Kapitel 9
Oliver öffnete mir lächelnd die Tür.
Ich gab ihm einen Kuss zur Begrüßung. Aus dem Augenwinkel sah ich Julia aus dem Wohnzimmer kommen. Daraufhin löste ich mich von Oliver und eilte auf sie zu. »Ach, ist das schön, dich zu sehen.«
Julia starrte mich an.
Ich verzichtete auf das obligatorische Küsschen auf die Wange und umarmte sie. Als ich sie losließ, bemerkte ich, dass Julia dunkle Ringe unter den Augen hatte und etwas blass war. »Alles in Ordnung mit dir?«
Julia nickte, während sie mich ausdruckslos ansah.
»Oliver, ich geh mal eben mit Julia in ihr Zimmer.«
»Frauengespräche«, murmelte er grinsend und verschwand ohne ein weiteres Wort in seinem Zimmer.
Als ich mich umdrehte, schaute mich Julia mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und was genau willst du mit mir in meinem Zimmer?«
Vor ein paar Wochen wäre ich bei dieser Frage aus dem Mund einer Lesbe sicher ausgerastet. Aber ich kannte Julia mittlerweile gut genug, um mich nicht bedroht zu fühlen. Ich hakte mich bei ihr ein und zog sie in ihren Raum. »Reden.«
Julia setzte sich aufs Bett, während ich mich nach einem Stuhl umsah. Bisher war mir nie aufgefallen, dass ihr Zimmer zu klein für einen Schreibtisch oder Sitzgelegenheiten war.
»Du kannst dich auch aufs Bett setzen, wenn du willst.«
Ich nickte und setzte mich so weit wie möglich von ihr entfernt auf die Bettkante. Julia oder nicht, ich saß hier schließlich auf dem Bett einer Lesbe.
»Dann erzähl mal, worüber du reden möchtest«, sagte Julia.
Ich studierte eine Weile schweigend ihr Gesicht. »Du siehst schlecht aus.«
»Danke.«
Ich rollte mit den Augen. »Du weißt, wie ich das meine. Willst du drüber sprechen?«
Julia blickte zu Boden. »Ich habe in den letzten Nächten nicht besonders gut geschlafen.«
»Liegt es an der Arbeit? Ist irgendwas passiert?«
Julia zuckte mit den Schultern.
Ich überraschte mich selbst, indem ich näher rückte und den Arm um ihre Schultern legte.
Julia schaute kurz auf und senkte dann wieder den Kopf.
»Manchmal hilft es, wenn man über seine Sorgen spricht.«
Als Julia mich umarmte und zu weinen begann, zuckte ich zusammen. Einen Moment lang war ich wie erstarrt, doch dann hielt ich sie und rieb ihr über den Rücken. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, also schwieg ich. Warum hatte Oliver nicht mit ihr geredet? Mein Gefühl sagte mir, er hatte das nicht getan. Oder irrte ich mich da? Er musste gesehen haben, wie schlecht es ihr ging. Ich würde ihn bei nächster Gelegenheit fragen.
Wir hielten einander mehrere Minuten in den Armen, bis Julias Weinen irgendwann nachließ und sie sich von mir löste.
Meine Hand umschloss ihre Wange und ich strich einige letzte Tränen mit dem Daumen weg.
»Danke.« Mehr sagte sie nicht.
Ich ließ ihr Gesicht los und schaute Julia tief in die Augen. »Du kannst mit mir drüber reden, weißt du?«
Sie schüttelte langsam den Kopf und wischte sich weitere Tränen ab.
Ich holte mein Handy aus der Hosentasche, drückte ein paar Tasten und reichte es ihr. »Hier. Meine Nummer. Kannst sie in dein Handy eingeben und wenn du reden willst, rufst du mich an.«
Julia sah mich einen langen Moment an, bevor sie nickte und ihr eigenes Handy rausholte. »Wie war‘s auf Sylt?«
Ich musste lächeln. »Traumhaft. Es ist wirklich wundervoll da.«
Schweigen.
