Kapitel 16
Auf der langen Autofahrt schlief ich auf dem Rücksitz an Julias Schulter ein. Erst das Klingeln von Daniels Handy weckte mich.
»Liebknecht … Oh, hi, wie geht‘s d…?« Daniel stoppte den Wagen auf dem Standstreifen. »Wie meinst du das? … Oliver, das ist keine gute Idee. Das Haus ist doch schon voll. Vielleicht ist es besser, wenn ihr … Ja schon, aber … Ach, haben sie? … Ja … ja, aber du solltest das besser nicht machen. Wirklich nicht … Verstehe. Bis morgen.«
»Was ist los?«, fragte Nathalie, während Julia und ich verschlafen nach vorne schauten.
»Oliver kommt mit seiner neuen Freundin Jennifer am Freitag zum Strandhaus«, sagte Daniel. »Sie bleiben bis Sonntag.«
Das war nicht gut. Gar nicht gut.
»Und wie stellt er sich das vor?«, fragte Nathalie.
»Ich schlafe auf der Couch im Wohnzimmer«, sagte Julia.
»Warum ausgerechnet, wenn wir da sind?« Ich ballte die Hände zu Fäusten. Dieser verdammte Mistkerl. Hatte Oliver nicht schon genug angerichtet?
»Er meinte, Mama und Papa hätten gesagt, es geht in Ordnung«, sagte Daniel. »Dieses Wochenende findet wohl auf der Insel irgendeine besondere Party statt, und er und Jennifer wollen hingehen.«
Es herrschte einen langen Moment gespannte Stille.
»Die Couch ist keine Schlafcouch«, grummelte ich.
Julia zuckte mit den Schultern. »Mag sein, aber sie ist groß genug.«
»Deine Füße hängen über, wenn du liegst.« Ich berührte Julia am Arm. »Lass mich auf der Couch schlafen.« Oder noch besser: Oliver. Seine Neue könnten wir ja im Panoramaraum parken. Bei diesen Gedanken musste ich grinsen.
Julia schüttelte den Kopf. »Das ist lieb von dir, Scarlett, aber ich werde mit dir darüber nicht diskutieren. Ich schlafe auf der Couch und damit Schluss.«
Ich setzte mich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie konnte wirklich stur sein.
»Ich kriege es nicht in meinen Kopf«, sagte Daniel. »Wie oft habe ich versucht, mit ihm zu reden, um diese dumme Sache endlich aus der Welt zu schaffen?« Daniel begegnete Julias Blick im Rückspiegel. »Doch er meidet dich wie die Pest. Und dann platzt er in deinen Urlaub, um ihn dir … ja, um ihn dir zu versauen.«
Julia starrte auf die Kopfstütze des Vordersitzes.
Ich nahm ihre Hand und rieb mit meinem Daumen darüber. Hoffentlich ließ mich am Wochenende niemand mit Oliver alleine. Ich war mir nicht sicher, was ich in dem Fall tun würde.
Nathalie hatte sich gerade etwas zu trinken aus dem Fach des Armaturenbrettes geholt und knallte es jetzt mit Wucht zu. »Oliver ist ein Riesenarschloch.«
Nach Nathalies Feststellung herrschte den Rest der Fahrt Stille.
* * *
Etwa vier Stunden später erreichten wir das Strandhaus. Trotz der frühen Abendstunden war es noch über zwanzig Grad warm.
Dennoch machte Julia das Feuer im Kamin an. Vermutlich beruhigte es sie genauso sehr wie mich. Aber es war sicher ein lustiges Bild, wie wir zu viert in T-Shirts und Daniel sogar in kurzer Hose vorm brennenden Kamin saßen.
Julia sah zu mir, und unsere Blicke trafen sich.
Auf unseren Gesichtern formte sich ein wissendes Grinsen, und gleichzeitig sagten wir: »Kakao.«
Daniel und Nathalie schauten uns fragend an, während Julia und ich aufstanden.
