Kapitel 14
Julia und ich sprachen kaum auf dem Weg zur Arbeit.
Immer wieder wanderte Julias Blick zum Wackelskelett auf dem Armaturenbrett. Sie hatte mir mal ganz stolz erzählt, dass ihr Oliver das Wackel-Elvis-Pendant zum Bestehen des Physikums im Studium geschenkt hatte.
Ohne Zweifel waren Julias Gedanken bei diesem Idioten.
Es war erst die zweite Woche, in der wir zusammen zur Arbeit fuhren, und in dieser Zeit war Julia ja sogar ein paar Tage krank gewesen. Aber trotzdem hatte ich mich an unsere lebhaften Unterhaltungen und unsere Scherze und Kameraderie gewöhnt.
Doch heute schaute Julia selbst beim Verabschieden nur kurz auf und winkte, bevor sie mit hängenden Schultern in der Klinik verschwand.
Ich war so unglaublich wütend auf Oliver. Wie hatte ich mich so in ihm täuschen können?
* * *
Als meine Schicht zu Ende war, ging ich zu Julia auf die Station und brachte ihr ein Sandwich vorbei.
Sie sprach gerade mit einem Patienten auf dem Gang.
Der Mann, vielleicht Mitte oder Ende fünfzig, blickte sie traurig an.
Julia berührte ihn sanft an der Schulter und sagte leise etwas zu ihm.
Daraufhin lächelte der Mann. Dann hörte ich, wie er sagte: »Danke. Vielen Dank.« Er drehte sich um und verschwand in einem Zimmer.
Julia strahlte mich an und kam auf mich zu.
Der weiße Arztkittel stand ihr wirklich gut. Der Kontrast zu ihren langen, schwarzen Haaren und den blauen Augen sah umwerfend aus. Keine Ahnung, was das damit zu tun hatte, aber ich wusste in diesem Moment, dass sie eine gute Ärztin werden würde.
»Du bist aber früh dran«, sagte Julia.
»Ich habe dir ein Sandwich mitgebracht.«
»Willst du mich mästen?« Julia grinste und klopfte auf ihren flachen Bauch.
»Du gehst dreimal pro Woche ins Fitnessstudio und manchmal zusätzlich am Wochenende«, sagte ich. »Ich könnte dir jeden Tag Pommes-Currywurst mitbringen, und du würdest nicht dick werden.«
Julia wich meinem Blick aus. »Also … was sind deine Pläne für heute Nachmittag?«
»Weiß nicht.« Wenn ich ehrlich war, hatte ich gehofft, etwas mit Julia zu machen. Ich wollte sie aufheitern.
»Jetzt, wo du es erwähnst«, sagte Julia. »Heute ist wieder Zeit zum Schwitzen. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen.«
Nicht doch. »Äh, geht das so einfach?«
»Klar. Ich sag, du überlegst, beizutreten, und ich will dir alles zeigen.«
Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ich war nie der sportliche Typ gewesen. Andererseits hatte ich auch nicht wirklich was Besseres vor, und so konnte ich Julia vielleicht ablenken, damit sie nicht so viel an Oliver dachte. Was tat ich nicht alles für unsere Freundschaft? »Okay.«
* * *
Der Plan war, erst zu Julias und danach zu meiner Wohnung zu fahren, um unsere Sportsachen zu holen.
Auf dem Weg zu Julias Wohnung tippte sie ständig mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.
Ich legte die Hand auf ihren Arm. »Es wird schon nicht so schlimm werden. Lass dir ruhig Zeit. Wenn er reden möchte, mach dir keine Gedanken wegen mir. Ich werde hier sitzen und Musik hören.«
Julia nickte. An ihrer Wohnung angekommen, saß sie einen Augenblick bewegungslos da. Dann holte sie tief Luft und stieg aus.
Ich hatte nicht damit gerechnet, aber keine fünf Minuten später kam Julia schon wieder. Ihr Gesichtsausdruck war unleserlich. Sie warf ihre Tasche auf den Rücksitz und fuhr los, ohne etwas zu sagen.
Ich sah Julia fragend an, beschloss aber, sie nicht zu drängen. Sie würde schon etwas sagen, wenn sie das wollte.
