Kapitel 4

Am nächsten Morgen tapste ich stöhnend in die Küche. Mein Schädel hämmerte und mein Magen krampfte. Nie wieder Alkohol!

»Guten Morgen.«

Ich zuckte zusammen. Verdammt, wie hatte ich bloß vergessen können, dass Julia hier war? »Morgen.«

Julia ging an mir vorbei und nahm am Frühstückstisch Platz. Der war schon gedeckt und eine Kanne Tee, dem Geruch nach zu urteilen Kamille, stand auf einem Stövchen in der Mitte des Tisches.

»Ich hab Frühstück gemacht«, sagte Julia. »Ich hoffe, das ist okay?«

»Sicher. Kein Problem.« Ich schleppte mich zum kleinen Medizinschrank in der Ecke. Irgendwo mussten doch ein paar Schmerztabletten sein. Nach endlosem Herumgewühle fand ich endlich zwei Paracetamol. Ich nahm mir ein Glas und füllte es mit Leitungswasser. Dann spülte ich die Tabletten die Kehle hinunter.

Als ich mich wieder zu Julia drehte, sah ich, wie sie ihre Oberschenkel betrachtete.

Fühlte sie sich mit mir etwa genauso unwohl, wie ich mich mit ihr? Die Stille war unerträglich. Ich musste was sagen. Irgendwas. Und vielleicht war eine Entschuldigung gar nicht so unangebracht. Langsam wanderte ich zum Frühstückstisch und sank gegenüber von Julia auf einen Stuhl. »Hör mal, wegen gestern Abend …«

Julia hob abwehrend die Hand. »Lass uns die ganze Sache einfach vergessen. Von mir erfährt keiner was.«

Meinte sie das ernst? Nie im Leben wäre ich nach gestern so ruhig geblieben, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre. Insbesondere nicht, nachdem ich letzte Nacht mit Händen und Füßen gegen sie gekämpft hatte, als sie versuchte, mich ins Bett zu bringen. Okay, das klang jetzt irgendwie merkwürdig: ins Bett bringen. Verdammt, warum konnte ich nicht akzeptieren, dass sie mir hatte helfen wollen und mich in keinster Weise bedrängte? »Vielleicht sollten wir ganz von vorne anfangen.« Ich streckte die Hand aus. »Hallo, ich bin Scarlett.«

Julia starrte auf meine Hand. Das Ticken der Wanduhr schien auf einmal so laut wie Hammerschläge.

»Ich bin Julia.«

Als sie mir die Hand gab, merkte ich erst, wie kalt meine eigene war.

»So, Scarlett, erzähl mal, was du studierst.«

»Jura.«

»Gott, das stelle ich mir furchtbar langweilig vor.«

»Manchmal ist es das, aber die meiste Zeit mag ich es sehr.« Ich hielt mir den krampfenden Magen, bevor ich einen Toast aus dem Brotkorb nahm und begann, daran zu mümmeln.

»Und wie bist du dazu gekommen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Schätze, das war durch meinen Geschichts-LK. In der zwölften Klasse ging‘s um die Weimarer Verfassung. Ich fand‘s total interessant.« Ich goss Kamillentee in den großen »Ich bin der Boss« Becher, den Julia beim Decken des Tisches für mich hingestellt hatte. Wie hatte sie bloß wissen können, dass das meine Tasse war? »Ohne Gesetze herrscht Anarchie. Das fasziniert mich halt.« Ich nahm einen kleinen Schluck Tee. »Und außerdem mag ich es, wie ich mit dem Wissen um Gesetze mein eigenes und das Leben anderer beeinflussen kann.«