»Wir machen uns heißen Kakao«, sagte ich. »Kann ich euch auch für eine Tasse begeistern?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Lieb von dir zu fragen.« Nathalie fächerte sich etwas Luft zu. »Aber ich schwitze jetzt schon wie ein Yeti.«
Mit mir in der Küche rumwerkelnd, sagte Julia leise: »Nathalie hat recht, weißt du?«
»Es ist schon warm«, sagte ich. »Trotzdem hab ich Lust drauf. Aber du musst ja nicht.«
Julia schüttelte den Kopf. »Nicht das. Ich meine, was sie über Oliver gesagt hat.«
Ich berührte Julia sanft an der Schulter.
»Er benimmt sich wie ein Riesenarschloch.« Julia stoppte in ihrer Bewegung, Kakaopulver auf die Tassen zu verteilen. »Scarlett, glaubst du … glaubst du, er kommt nur, um mir den Urlaub zu verderben?«
Ich nahm ihr die Dose Kakaopulver aus der Hand, stellte sie auf der Küchenplatte ab und schloss Julia in die Arme. »Ich weiß nicht, warum er das tut. Mir fehlen die Worte, um dir zu sagen, wie wütend ich auf ihn bin, dass er dir so wehtut. Und das wegen nichts.«
Julia vergrub ihr Gesicht in meinem Nacken und für eine Weile standen wir bewegungslos da. Irgendwann löste sich Julia langsam von mir und ich sah, wie ihr einige Tränen die Wangen herunterrollten.
Wir sahen einander an und sagten erneut zeitgleich: »Kakao.«
* * *
Die Tür ging auf und eine Frau Anfang zwanzig kam herein, einen Koffer im Schlepptau. Das musste Olivers Neue sein.
Ich hatte sie mir irgendwie anders vorgestellt. Diese Jennifer war etwa so groß wie ich und hatte sogar eine ähnliche Frisur und Haarfarbe wie ich. Als Schwestern wären wir wohl nicht durchgegangen, aber eine gewisse Ähnlichkeit ließ sich nicht leugnen. Schätze, mein Ex hatte ein bestimmtes Beuteschema, was das Äußere betraf. Wie oberflächlich. Ich hatte ihn wirklich total falsch eingeschätzt.
Oliver kam hinter Jennifer zum Vorschein, schloss die Tür und stellte seinen Koffer ab. Anschließend blieb er neben der Blondine stehen und betrachtete uns abfällig. »Jennifer, das ist Daniels Freundin Nathalie.« Er zeigte auf meine ehemalige Mitbewohnerin.
Nathalie winkte.
»Und das sind Julia und ihre … Freundin Scarlett.«
Ich glotzte Oliver fassungslos an. Die Art, wie er Freundin sagte, ließ keinen Zweifel daran, welche Art von Beziehung er mir und Julia unterstellte.
»Mitbewohnerin«, sagte Julia und rang sich ein schiefes Lächeln ab.
Ich scheiterte kläglich an dem Versuch, Jennifer freundlich anzulächeln, und starrte Oliver mit zusammengekniffenen Augen an. Bevor ich etwas sagte oder tat, das ich später bereuen würde, flüchtete ich auf die Terrasse.
Bei meiner Rückkehr ins Wohnzimmer, einige Minuten später, war Julia die Einzige dort. Sie saß auf der Couch und schaute in die Feuerstelle.
Ich setzte mich schweigend neben sie. Am liebsten wäre ich zu Oliver gegangen, um ihn dahin zu treten, wo es wehtat. Aber stattdessen legte ich den Arm um Julias Schultern.
* * *
Daniel und Nathalie trauten sich in die kalte Nordsee.
Julia und ich breiteten unsere Strandtücher nebeneinander aus und streiften unsere Klamotten ab, bis wir in Bikinis dastanden.
Ich war wirklich zufrieden mit meinem mittlerweile deutlich sportlicheren Körper. Trotzdem beneidete ich Julia immer noch um ihr Aussehen.
Als Nathalie und Daniel aus dem Wasser zurückkamen, hob ich den Kopf und bemerkte, wie Nathalie Julia anstarrte. Ich schmunzelte und warf ihr einen Blick zu, der ausdrücken sollte: »Siehst du, ich hab‘s doch gesagt: Julias Körper ist perfekt«.