Und so kam es auch nach wenigen Minuten. Leise sagte sie: »Er hat mich ignoriert. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, doch er hat so getan, als ob ich gar nicht existiere.«
Ich rollte mit den Augen. »Wie kindisch.«
Auf dem Weg zu meiner Wohnung schwiegen wir.
* * *
»Julia, gibt‘s hier keine Umkleidekabinen?«
Ein Kopfschütteln war die Antwort.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich jeden Moment halb nackt vor Julia stehen würde. Ich war ihr unglaublich dankbar, als sie sich von mir wegdrehte und begann, sich umzuziehen.
Ich sagte nichts und tat dasselbe.
Wir verstauten unsere Sachen in unseren Spinden, schlugen uns ein Handtuch über die Schulter und gingen in Turnschuhen zur Trainingsfläche. Zumindest dieses Problem hatten wir erfolgreich gemeistert.
Ich sollte nicht immer so überreagieren.
Zuerst stiegen wir auf Fahrräder.
Nach einer Viertelstunde war ich fix und fertig, doch Julia merkte man überhaupt nichts an. Wir stiegen ab, und sie betrachtete mich. »Lust aufs Laufband? Mir ist heute mehr nach Laufen als nach Krafttraining.«
Oh, Gott. »Klar.«
* * *
Ich schnappte verzweifelt nach Luft. Wie konnte Julia bloß in diesem Tempo über das Laufband fliegen? Meine Lungen schrien und meine Beine fühlten sich an wie Gummi. »Julia … ich … mach … ‘ne … Pause«, keuchte ich zwischen fast panischen Atemzügen.
»Lauf erst mal langsamer, um abzukühlen. Schalt einfach etwas runter.«
Das war ein Anfang. »Welcher … Knopf … war‘s … doch … gleich? Der linke?« Noch während ich fragte, drückte ich das Ding. Als Nächstes wurde mir der Boden unter den Füßen weggerissen und ich flog in einem Sekundenbruchteil vom Band und in die Arme von … wer hielt mich da gerade von hinten?
»Hey, hey.« Der Mann, der mich hielt, sprach mit tiefer Bassstimme und mein Rücken vibrierte. »Wer hätte gedacht, dass ich heute eine so bezaubernde Frau in den Armen halten würde?«
Ich schob seine muskulösen Arme, die sich gerade langsam von einer Umarmung meiner Hüftgegend lösten, von mir weg und drehte mich um.
Julia tauchte auf und berührte mich an der Schulter. »Scarlett, alles okay mit dir? Du hättest dich echt verletzen können.«
»Was zur Hölle ist da gerade passiert? Ich drückte den Knopf und als Nächstes flog ich.«
Julia schüttelte den Kopf. »Du hast auf schneller gedrückt, anstatt auf langsamer. Und auch nicht kurz, sondern lang. Dadurch hast du gleich ein paar Stufen hochgeschaltet.«
Oh.
»Das hätte wirklich schiefgehen können«, sagte mein Retter.
Erst jetzt betrachtete ich ihn näher. Er war vielleicht Ende zwanzig und deutlich, wenn auch nicht übertrieben muskelbepackt. Sein knappes Muskelshirt und Shorts verbargen wenig. Nicht, dass er Grund dazu gehabt hätte.
»Äh, danke für Ihre Hilfe.«
Er lächelte. »Ich bin froh, gerade hier vorbeigekommen zu sein.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Holger.«
Ich tat dasselbe. »Scarlett.«
Unnatürlich weiße Zähne strahlten mich an. »Schöner Name.«
Gut gebaut und ein Charmeur. Ich mochte ihn. »Danke.«
Julia räusperte sich, und Holger und ich schauten zu ihr. »Ich gehe dann mal wieder aufs Band.« Während Julia sprach, wich sie meinen Blicken aus.
Was hatte sie denn?