»Sprichst du von Macht?«

Ich schaute Julia einen langen Moment an. »So würde ich das nicht sagen. Wissen ist Macht. Fast jede Art von Wissen.« Ich lehnte mich zurück. »Das könnte man auch auf dich beziehen. Ich hab keine Ahnung von Medizin. Wenn jemand bei einem Autounfall schwer verletzt würde und ich Ersthelferin wäre …« Ich schüttelte den Kopf, bereute es aber, als mein Schädel wieder mit diesem penetranten Hämmern begann. »Du … du könntest ihn womöglich retten.« Meine Mundwinkel zuckten. »Wer hat mehr Macht? Derjenige, der Gesetze versteht und für sich zu nutzen weiß, oder derjenige, der Leben retten kann?«

Julia lehnte sich auch zurück und lachte. »Das klingt fast so, als würdest du glauben, ein Arzt hätte die Macht über Leben und Tod. Und das ist definitiv nicht so.«

Ich schmunzelte. »Aber du musst doch wohl zugeben, dass die Fähigkeit, Menschen zu heilen, einen in eine gewisse Position bringt.« Ich biss erneut von meinem trockenen Toast ab. »Ohne jetzt das Wort ›Macht‹ noch einmal zu bemühen.« Diese Unterhaltung machte mir merkwürdigerweise Spaß. Wer hätte das gedacht?

Julia schürzte die Lippen und beugte sich vor. Ihre Augen funkelten. »Wenn wir Moral und Ethik vollkommen außer Acht lassen würden, hättest du recht. Aber das ist etwas, was uns in unseren zukünftigen Berufen verbindet: Was wir wissen und was wir damit tun können, ist ebenso wichtig wie die Art, in der wir es nutzen. Moralisch und ethisch richtig oder eben falsch.«

Ich dachte eine Weile darüber nach. Meine Gedanken waren nach wie vor etwas schwerfällig. »Das trifft auf alles im Leben zu.«

Julia lachte. »Touché.«

Wir grinsten einander an.

»Sag mal, Scarlett, fängst du eigentlich immer nach einer durchzechten Nacht an, zu philosophieren? Falls ja, musst du mir das nächste Mal unbedingt Bescheid sagen.« Nach einer kurzen Pause fügte Julia hinzu: »Aber bitte erst, nachdem du deinen Mageninhalt losgeworden bist.«

Ich rollte mit den Augen. Abgesehen von ihrem absolut nicht witzigen Humor, war Julia eine interessante Gesprächspartnerin. Wenn ich doch nur vergessen könnte, dass sie …

»Was machst du denn hier?«

Mein Blick schnappte zur Küchentür.

Nathalie kam herein und glotzte zwischen uns hin und her.

»Guten Morgen. Äh, ich habe auf der Couch geschlafen, weil es gestern schon so spät war.«

Ich berührte Julia kurz am Arm. »Du brauchst nicht zu lügen.«

Nathalie riss die Augen auf, und alle Alarmglocken gingen in meinem Kopf an, als mir bewusst wurde, wie das geklungen haben musste.

»Ich … ich meine … oh, verdammt.« Ich musste diese Sache klarstellen, bevor Nathalie dachte, ich und Julia … »Es hatte nichts mit der Uhrzeit zu tun. Die Wahrheit ist, ich habe mich übergeben und Julia hat was abbekommen. Ich hab ihr deshalb was zum Anziehen gegeben. Aber mit den dünnen Klamotten konnte sie nicht rausgehen, also schlief sie auf der Couch. Und … und gerade hat sie Frühstück gemacht, und jetzt waren wir am Essen, und gleich ruft sie Oliver an, damit er ihr Sachen vorbeibringt.« Ich war ganz außer Atem, weil ich so schnell gesprochen hatte. Hoffentlich hatte Nathalie trotzdem alles verstanden.

Die schmunzelte und tätschelte Julia die Schulter. »Dann weiß ich ja jetzt Bescheid.« Grinsend verließ Nathalie die Küche.

Julia hielt sich die Hand vor den Mund.

»Das ist nicht witzig.« Ich schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an und nahm einen Schluck Kamillentee.

»Doch.« Julia lachte laut los.