»Cremt euch lieber ein«, sagte Daniel. »Es ist zwar windig und daher nicht besonders warm, aber die Sommersonne ist ziemlich stark.«
Julia sah zu mir und holte die Sonnencreme aus dem mitgebrachten Korb.
Ich drehte ihr den Rücken zu.
Wortlos begann Julia, die Lotion in meine Haut einzumassieren.
Meine Augen fielen zu. Die vorsichtigen, aber dennoch kräftigen kreisenden Bewegungen fühlten sich unglaublich gut an. Überall auf meinem Körper bekam ich eine Gänsehaut. Gleichzeitig wurde mir auf einmal ganz heiß. Es war fast wie … Erregung. Ich riss die Augen auf. Erregung?
Quatsch! Klar war mir warm, ich war ja schließlich in der prallen Sonne. Und was meine schnelle Atmung betraf … na ja, so schnell war sie auch wieder nicht. Doch warum prickelte mein Rücken und … der Rest meines Körpers? Und warum bekam ich eine Gänsehaut? Ach … der Temperaturunterschied zwischen warmer Sonne und kalter Sonnenlotion. Ich lächelte und beglückwünschte mich im Stillen zu dieser logischen Erklärung. Wie hatte ich das alles bloß mit Erregung verwechseln können? Wie lächerlich, anzunehmen, Julias Berührungen könnten mich irgendwie … ich schluckte … stimulieren. Ich schüttelte den Kopf und lachte über mich selbst. Die stressige Situation mit Oliver und die ständigen Verdächtigungen nahmen mich offenbar mehr mit, als ich dachte.
Julia stoppte das Eincremen. »Was ist so witzig?«
Ich drehte mich zu ihr um und nahm die Sonnenlotion. Damit cremte ich den Rest meines Körpers ein. Zufällig sah ich auf und bemerkte, wie Julias Blick meiner eincremenden Hand folgte, die Lotion auf meinem Dekolleté verteilte. »Du«, sagte ich grinsend.
Eigentlich erstaunlich, aber dass Julia meinen Körper betrachtete, störte mich nicht. Ganz im Gegenteil. Offenbar schien sie, genau wie Nathalie, die positiven Veränderungen an meinem Körper zu bemerken.
Julias Wangen nahmen eine tiefrote Farbe an. Sie drehte den Kopf weg und schaute aufs Meer hinaus.
Ich beobachtete ihr Profil und cremte mich weiter ein. Oder … Ich stoppte in meiner Bewegung. War Julias Blick am Ende nicht nur freundschaftlicher Natur und sie hatte mich … abgecheckt? Ach, so ein Quatsch. Olivers dummes Gelaber machte mich ganz verrückt. Ich beschloss, diese Gedanken ein für alle Mal zu begraben. Julia war meine beste Freundin. Was mich betraf, war sie asexuell. Basta. »Dreh dich um, Julia. Jetzt bist du dran.«
Julia tat wie geheißen und nahm ihren Pferdeschwanz nach vorne.
Im Folgenden begann ich, ihren Rücken gründlich einzucremen. Sie lehnte sich leicht gegen meine Berührung.
»Wow, bist du verspannt«, sagte ich. »Am besten gebe ich dir auch gleich eine kurze Massage.«
Julia räusperte sich. »Musst du nicht.«
»Ich weiß. Und jetzt entspann dich.«
Julia ließ die Schultern etwas hängen.
Mit meinen Fingern und Handflächen bearbeitete ich die angespannten Muskeln. Ich hätte das ewig machen können. Hoffentlich entspannte die Massage Julia genauso sehr wie mich.
Irgendwann hielt Julia meine Hände fest und ich ließ von ihr ab.
Ich gab Julia die Sonnenlotion und legte mich wieder hin, um die Sonne zu genießen.
»Danke«, murmelte sie leise und cremte sich zu Ende ein.