»Du bist nicht oft hier, richtig?«, fragte Holger. »Ich hab dich noch nie hier gesehen.«
Ich drehte mich wieder zu Holger. »Nein. Ich wollte heute mal sehen, ob das was für mich ist.«
Holgers Mundwinkel zuckten. »Und? Gefällt dir, was du bisher gesehen hast?«
Ich sah mich im großen Trainingsraum mit seinen zahlreichen Geräten um. »Ich dachte, es könnte was für mich sein, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Gib nicht so schnell auf. Wenn ich dir irgendwas erklären soll, ich bin da drüben.« Er zeigte zu einem dieser Folterinstrumente zum Muskelaufbau.
Mein Blick wanderte vom Gerät zu Julia. »Danke, aber ich hab schon jemanden, der mir alles zeigt.« Als ich Holger wieder ansah, hatte der merkwürdigerweise die Stirn gerunzelt.
Er hob die Hände. »Oh, alles klar. Verstehe.« Er betrachtete erst Julia, anschließend mich. »Aber wenn du deine Meinung änderst, komm ruhig vorbei.«
Ich lächelte und berührte ihn am Arm. »Danke, das ist lieb. Bis dann.«
Holger nickte und schlenderte zu einem Gerät.
Ich schaute ihm einen Augenblick nach und schüttelte den Kopf über mich selbst. Noch vor einigen Wochen hätte ich mich als Single vermutlich auf ihn gestürzt wie ein Ertrinkender auf einen Rettungsring. Er war in meinem Alter, hatte einen tollen Körper, sah gut aus und schien nett zu sein. Ich war definitiv dabei, mich zu verändern. Und die Richtung gefiel mir.
* * *
Wenige Minuten später verließ Julia das Laufband und wischte sich mit ihrem Handtuch Schweiß aus dem Gesicht.
»Und jetzt?«, fragte ich. Wollte ich die Antwort wirklich wissen? Ich war echt platt.
»Duschen.« Mit großen Schritten ging sie zu den Umkleiden.
Ich rührte mich nicht vom Fleck. War das nur in meinem Kopf oder hörte ich gerade laut und deutlich einen Alarmton? Ich und Julia sollten jetzt gemeinsam duschen? Oh … mein … Gott. Wieso hatte ich bloß zugestimmt, mit ins Fitnessstudio zu kommen? Ich eilte hinter ihr her. »Ähm, ich schätze, ich dusche zu Hause.« Ja, das klang gut.
Am Eingang der Umkleide hielt Julia die Tür für mich auf. »Scarlett, keine Sorge. Es ist zwar eine Gemeinschaftsdusche, aber wir können nacheinander duschen, wenn du möchtest.«
Jetzt fühlte ich mich schäbig. Wieso konnte ich nicht einfach vergessen, dass Julia auf Frauen stand? Sie hatte mich schon einmal nackt gesehen und sich sofort weggedreht. Und bei Nathalie hätte es mich ja auch nicht gestört, zusammen zu duschen. Oder? Ich schüttelte den Kopf. Das war doch jetzt egal. Die Frage war, ob ich wirklich mit Julia in einer Dusche stehen konnte. Und die Antwort war ein klares Nein. So sehr ich mir wünschte, die Sache besser händeln zu können, ich konnte das nicht. »Okay. Du zuerst, wenn du möchtest.«
Julia nickte. Sie öffnete ihren Spind und holte ein Badetuch und Badelatschen heraus. Dann noch Shampoo und Duschgel. Anschließend setzte Julia sich auf die lange Sitzbank vorm Spind und zog die Schuhe aus. Es folgte ihre Hose.
Ich stand wie zur Salzsäule erstarrt da und gaffte sie an.
Mitten in der Bewegung, sich das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, stoppte Julia und schaute mich an.
Ich drehte mich weg und fixierte den Blick auf die Spinde vor mir. Mir schlug das Herz bis zum Hals.
Nach einigem Rascheln sagte Julia: »Bin gleich wieder da.«
»Okay.« Als ich mich umsah, konnte ich sehen, wie Julia gerade in der Dusche verschwand. Ich zog mich hastig aus und wickelte ein Badetuch um mich. Bewaffnet mit Shampoo und Duschgel, stand ich bereit.
