

Julia schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich lächerlich. Normalerweise würde ich meinen Arm um dich legen und dich stützen, aber ich weiß genau, du würdest ausflippen.«

Konnte ich sie wirklich helfen lassen? Ach, warum eigentlich nicht? »Ich hak mich jetzt bei dir ein. Das hilft schon. Abba nur damit das hier klar is‘: Ich will nix von dir.« Bevor Julia etwas sagen konnte, fuhr ich fort: »Du bist schief gewickelt, wenne glaubst, bloß weile so verdammt gut aussiehst und sexy tanzen kannst, dass ich was von dir will.«

Julia hob eine Augenbraue. Dann streckte sie mir den Ellbogen entgegen und ich nahm den angebotenen Arm.

Daraufhin ging es wesentlich schneller voran.

»Ich seh dein Grinsen«, grummelte ich.

»Du findest also, ich sehe verdammt gut aus und tanze sexy?«

Als ich zu ihr rüberschaute, verlor ich beinahe das Gleichgewicht, aber Julia stützte mich mit ihrer freien Hand, bevor sie sie wieder hastig wegzog. »Was?« Hatte ich das wirklich gesagt? Verdammt. Meine Güte, der Alkohol bekam mir definitiv nicht.

»Nichts, schon gut.«

Meine Augen wurden zu Schlitzen. Was fiel ihr eigentlich ein? »Such dir jemand and‘ren, mit deme deine kranken Spielschen treiben kanns‘. Ich hab nich‘ und werd nie …« Tja, was eigentlich? Was machten zwei Frauen miteinander?

»Du wirst nie was?«

Diese ganze Unterhaltung fing an, mich zu verwirren. »Du weißt schon was«, brummte ich und das Thema war damit für mich erledigt.

»Aha. Wie du meinst.«

»Ja, mein ich.«

* * *

Endlich zu Hause, stolperte ich erschöpft in mein Zimmer und ließ mich aufs Bett fallen.

Julia blieb an der Zimmertür stehen. »Bitte. Gern geschehen. Stets zu Diensten.«

»Danke«, sagte ich und schloss die Augen. Wenn sich nur nicht alles drehen würde. Mir war so schlecht.

»Kommst du jetzt alleine klar?«

Träge klappte ein Augenlid auf und ich hob den Kopf, um Julia anzusehen. Ich öffnete das zweite Auge. Es war unglaublich, dass jemand so gut aussehen konnte. Ihre langen schwarzen Haare fielen wild über ihre Schultern. Und so sehr ich es auch versuchte, ich konnte den Blick nicht von diesen leuchtenden, tiefblauen Augen abwenden. Mit den Armen vor der Brust verschränkt, lehnte sie lässig am Türrahmen. Ihre Gesichtszüge waren entspannt und ihre vollen Lippen … stopp, was zum Teufel war hier los? War ich gerade dabei, eine Frau, genauer gesagt eine lesbische Frau, anzuschmachten? »Was zum Teufel …?« Hatte ich das laut gesagt?

»Alles in Ordnung, Scarlett?«

Bevor ich die Frage bejahen konnte, überkam mich eine unglaubliche Übelkeit. »Hilf mir schnell ins Bad.«

Mit zwei großen Schritten kam Julia auf mich zu und zog mich hoch. In diesem Augenblick passierte es: Ich übergab mich direkt auf Julia. Dann gaben meine Beine nach und ich sank zu Boden.

Julia sprang, leider zu spät, zur Seite. »Bevor noch mehr kommt, gehen wir besser ins Bad.« Sie half mir auf. »Wo geht‘s lang?«

»Die linke Tür neben dem Eingang.« Meine Knie waren ganz weich, und ohne Julias Hilfe hätte ich es nie und nimmer ins Bad geschafft. Vor der Kloschüssel kniend, schielte ich zu Julia. »Es tut mir sooo leid.«

Julia antwortete nicht. Stattdessen kniete sie sich neben mich, als ich mich erneut übergab, und legte ihre warme Hand auf meinen Rücken.

»Ich trink sonst nie so viel. Ich …«, und erneut übergab ich mich. Mein Kopf hämmerte schmerzhaft.

Nach einer Weile schien mein Magen endgültig leer zu sein. Julia half mir behutsam auf die Beine und drehte den Wasserhahn auf.

Ich wusch mir das Gesicht und putzte mir ungeschickt die Zähne. »Ich werd ‘ne Dusche nehmen«, murmelte ich. »Kannste mir meinen Pyjama aus meinem Zimmer holen? Er liegt unterm Kopfkissen.«

Julia nickte und verschwand.

Ich saß in der Zwischenzeit auf dem Toilettendeckel und schloss die Augen.