* * *
Am frühen Abend, als ich aus dem Bad kam, hörte ich Stimmen aus der Küche oder dem Wohnzimmer. Waren das Julia und Oliver? Es klang fast so. Neugier trieb mich an. Auf Zehenspitzen schlich ich den Gang entlang. Nach ein paar weiteren Schritten konnte ich das Wohnzimmer einsehen. Wer immer da redete, sie mussten in der offenen Küche sein.
»Warum tust du das bloß?«, fragte Julia.
»Dasselbe könnte ich dich fragen.« Oliver klang abweisend und kalt. »Sie war meine Freundin, verdammt.«
Julia wurde, vollkommen untypisch für sie, laut: »Zwischen mir und Scarlett war und ist nichts außer Freundschaft.«
Oliver grunzte.
Ich hörte ein oder zwei Schritte in der Küche. Sollte ich mich verstecken oder einfach hier stehen bleiben? Eine Entscheidung erübrigte sich, als die Unterhaltung weiterging.
»Für wie naiv hältst du mich eigentlich?«, zischte Oliver. »Du hast sie vom ersten Tag an mit deinen Blicken fast ausgezogen. Ich dachte, ich würde mir das nur einbilden, und war auch noch so blöd, sie mit dir hierhin zu schicken. Als Nächstes kommt sie wieder, ist distanziert und macht Schluss. Ich bin vielleicht nicht so schlau wie du, aber ein totaler Volltrottel bin ich auch nicht. Verdammt, ich hab dir vertraut. Ich war so bescheuert.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, um es dir endlich begreiflich zu machen. Zwischen Scarlett und mir ist nie etwas passiert.« Julias Stimme zitterte. »Nicht so etwas. Und nur weil sie nicht mit dir schlafen wollte und die Beziehung beendet hat, heißt das nicht, dass zwischen ihr und mir was lief.«
»Das hat sie dir also erzähl!«, schrie Oliver.
Ich zuckte zusammen.
Das hatte sicher jeder im Haus gehört. Aber keiner ließ sich blicken.
»Was kam bloß über mich, dass ich mit meiner Freundin schlafen wollte?«
»Sie aber nicht.« Julias Stimme klang angespannt. »Ihr wart doch erst eineinhalb Monate zusammen.«
Ich hörte ein lautes Geräusch und es dauerte einen Moment, bis ich es als einen Schlag mit der offenen Hand auf eine Fläche erkannte. Oh Gott, hatte er Julia etwa geschlagen? Wenn ja, würde er das bereuen. Dafür würde ich sorgen. Nach zwei Schritten konnte ich um die Ecke und in die Küche schauen, ohne gesehen zu werden. Olivers Hände ruhten auf der Arbeitsplatte. Das war also das Geräusch gewesen. Ich atmete erleichtert aus und wich wieder zurück, um auch ganz sicher nicht gesehen zu werden. Es war wichtig, dass die beiden endlich miteinander sprachen.
»Erst?« Oliver schnaubte. »Die Zeit hat sie toll genutzt. Na? Wie ist sie denn so im Bett? Ich weiß es ja nicht, aber du kannst es mir sicher sagen. Oder, Julia?«
Irgendetwas wurde zugeknallt. Vermutlich eine Schublade. »Ich habe nicht mit Scarlett geschlafen, verdammt!«, schrie Julia.
Hoffentlich hatte das jetzt auch jeder gehört.
»Statt mir zu vertrauen, hast du dir diesen Mist ausgedacht und behandelst mich wie Dreck.«
»Sieh dich nur als Opfer«, sagte Oliver. »Genauso wie damals mit Sarah.«
Für einige mir endlos vorkommende Sekunden herrschte Stille.
Dann raschelte etwas und Julia murmelte für mich kaum hörbar: »Ich wusste, du würdest das wieder rausholen.« Einen Moment später sagte sie etwas lauter: »Es war nicht mein Fehler.«
Oliver schnaubte. »Natürlich nicht. Wenn die erste Freundin einem sagt …« Oliver verstellte seine Stimme und quiekte: »Wirklich eine Schande, dass Julia kein Mann ist. Sie wäre sicher ein viel besserer Freund als du.« Mit normaler, aber lauter Stimme sprach er weiter: »Das hilft dem eigenen Ego unglaublich weiter.«
Wow, das war ja mal heftig. Sicher hatte das an Olivers Selbstvertrauen genagt. Aber deshalb hatte er noch lange nicht das Recht, sich jetzt so zu verhalten.