Mit nassen Haaren und einem Badetuch um den Körper gewickelt, kam Julia wenige Minuten später aus der Dusche. Sie machte wohl eine falsche Bewegung. Jedenfalls löste sich ihr provisorischer Knoten an dem Badetuch und es fiel zu Boden. Julia bekam es nicht mehr rechtzeitig zu fassen und da stand sie nun vor mir, vollkommen nackt.
Ich sah alles. Absolut alles. Mein Mund klappte auf und mir wurde schwindelig. Ich konnte die Augen einfach nicht abwenden.
Julia hatte kein Gramm Fett zu viel, und ihr ganzer Körper war durchtrainiert. Die Arme, die Beine, der Bauch mit einem sich leicht abzeichnenden Sixpack. Diese Frau war nicht von dieser Welt.
Julia bückte sich hektisch, um das nasse Badetuch wieder um sich zu wickeln. Ihre Finger krampften sich darum, als ob es ein Schild wäre. Julias Gesicht war knallrot.
Meines vermutlich auch, denn meine Wangen brannten wie Feuer. Erst jetzt wurde ich im Kopf wieder klar. Ich räusperte mich und murmelte: »Es tut mir leid. Ich … ich hab zufällig in deine Richtung geschaut und … und du bist echt total gut trainiert.«
Julias Gesicht nahm einen noch dunkleren Rot-Ton an. Sie schaute überall hin, bloß nicht zu mir.
Bevor ich irgendetwas Dummes sagen oder tun konnte, beschloss ich, duschen zu gehen.
Als ich wiederkam, sicher in mein Badetuch gewickelt, stand Julia vollständig bekleidet und mit ihrer Trainingstasche in der Hand vor mir. »Ich warte draußen. Ich sitze an der Theke am Eingang und trinke ‘ne Apfelschorle. Möchtest du auch was?« Julias Stimme zitterte.
Gott, was für ein Desaster.
Einen doppelten Schnaps? »Ich nehm dasselbe«, war alles, was ich sagen konnte.
Sie nickte und verließ hastig den Raum.
Verdammt. Wieso konnte ich mich in Julias Gegenwart nicht normal verhalten? »Weil sie nicht normal ist«, schrie ein Teil von mir und ein anderer Teil ärgerte sich über diesen Gedanken. Lesbisch oder nicht, es ging hier um Julia. Sie war meine Freundin. Und es war ja nun wirklich nicht ihr Fehler, dass ich sie angestarrt hatte. Andererseits hätte sie ja auch das Badetuch sicherer um sich wickeln können.
Wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, war ich vollkommen durcheinander und beschloss, das Denken bis auf Weiteres einzustellen.
* * *
»Wie war‘s im Fitnessstudio?«
Ich wich Nathalies Blick aus.
»Sag‘s nicht. Du fühlst dich wie der totale Verlierer, weil du so was von nicht fit bist. Stimmt‘s?«
Ich nickte wortlos.
Nathalie trat auf mich zu und tätschelte mir die Schulter. »Mach dir nichts draus. Ich hab mal ein Probetraining mitgemacht, letztes Jahr. Da haben sie einen Fitnesstest gemacht und ich war so peinlich berührt, wie schlecht ich war, dass ich da nie wieder aufgetaucht bin.« Nathalie ließ sich mit einem lauten Plumps auf die Couch im Wohnzimmer fallen und klopfte neben sich.
Ich setzte mich.
»Wie geht‘s Julia?«, fragte Nathalie.
»Nicht gut.« Ich seufzte. »Nach der Sache in der Umkleide wurde sie ziemlich ernst. Die ganze Heimfahrt über war sie sehr nervös. Sie und Oliver waren sich so nah. Ich versteh ihn nicht. Er tut Julia so weh mit seinem Verhalten. Und das für nichts und wieder nichts.«
»Was für eine Sache in der Umkleide?«
Ups. »Äh, ja …« Konnte ich nicht einfach im Boden versinken?
Nathalie richtete sich auf und beugte sich zu mir.
»Nichts eigentlich«, murmelte ich.
»Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.«
Ich stupste sie in die Seite.
Nathalie grinste.
»Um die ganze Sache zusammenzufassen: Julia und ich haben nach dem Training geduscht.«
Nathalie hob eine Augenbraue.