* * *

»Er klang furchtbar. Schätze, er hat einen ziemlichen Kater«, sagte Julia, nachdem sie Oliver angerufen hatte.

»Da ist er nicht allein.« Ich schloss kurz die Augen und rieb mir die Schläfen.

»Nur mit dem Unterschied, dass er es verdient hat, sich schlecht zu fühlen«, sagte Julia.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wir sind nicht zusammen. Er kann machen, was er will.«

»Ihr wart dabei, zusammenzukommen. Er hat nach Daniels Geburtstagsparty die ganze Zeit von dir gesprochen. Ich dachte wirklich, er hätte sich in dich verliebt.«

»Sag mal, verhält er sich öfter so?«

»Absolut nicht.« Julia schüttelte den Kopf. »Ich konnte es nicht fassen, als Daniel mir erzählte, was passiert war. Erst ist er total nervös, erzählt mir, wie toll er dich findet, und trinkt sich auch noch Mut an, und dann … so was.«

Vielleicht hatte Anja sich wirklich im falschen Augenblick an ihn ran gemacht. Und was, wenn er gar nichts von ihr wollte und wirklich ein Opfer unglücklicher Umstände geworden war?

»Was denkst du gerade?«

»Es ergibt keinen Sinn. Zumindest nicht, dass er mit ihr rummachen würde, nachdem er so an mir interessiert war. Andererseits würde es sehr wohl Sinn machen, wenn Anja ihn angemacht hat.«

»Denkst du darüber nach, ihm zu verzeihen?«

»Verzeihen klingt so, als ob wir zusammen wären. Aber ehrlich gesagt denke ich darüber nach, mir seine Version der Dinge anzuhören.«

»Er ist mein Bruder und ich liebe ihn. Aber wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich ihn zum Mond schießen.«

* * *

Als es an der Tür klingelte, machte ich auf und da stand er: Oliver. Er ließ die Schultern hängen und starrte auf seine Füße.

»Komm rein.«

Oliver trat ein. Er trug einen Rucksack über der Schulter. Als Julia zur Tür kam, mied er ihren Blick und reichte ihr den Rucksack mit ausgestrecktem Arm.

Julia ergriff ihn und ging einen Schritt auf Oliver zu. Anschließend schloss sie ihren Bruder in die Arme und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Oliver nickte, sagte jedoch nichts.

Ich fühlte mich wie ein Eindringling und wollte gerade unauffällig verschwinden. Doch Julia stoppte mich. »Oliver möchte mit dir reden.«

»Okay.« Ich ging voraus ins Wohnzimmer, während Julia im Badezimmer verschwand.

Bevor wir unser Ziel erreichten, ging auf der linken Seite Nathalies Zimmertür auf. Wenn Blicke töten könnten, hätte Oliver es wohl nicht überlebt. Nathalie beobachtete sein Vorbeigehen mit zusammengekniffenen Augen, sagte aber nichts.

Im Wohnzimmer setzte ich mich an ein Ende der Couch.

Oliver nahm am anderen Ende Platz und sah mich zögerlich an. Wegen seiner Blässe und seiner knallroten und glasigen Augen hätte man fast glauben können, er hätte die ganze Nacht geweint. »Ich habe Mist gebaut.«

Ich wollte sagen »hast du«, verkniff es mir aber.