»Sie war eine dumme Schnepfe«, sagte Julia. »Ich dachte wirklich, wir hätten diese Sache ein für alle Mal hinter uns gelassen. Außerdem hat das nichts, aber auch gar nichts mit Scarlett und mir zu tun.«
»Also gibt es ein Scarlett und du«, grummelte Oliver. »Endlich gibst du es zu.«
»So ein Quatsch. So habe ich das nicht gemeint. Und das weißt du.«
Wieder herrschte Stille. Irgendwann sagte Oliver: »Wenn es wirklich so ist, wie du sagst - und ich glaube dir kein Wort - aber wenn es wirklich so ist, warum hat sie mir dann den Laufpass gegeben?«
Ich dachte sofort »weil du ein Arschloch bist«, blieb aber schweigend im Gang stehen. Das war eine Sache zwischen Julia und ihm.
»Hast du sie das mal gefragt?«
Es kam keine Antwort.
»Vielleicht hat sie schlichtweg nicht dasselbe für dich gefühlt, wie du für sie, und sie wollte die Sache beenden, bevor es richtig schmerzhaft wird.«
Oliver schwieg.
»Du bist mein Bruder, und ich liebe dich. Aber du bist ein solcher Idiot in dieser Sache. Wie kannst du auch nur eine Sekunde lang glauben, ich würde meine Gefühle für jemanden, den ich damals kaum kannte, über meine Beziehung mit dir stellen?«
Hatte ich das gerade richtig gehört?
Oliver nahm mir die Frage aus dem Mund. »Also hattest du damals schon Gefühle für sie!«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Doch, hast du.« Nach einer kurzen Pause sagte er kalt: »Ich höre.«
Für einen Moment herrschte Stille.
Dann sagte Julia: »Ich mochte sie damals, und ich mag sie jetzt umso mehr. Wir sind Freundinnen. Sonst ist nichts zwischen uns.«
Wie oft musste sie ihm das eigentlich noch sagen? Idiot.
»Du bist jetzt mit Jennifer zusammen. Lass uns diese ganze Sache vergessen, ja?«
»Ich kann dir nicht glauben. So sehr ich auch will.« Oliver seufzte laut. »Ich brauche Zeit, um über alles nachzudenken.«
Wenige Augenblicke später hörte ich, wie die Terrassentür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Die Unterhaltung war offenbar zu Ende, und ich ging in mein Zimmer, um mich zu beruhigen.
* * *
Ich lag schon seit einer Weile im Bett und starrte im Dunkeln an die Decke. Meine Gedanken waren bei Julia. Sie hatte es nicht verdient, so behandelt zu werden. Wie hatte ich bloß jemals glauben können, Oliver sei ein lieber Kerl? Ich hatte ihn wirklich gemocht. Julia und Oliver waren sich in vielen Dingen so ähnlich. Nicht nur, was das Äußere betraf. Auch ihre Körpersprache, Mimik und Gestik waren oft dieselbe. Dennoch trennten sie charakterlich Welten.
Was Julia wohl gerade machte? Die Vorstellung, dass sie nebenan alleine auf der Couch lag und über die Situation nachgrübelte, war unerträglich. Ich stand auf und schlich aus meinem Zimmer. Im Gang war es etwas heller, da durch die offene Wohnzimmertür ein bisschen Licht einfiel. Ich musste schmunzeln. Julia hatte wieder Feuer im Kamin gemacht. Ich ging Richtung Couch. Was ich beim Näherkommen sah, brach mir fast das Herz: Julia schlief halb zugedeckt und zusammengekauert auf der für sie zu kleinen Couch. Im Schlaf liefen ihr Tränen die Wangen herunter. Das Beste war, sie aufzuwecken. Ich setzte mich auf die Kante der Couch und streichelte Julias Haare.