Wenige Momente später stand Julia wieder in der Tür. Sie wich meinem Blick aus, als sie mir mein Schlafzeug reichte. »Brauchst du … ähm … kommst du zurecht?«

Hätte mich Nathalie gefragt, hätte ich Nein gesagt. Aber niemals, nicht in hundert, ach was sage ich, in tausend Jahren, hätte ich Julia erlaubt, mir beim Ausziehen zu helfen. In dem Fall hätte ich ja gleich ein Schild mit der Aufschrift »nimm mich« tragen können. »Ich komm klar.«

»Wenn du Hilfe brauchst, ruf einfach.«

Julia schloss die Tür und ich zog mich aus.

* * *

Nach einer Weile öffnete ich frisch geduscht, aber mit einem vermutlich schuldbewussten Gesichtsausdruck die Badezimmertür.

Gegen die Wand gelehnt stand eine im wahrsten Sinne des Wortes angekotzte Julia. »Besser?«

»Mmh.«

»Bitte flipp nicht aus, aber könnte ich eventuell auch …?« Julia schaute an sich runter.

Ich hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. »Eine Dusche is‘ das Min… Mindeste.«

»Danke.«

»Bedank dich nich‘ dafür, dass ich dich angekotzt hab.«

»Dafür habe ich mich sicher nicht bedankt.«

Ich holte tief Luft. »Julia, bitte entschuldige. Du has‘ mich bis jetzt echt nur von meina schlechtesten Seite kenngel… kennengelernt.«

»Da bin ich aber beruhigt.«

»Hä?«

»Na ja, ich hatte schon befürchtest, du würdest mir sagen, das ist deine beste Seite.«

Wenn das witzig sein sollte, hatte ich irgendwas verpasst. Gott, ging‘s mir dreckig. Ich wollte bloß ins Bett. Mit einer Hand wedelte ich vor Julias Gesicht rum. »Handtücher sind im Schrank hinter der Tür.«

»Ähm, hättest du vielleicht auch …?«

»Was?«

Julia guckte mit gerümpfter Nase auf ihr Top.

»Oh. Ja, klar. Ich hab noch was von meinem Ex irgendwo. Das müsste dir pass‘n.« Ich schaute mich im Gang um. Was suchte ich noch mal?

»In deinem Zimmer?«

Ich runzelte die Stirn. »In meinem Zimmer, was?«

»Sachen. Von deinem Ex. Für mich.«

»Oh, ja.« Ich hielt mich an der Wand fest, während ich langsam zu meinem Zimmer wankte.

»Brauchst du Hilfe?«, rief mir Julia hinterher.

»Nein. Geht schon. Kannst ja schomma duschen.«

Es dauerte einen langen Moment, bis ich ein »okay« hinter mir hörte.

Ich dachte nicht weiter darüber nach und kämpfte mich den Gang entlang. In meinem Zimmer fand ich nach endlos scheinender Suche im Kleiderschrank Shorts und ein T-Shirt, die Julia passen konnten. Der lange Weg zurück zum Bad war auch irgendwann geschafft und ich pochte mehrfach gegen die Tür. Als von innen etwas zu hören war, was so ähnlich klang wie »herein«, stolperte ich ins Bad und starrte auf die Duschkabine aus Milchglas.

Nette Silhouette. Ich kicherte über den gedanklichen Reim.

»Leg die Sachen bitte auf den Toilettensitz.« Julias Worte rissen mich aus meinen Gedanken.

»Okay«, murmelte ich und legte die Klamotten hin.

Julia quiekte und ich zuckte zusammen. »Was‘n los?«, fragte ich.

»Mist, verdammt. Das Wasser ist plötzlich kalt. Gott, ist das eisig. Und meine Haare sind noch voller Shampoo.«

»Tut mir leid. Hab wohl zu lang geduscht.«

Ich bekam keine Antwort.

Erst kotzte ich Julia voll und danach ließ ich bloß kaltes Wasser für sie übrig. Irgendwie musste ich versuchen, das wieder gutzumachen. »Ich mach Tee, damite dich gleich aufwärmen kanns‘.«

»Kriegst du das hin?«

»Ich hab swar ganz schön ein‘ im Kahn, aber das würd ich sogar im Schlaf hinkrieg‘n.«

»Verbrenn dich nicht.«

Die Sorge in Julias Stimme rührte mich. Meine Gedanken wurden von einem erneuten Quieken unterbrochen, und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich bin dann ma‘ wech.«

»Okay.«

Ich schloss die Badezimmertür und wankte Richtung Küche. Dort angekommen, setzte ich mich einen Moment hin, senkte den Kopf und schloss kurz die Augen.