»Ich brauchte gestern etwas Zeit, um mich abzukühlen nach unserem Tanz, deshalb setzte ich mich in eine ruhige Ecke.« Er holte tief Luft. »Irgendwann kam Anja und setzte sich neben mich. Sie erzählte von ihrem Ex und fing an zu weinen. Ich legte den Arm um sie und versuchte, irgendwas Tröstendes zu sagen. So was wie ›du kannst doch viel bessere Kerle haben‹ und so.« Oliver schüttelte langsam den Kopf. »Dann saß sie plötzlich auf meinem Schoß und begann, mich zu küssen. Als ich sie wegschieben wollte, hast du auch schon vor uns gestanden.« Er rückte etwas näher. »Scarlett, bitte glaub mir, ich will nichts von Anja. Du bist so eine tolle Frau, und jeder Mann, der eine andere Frau dir vorzieht, ist ein Idiot.«

Ich betrachtete ihn eine ganze Weile. Es schien ihm wirklich leidzutun, und um die Sache kurz zu machen: Ich glaubte ihm. Also tat ich das, was jede Frau in dieser Situation getan hätte. Ich beugte mich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss.

Schnell wich ich wieder zurück.

Oliver strahlte und zog mich erneut zu sich.

Vorsichtige Küsse wurden schnell leidenschaftlich.

Wir zuckten zusammen, als Nathalie mit einer ins Schrille abgleitenden Stimme rief: »Das glaub ich doch jetzt nicht.«

Wir lösten uns voneinander und starrten Nathalie an.

»Scarlett, das kann doch nicht dein Ernst sein. Ihr seid noch nicht mal richtig zusammen, und der Kerl knutscht schon mit ‘ner anderen rum.« Nathalie wirbelte wild mit den Armen herum. »Und einen Tag später vergibst du ihm und die ganze Sache wird ignoriert?«

In diesem Moment kam Julia ins Wohnzimmer. Ihr Gesichtsausdruck war merkwürdig. Ich wüsste nicht, wie man ihn hätte beschreiben können. Vielleicht ungläubig und … war das ein verletzter Gesichtsausdruck? Wirklich, es war schwer zu sagen.

»Er hat mir die ganze Sache erklärt«, sagte ich. »Anja ist quasi über ihn hergefallen.«

Zu meiner großen Überraschung sagte Julia nichts und verließ das Zimmer.

Nathalie hingegen stellte sich direkt vor uns. Mit blitzenden Augen schaute sie auf Oliver herab. »Wenn du noch ein einziges Mal so was abziehst, wirst du dir wünschen, dass Julia dich schlägt, anstatt ich. Denn ich benutze die Faust, nicht die flache Hand.«

Olivers Augen weiteten sich und er nickte.

Nathalie blieb einen Moment vor ihm stehen und stürmte anschließend in die Küche.

Ich sah ihr nach.

»Vielleicht waren wir gestern noch nicht zusammen.« Oliver berührte mich am Arm. »Aber wir könnten es ab heute sein.«

Mein Blick schnappte zu ihm. War es das, was ich wollte? Was für eine Frage. Eine Frau wollte mit einem Mann zusammen sein. So einfach war das. Die Verliebtheit würde später kommen. Ganz sicher. »Dann sind wir ab heute zusammen.« Ich rang mir ein Lächeln ab.

Oliver grinste von einem Ohr zum anderen und küsste mich ungestüm.

Wir verabredeten uns für Montag in der Mensa und ich brachte Oliver zur Tür.

Dort wartete Julia mit dem Rucksack in der Hand.

Wir betrachteten einander.

Was wohl in ihr vorging? Sie dachte vermutlich, dass ich ein vollkommener Idiot war, ihm eine zweite Chance zu geben, hielt aber den Mund, weil Oliver ja ihr Bruder war.

»Julia, danke für alles«, sagte ich.

Sie lächelte schief.

Oliver drehte sich zu mir und gab mir einen kurzen Kuss.

Anschließend verließen beide wortlos die Wohnung.

Ich hatte kaum die Tür geschlossen, da spürte ich bereits bohrende Blicke im Rücken. »Sag nichts, Nathalie. Wir sind jetzt zusammen, und was passiert ist, war nicht sein Fehler.«

»Ich versteh dich einfach nicht.« Sie klang eher resigniert als ärgerlich.

Ich schloss die Augen und lehnte die Stirn an die Eingangstür. »Ich versteh mich manchmal auch nicht.«