»Nacheinander.«
»Okay. Und?«
»Und dann kam sie aus der Dusche, und ich hab sie nackt gesehen.«
»Und?«
Oh, verdammt. Ich glaube, ich wurde schon wieder rot. »Und ich … ich konnte nicht weggucken.«
Nathalies Hand war binnen einer Sekunde vor ihrem Mund. Ihr Kichern versteckte das jedoch nicht.
»Das ist nicht witzig«, grummelte ich. »Du solltest sie mal ohne Klamotten sehen.«
Nathalie wackelte mit den Augenbrauen. »Und was genau würde ich da sehen?«
Ich gestikulierte wild in der Gegend herum. »Es ist kein Gramm Fett zu viel an ihrem Körper. Wirklich kein Gramm. Ich meine, sie sieht nicht aus wie eine Bodybuilderin oder so, aber man erkennt deutlich, dass sie regelmäßig trainiert. Und Gott, es sieht unglaublich aus. Als ich sie damals in diesem Karnevalskostüm sah, dachte ich ja schon, sie hat einen tollen Körper, aber ohne Klamotten … Julias Körper ist perfekt.«
Nathalie pfiff. »Wieso konnte ich auf meinem Lesbentrip nicht das Glück haben, mit ihr zu schlafen, anstatt mit …? Ach, egal.«
Ich haute Nathalie spielerisch auf den Arm. »Lass die Scherze. Die Situation war echt unangenehm. Ich starrte sie an und am Ende waren wir beide verlegen.«
»Da hätte ich ja gern Mäuschen gespielt.«
Ich verschränkte die Arme und warf Nathalie einen bösen Blick zu. »Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?«
Nathalie hob die Arme. »Du gönnst mir auch gar nichts.« Nach einer Pause sagte sie: »Ich habe mit Daniel über die ganze Situation gesprochen. Er macht sich auch ziemlich Sorgen wegen Julia und Oliver. Laut ihm haben sich die beiden vorher nie ernsthaft gestritten. Daniel hat versucht, mit Oliver darüber zu sprechen, aber der hat abgeblockt. Er ist von dieser fixen Idee, dass du und Julia was miteinander habt, nicht abzubringen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich wünschte so sehr, ich könnte etwas tun. Es ist furchtbar, Julia so traurig zu sehen.«
Nathalie legte den Arm um meine Schulter. »Gib den beiden etwas Zeit. Das wird sich alles wieder einrenken.«
* * *
Auch zwei Monate später konnte von »eingerenkt« keine Rede sein.
Und nun kam auch noch Nathalie mit ernstem Gesichtsausdruck auf mich zu. »Scarlett, kann ich mal mit dir reden?«
Ich schaute von meinem John Grisham auf und legte das Buch zur Seite.
Nathalie kaute auf ihrer Unterlippe, während sie im Türrahmen stehend ihre Füße studierte.
Ich setzte mich im Bett auf und klopfte neben mich. »Worum geht‘s?«
Nathalie nahm etwas entfernt von mir Platz und betrachtete intensiv mein in die Jahre gekommenes Justin-Timberlake-Poster. Ob sie auch dachte, dass sein nackter Oberkörper eigentlich gar nicht so interessant war?
Nathalies Blick wanderte zu mir. »Du weißt, mit Daniel und mir läuft es echt gut.«
Ich berührte Nathalies Knie. »Ja. Ich freu mich total für euch.«
Sie sah mich an und schmunzelte. »Tatsächlich läuft es sehr gut. Ich glaube, er ist derjenige, welcher.«
Wow. So was hatte ich von Nathalie bisher nicht gehört. Aber sie war auch bisher nie mit jemandem so lange zusammen gewesen.
»Wir sind zwar erst ein knappes halbes Jahr ein Paar, aber die Situation, wie sie jetzt ist … es ist uns nicht genug.«
»Was meinst du?«
»Daniels Mitbewohner sind nicht begeistert, wie oft ich bei ihm schlafe. Und es ist auch keine Lösung, dass er ständig hier bei uns rumhängt.«
Ich lächelte unsicher. »Was willst du mir sagen? Möchtet ihr zusammenziehen?«
Nathalie schaute mich nicht an, nickte aber.