* * *

Unter mir bewegte es sich. Jemand hielt mich. Ich riss die Augen auf. Oh nein, ich hing in Julias Armen, und sie stand vor meinem Bett. Das passierte doch nicht wirklich, oder? Hilfe! Mit aller Kraft wehrte ich mich und Julia fiel mit mir aufs Bett.

»Verdammt, was machst du?« Julia ließ mich los und stand auf.

»Was zum Teufel haste mit mir gemacht?« Gott sei Dank war ich aufgewacht. Wer weiß, was sie sonst …

»Du bist in der Küche eingeschlafen. Ich habe versucht, dich zu wecken. Und als du nicht aufgewacht bist, habe ich dich in dein Zimmer getragen. Als Nächstes hast du mich angegriffen.«

»Ich hab dich nich‘ angegriffen. Ich dachte, du greifst mich an.«

»Ich habe die Schnauze voll«, rief Julia. »Die ganze Zeit gebe ich mein Bestes, um nett zu dir zu sein. Ich versuche, dich nicht anzufassen, bin vorsichtig, was ich sage, verdammt, ich trau mich ja kaum, dich anzusehen.«

»Du schaust mich verdammt oft an, dafür dasse dich angeblich nich‘ traust, mich anzusehen.«

»Jetzt reicht‘s.« Julia warf die Arme nach oben. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Homophob oder nicht, betrunken oder nicht, du bist nicht unwiderstehlich, weißt du? Und nur zu deiner Information: Ich würde nicht mal was mit dir anfangen, wenn du die letzte Frau auf der Welt wärst. Da würde ich lieber im Zölibat leben.« Mit diesen Worten stapfte Julia zur Tür.

»Warte.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Julia blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

»Ich … ich weiß, ich benehm mich furchtbar. Du versuchst, nett zu mir zu sein, und ich bin die ganze Zeit schrecklich zu dir. Ich hab keine Ahnung, wie ich … wie ich mich dir gegenüber verhalten soll.«

»Behandle mich ganz normal.« Julia drehte sich langsam um. »Ich werde dich nicht anmachen. Du warst deutlich genug, bezüglich dem, was du willst und nicht willst.«

Konnte das wirklich funktionieren? Konnte ich so tun, als ob Julia normal wäre? Und eine weitere Frage drängte sich mir auf: »Haste das ernst gemeint?«

Julia blinzelte mehrfach. »Was? Dass ich dich nicht anmachen werde?«

Ich schüttelte den Kopf und bereute es sofort. Der ganze Raum drehte sich schon wieder.

Julia kam einen Schritt auf mich zu.

Abwehrend hob ich eine Hand. »Mir geht‘s gut. Alles gut.« Ich brauchte einen Moment, um mich zu erinnern, worüber wir eigentlich gerade sprachen. »Was ich meinte, war: Bin ich wirklich so … unattrak … unattraktiv und abstoßend, dasse mich nich‘ ma‘ anfassen würdest, wenn isch die letzte Frau auf‘a Welt wäre?«

Julia hob eine Augenbraue. »Ich habe nie gesagt, du bist unattraktiv oder abstoßend. Aber du wirst mir sicher zustimmen, ich habe deine charmante Seite bisher nicht kennengelernt. Außerdem würde ich niemals weder dich noch eine andere Frau gegen ihren Willen anfassen.«

Ich schloss die Augen für einen Moment. Als ich sie wieder öffnete, war Julia nach wie vor da. Kein Wunder. Wo sollte sie in den dünnen Sachen auch hin? »Du kannst auf‘a Couch im Wohnzimmer schlafen. In den Klamotten, die du anhast, kannste nich‘ nach Hause gehn. Ist zu kalt draußen. Daniel oder Oliver können dir ja morgen früh was zum Anziehen bringen.«

»Verstehe ich dich richtig?« Julia kam einen Schritt auf mich zu. »Du willst tatsächlich riskieren, mit einer Lesbe in einer Wohnung zu schlafen? Ganz allein?«

Ihre Worte sollten wohl witzig sein, aber auf einmal hörte sich mein Vorschlag gar nicht mehr gut an. Andererseits konnte ich es jetzt auch nicht mehr zurücknehmen. »Ja. Ich vertrau dir. Die Couch is‘ ‘ne Bettcouch. Wenne se vorne hochklappst, findeste Bettzeug drinnen.« Bevor sie noch irgendetwas sagen konnte, um mich weiter zu verunsichern, sagte ich: »Gut‘ Nacht, Julia.«

»Gute Nacht, Scarlett.«

Als mein ungeplanter Gast für die Nacht das Zimmer verlassen hatte, wankte ich zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Zweimal. Nur um sicherzugehen.