Doch sie wachte nicht auf.
Daraufhin gab ich Julia einen sanften Kuss auf die Wange.
Wieder keine Reaktion. Julias Atmung blieb tief und gleichmäßig.
Was machte ich hier eigentlich gerade? Julia war doch nicht Dornröschen, die wachgeküsst werden musste.
Ich strich ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und sagte leise: »Julia. Julia, wach auf.«
Immer noch nichts. Meine Güte, was für ein Schlaf. Ich legte die Hand auf ihre Schulter und schüttelte vorsichtig. »Julia.«
Sie zuckte zusammen und blinzelte ein paar Mal. »Scarlett? Alles in Ordnung?«, fragte sie mit verschlafener Stimme.
»Ich dachte schon, du wachst nie auf. Mir geht‘s gut, aber dir nicht.«
Julia schaute mich ungläubig an. »Ich hab geschlafen.«
»Ja, schon. Bitte entschuldige. Aber du hast im Schlaf geweint.«
»Wirklich?« Julia fasste sich ins Gesicht. »Oh.«
Ich schob die Decke etwas runter. »Julia, komm doch mit in mein Zimmer. Ich hab kein Problem damit und … ich will dich heute Nacht nicht alleine lassen.«
»Das ist lieb von dir, aber es geht mir gut.«
Ich schaute ins fast abgebrannte Feuer. Ich wusste nicht, was mehr wehtat: Julias Schmerz wegen Oliver oder dass sie mich ausschloss. Mein Herz brach erneut, als ich im flackernden Licht ihr Gesicht beobachtete. Auf andere hätte es vermutlich ruhig und beherrscht gewirkt, aber in Julias Augen konnte ich sehen, wie allein sie sich fühlte. »Komm mit. Bitte.«
Wir betrachteten einander für einen langen Moment, bevor wir langsam aufstanden.
Es war dunkel in meinem Zimmer, aber keine von uns machte das Licht an.
Kaum waren wir unter die große Bettdecke geschlüpft, rutschte ich näher an Julia heran. Sie brauchte mich jetzt. Und es war ja nichts dabei. Ich drehte mich zu ihr, legte den Kopf auf Julias Schulter und meine Hand landete auf ihrem pyjamabedeckten Bauch. »Ist das so okay für dich?«, fragte ich zögerlich.
»Ja. Danke, Scarlett.«
»Brauchst dich nicht zu bedanken. Die Wahrheit ist, mir war etwas kalt und ich wollte etwas im Bett haben, das mich wärmt. Nur deshalb bin ich im Wohnzimmer vorbeigekommen.« Nach einem Augenblick fügte ich hinzu: »Du hast den Job.«
Julia lachte, und in meinem Herzen wurde es warm.
»Weißt du«, sagte ich in einem ernsteren Tonfall, »du brauchst mir nichts vorzuspielen.«
Julia, die einen Arm um mich gelegt hatte, begann, meinen Rücken zu streicheln.
Das verursachte bei mir eine Gänsehaut, aber eine angenehme.
»Was meinst du?«, fragte Julia.
»Selbst wenn ich deine Tränen nicht gesehen hätte«, sagte ich, »mittlerweile kenne ich dich zu gut, Julia Liebknecht. Warum sperrst du mich aus?«
Das Streicheln stoppte für einen Moment, bevor sie die Bewegung wieder aufnahm.
Ich schloss die Augen und genoss die rein freundschaftliche Berührung.
»Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich tun würde. Du bist meine beste Freundin, Scarlett.«
Wir hielten einander ganz fest.
»Und du meine.« Auf meinen Lippen formte sich ein Lächeln. Ich atmete tief ein und genoss den angenehmen Geruch. Keine Ahnung, wie sie das tat, aber Julia roch einfach immer gut. Mit diesem Gedanken schlief ich friedlich ein.
* * *
Ein lautes Geräusch ließ mich zusammenzucken. Meine Augen klappten auf.
Die Tür wurde aufgerissen.
Ich kniff die Augen zusammen, wegen der Helligkeit.