Ich starrte ins Leere. »Wow, das sind mal Neuigkeiten.«
»Das … das ist nicht alles.«
Mein Blick schnappte wieder zu ihr. »Bist du schwanger?«
Ein Kichern war die erste Reaktion, gefolgt von Kopfschütteln. »Nein, wir haben uns was überlegt, also Daniel und ich.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich höre.«
»Zwischen Julia und Oliver herrscht ja immer noch Funkstille, seit du vor fast zwei Monaten mit ihm Schluss gemacht hast.«
»Ja. Und?«
»Und Julia verbringt die meiste Zeit hier, um Oliver aus dem Weg zu gehen.«
»Jaaa?«
Nathalie schluckte. »Als Daniel gestern Oliver von unseren Plänen erzählt hat, fragte der, ob er Daniels Zimmer in der WG übernehmen könnte.«
»Er möchte nicht mehr mit Julia zusammen wohnen?«
Nathalie schüttelte den Kopf.
Ich ließ mich an mein kissengepolstertes Kopfteil zurückfallen und atmete langsam aus. Alles würde sich verändern. Ich fühlte mich verloren. Wie musste sich erst Julia fühlen? »Oh Mann. Weiß Julia das schon?«
»Ungefähr in diesem Augenblick spricht Daniel mit ihr. Ich komm jetzt am besten auf den Punkt.«
»Da ist mehr?«
»Kann man sagen. Also: Oliver zieht in Daniels Zimmer, und Daniel und ich wollen zusammen sein.« Nathalie zögerte. »Wir haben uns überlegt, wo ja jetzt ein Zimmer bei Julia frei ist … vielleicht möchtest du ja ihre neue Mitbewohnerin werden. Daniel und ich würden dann hier zusammen wohnen.«
»Das ist ja mal ein Hammer.« Ich dachte nicht, dass sie mich loswerden wollte, aber ich fühlte mich bei der ganzen Sache trotzdem nicht wohl.
»Du und Julia, ihr versteht euch doch so gut und verbringt viel Zeit miteinander. Da würde es doch perfekt passen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee, Nathalie.«
»Was spricht denn dagegen? Alle würden kriegen, was sie wollen. Oder nicht?«
»Ihr habt das ja fein geplant, aber …«
»Aber was?«
»Ich weiß nicht, ob ich …«
»Ob du was?«
»Das Thema kam jetzt seit Monaten eigentlich nicht mehr auf, aber … Julia steht auf Frauen.«
»Ich dachte, du kommst mittlerweile damit klar.«
»Ja, schon.« Ich rieb mir den Nacken. »Aber stell dir mal vor, sie bringt irgendwann jemanden mit nach Hause.«
»Was dann?«
»Ich weiß nicht, ob ich damit klarkäme.«
Nathalie rollte mit den Augen. »Bist du schon wieder auf dem Trip, dass lesbisch sein und es ausleben zwei unterschiedliche Sachen sind?«
»Darum geht es doch gar nicht.« Oder doch?
»Sondern?«
»Wie sollte ich mich in dem Fall verhalten?«
»Sag ›hallo‹ zu dem Mädel, das sie mitbringt, und lächel. Was machst du denn mit Daniel?«
»Das ist was vollkommen Anderes und das weißt du auch.«
»Scarlett, ich dachte wirklich, du wärst mittlerweile so weit, zu sehen, dass es eben nichts Anderes ist.«
Julias Sexualität war in den vergangenen Monaten kein Thema gewesen, weil sie keine Frauen traf. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie jemanden kennenlernen würde. Auch wenn Julia nicht auf der Suche war. Irgendjemand würde sie früher oder später finden.
»Soll ich so tun, als ob es mich nicht stört, und wenn es passiert und ich damit nicht klarkomme, wieder ausziehen?« Ich schüttelte den Kopf. »So kann das nicht funktionieren.«
Nathalie seufzte. »Sprich mit ihr darüber.«
»Mit Julia?«
»Nein, mit Hillary Clinton. Natürlich mit Julia!« Nathalie stand auf. »Wir machen uns besser fertig. In einer halben Stunde treffen wir uns im ›Versteck‹.«
* * *
Als wir in der Bar ankamen, saßen Daniel und Julia auf unserem Stammplatz in einer Ecke. Sie schauten ziemlich ernst drein.
Aber Nathalie und ich sahen sicher nicht viel anders aus.
Meine beste Freundin setzte sich neben Daniel und ich nahm wie immer neben Julia Platz.
Das Paar flüsterte einen Moment miteinander und stand dann auf. »Daniel und ich gehen eine Runde Billard spielen. Wir sind gleich wieder da«, sagte Nathalie und verschwand mit Daniel.
»Das ist eine Verschwörung«, grummelte Julia.
Ich grinste. »Was sagst du zu der ganzen Sache?«
Julia zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht glauben, dass Oliver wirklich ausziehen will.« Sie senkte den Blick. »Andererseits haben wir in acht Wochen kaum zwei Worte miteinander gewechselt.«
»Es tut mir leid, wie er sich verhält«, sagte ich. »Aber vielleicht ist es das Beste. Denn so kann es doch nicht weitergehen.«
Julia schaute mich mit traurigen Augen an, sagte aber nichts.
»Was willst du, Julia? Daniel und Nathalie werden zusammenziehen. Die Frage ist, wo wir landen.«
Julia starrte auf ihre Hände. »Ich bin nicht sicher, ob das funktionieren kann. Also du und ich in einer WG.« Sie seufzte. »Seien wir ehrlich: Oliver spricht schon jetzt nicht mit mir, aber wenn du und ich …«, sie machte eine Geste für Anführungsstriche, »›zusammenziehen‹ würden, könnte ich die Hoffnung, je wieder mit Oliver ins Reine zu kommen, endgültig vergessen.«
Julias Worte machten mich wütend. »Er verhält sich wie der letzte Trottel. Er ist von dieser fixen Idee besessen. Egal was du tun wirst, es wird nichts ändern.«
»Ich bin mir da nicht so sicher, Scarlett.«
Ich ergriff ihre Hand. »Das sollte wirklich nicht der Grund sein, weshalb ich nicht deine neue Mitbewohnerin werde.«
»Was dann?«
Julia kannte mich mittlerweile gut. Ich schloss für einen Moment die Augen. »Es ist kein Thema zwischen uns mehr, aber …«
»Meine Sexualität.« Julia klang nicht ärgerlich. Eher resigniert.
Ich nickte.
Daraufhin zog sie die Hand weg. »Was muss ich noch anstellen, damit du merkst, dass ich niemals …«
Ich nahm erneut Julias Hand. »Nein, nein. Das ist es nicht. Ich weiß, du würdest mir niemals in irgendeiner Art und Weise zu nahe treten. Es ist etwas Anderes.« Ich blickte beschämt auf meinen Schoß.
»Was denn?«
»Ich weiß nicht, ob ich damit klarkäme, wenn du jemanden mitbringst. Über Nacht, meine ich«
Julia seufzte. »Es wird dich vermutlich überraschen, aber ich verstehe dich.«
Ich schaute auf. »Wirklich?«
»Darf ich ehrlich sein?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Sicher.«
»Ich glaube, ich hätte auch ein Problem damit, wenn du jemanden mitbringen würdest. Also zum Übernachten.«
Das erstaunte mich. »Hat Oliver das nie gemacht?«
Julia lehnte den Kopf zur Seite.
»Dumme Frage. Ich hab ja mehrfach bei euch geschlafen.« Ich tippte mit einem Bierdeckel auf dem Tisch herum. »Das sind die Probleme, richtig? Übernachtungen und Oliver?«
»Mmh, ich denke ja.«
»Ich kann damit leben, dass niemand außer uns beiden bei uns schläft. Du auch?«
Julia nickte.
»Also bleibt bloß das Problem mit Oliver. Julia, willst du wirklich dein Leben nach jemandem ausrichten, der dich so behandelt? Schlechter kann euer Verhältnis nicht werden und verdammt, du hast nichts falsch gemacht. Er ist im Unrecht.«
Julia schloss für einen langen Moment die Augen und sah mich anschließend ernst an. »Du hast recht.« Sie holte tief Luft. »Lass es uns tun.«