Oliver stand plötzlich im Raum und starrte aufs Bett.
Jennifer, Daniel und Nathalie strömten hinter ihm ebenfalls ins Zimmer.
Daniel hielt Oliver von hinten an der Schulter fest.
»Freundinnen, was?«, schrie Oliver. »Wen wollt ihr eigentlich verarschen? Julia, hör mir zu. Und hör mir gut zu. Du und ich sind geschiedene Leute. In was für einer Traumwelt du auch immer lebst … ich fall auf deine Lügen nicht mehr rein. Du verdammte Schlampe, wie konntest du nur?«
Ich löste mich ruckartig von Julia und zog die Decke hoch bis zum Hals.
Julia schaute Oliver mit großen Augen an.
Ich war froh, als Daniel seinen Bruder zusätzlich am Arm packte und versuchte, ihn aus dem Zimmer zu ziehen. »Komm mit«, sagte Daniel. »Beruhig dich erst mal. Später können wir über alles reden.«
Ohne sich von uns wegzudrehen, sagte Oliver im kältesten Tonfall, den ich je von ihm gehört hatte: »Es gibt nichts mehr zu reden.« Er riss sich von Daniel los und stürmte aus dem Zimmer.
Jennifer verließ ebenfalls den Raum, ging aber in eine andere Richtung als Oliver. Ich konnte es ihr nicht verdenken.
Daniel folgte Oliver.
Nathalie hingegen stand da wie zur Salzsäule erstarrt. »Wir konnten ihn nicht zurückhalten«, murmelte sie nach einer Weile. »Ihr seid nicht zum Frühstück erschienen. Da ist er aufgesprungen und hierhin gehetzt. Bevor wir wussten, was los war, stand er schon in deinem Zimmer.«
Ich richtete mich auf. »Nathalie, es ist nicht dein Fehler.« Ich rutschte ein bisschen weiter von Julia weg, die vollkommen blass im Gesicht war. »Aber es ist nicht, wonach es aussieht, ich h…«
Nathalie hob abwehrend die Hand. »Du … ihr müsst mir nichts erklären. Ob zwischen euch etwas ist oder nicht, spielt keine Rolle. So oder so hat Oliver nicht das Recht, hier einfach reinzuplatzen.«
Mir war zum Heulen zumute. »Aber zwischen uns ist wirklich n…«
Wieder fiel mir Nathalie ins Wort. »Scarlett, es ist mir egal. Wie oft soll ich das noch sagen?« Sie holte tief Luft. »Tut euch beiden einen Gefallen und bleibt jetzt erst mal hier drin. Daniel versucht, Oliver zu beruhigen. Vielleicht schafft er es ja sogar, dass er und Jennifer irgendwo anders übernachten.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Obwohl, wenn ich Jennifer wäre, würde ich mit Oliver nirgends mehr übernachten wollen. So viel ist sicher.« Mit diesen Worten stapfte Nathalie aus dem Zimmer.
Ich ließ mich ins Kissen zurückfallen und für einige Minuten herrschte vollkommene Stille. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Julias starren Blick ins Leere. »Es tut mir so unendlich leid.«
Julia blinzelte ein paar Mal und sah mich mit verlorenem Gesichtsausdruck an. »Ich versteh das alles nicht«, sagte sie leise. Und dann: »Bitte halt mich.«
Ohne zu zögern, presste ich sie so eng an mich, wie ich konnte.
Immer stärker klammerte Julia sich an mir fest, als ob ihr Leben davon abhinge. Schließlich begann sie zu weinen.
Ich weiß nicht, wie lange wir eng umschlungen in meinem Bett lagen, aber irgendwann ließ Julias Weinen nach, und bald darauf wurde ihre Atmung tief und regelmäßig. Ich küsste Julias nasse Wange und machte es mir an ihrer Schulter bequem. Meine Augen fielen zu, aber ich war unfähig zu schlafen. Immer wieder tauchte vor meinem inneren Auge Oliver auf, wie er uns hasserfüllt angaffte. Was wohl als Nächstes passieren würde?