»Wann hast du das erste Mal frei?«
Julia runzelte die Stirn. »Warum?«
»Na, wenn wir das nächste Mal fahren, kommst du doch hoffentlich mit.«
»Vielleicht.«
»Kein Vielleicht. Mit dir wäre es noch schöner gewesen.« Meine Worte erstaunten mich, aber ich meinte es ernst.
Julias Mundwinkel zuckten und formten ein zaghaftes Lächeln.
Ich holte tief Luft. »Aber jetzt hat mich erst mal der Ernst des Lebens wieder. Zwei Wochen bis Semesterbeginn und ich bin vollkommen pleite. Ich hab heute Vormittag Cafés abgeklappert, um ‘nen Job als Kellnerin zu finden. Da bekomme ich wenigstens jeden Tag Trinkgeld. Aber die scheinen im Moment nirgendwo zu suchen.«
Julia betrachtete mich nachdenklich. Nach ein paar Sekunden wurde ein breites Grinsen draus. »Gegenüber vom Krankenhaus ist ein kleines Stehcafé. Hauptsächlich verkehrt da Klinikpersonal. Die haben superleckere Snacks. Mein Favorit ist das Tomaten-Mozzarella Sandwich.«
»Klingt lecker, aber was hat das mit mir zu tun?«
»Regina, eine der Mitarbeiterinnen, hat sich das Bein gebrochen und fällt für die nächsten Wochen aus. Die suchen ganz verzweifelt nach einer Aushilfe.«
Wenn das Leben ein Comic gewesen wäre, hätte man in meinen Augen jetzt wahrscheinlich Dollarzeichen gesehen. »Wann machen die auf?«
»Die müssten gerade geöffnet haben, wenn ich mich nicht irre.«
Ich sprang auf. »Ich geh schnell, bevor mir jemand den Job vor der Nase wegschnappt.«
»Viel Glück«, sagte Julia, als ich schon halb aus der Tür war.
Ich wirbelte herum, ging mit großen Schritten zurück und schloss Julia in die Arme. Anschließend eilte ich zu Oliver, um ihm Bescheid zu sagen.
* * *
Eine knappe Dreiviertelstunde später gehörte ich wieder zur arbeitenden Bevölkerung.
»Du kannst bei Julia mitfahren, wenn du morgen früh anfängst«, sagte Oliver, während er vor dem Café wendete. »Sie hat das Auto jetzt immer, um zur Arbeit zu kommen.«
»Gute Idee. Ich frag sie, sobald wir zurück sind.« Dies war der perfekte Moment, ihn auf Julia anzusprechen. »Sag mal, hast du eine Ahnung, was mit ihr los ist?«
Oliver seufzte.
»Hast du?«
»Ich hab versucht, mit ihr zu reden, aber sie hat abgeblockt. Hattest du Erfolg?«
Ich ließ den Atem langsam entweichen. »Sie hat nicht viel gesagt, aber ich glaube trotzdem, sie hat sich ein bisschen geöffnet.«
»Wie das?«
Ich war mir nicht sicher, ob ich Oliver sagen sollte, dass Julia geweint hatte. Er war zwar ihr Zwillingsbruder, aber dennoch fühlte es sich nicht richtig an, ihm davon zu erzählen. »Weiß auch nicht.«
Den Rest der Fahrt schwiegen wir.
* * *
»Du scheinst ganz schön nervös zu sein.« Julia sprach, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. Sie brachte es auf den Punkt.
Ich rutschte auf dem Beifahrersitz herum. »Der erste Arbeitstag ist irgendwie wie das erste Mal, findest du nicht?«
Julia parkte vor dem Café und hob eine Augenbraue.
»Na ja, man weiß schon, was einen erwartet, aber halt nicht genau. Man kann sich blamieren und weiß nie, ob es wirklich ein zweites Mal gibt.«
Julia begann zu lachen.
Nach kurzem Zögern stimmte ich in ihr Gelächter mit ein.
Ich wollte gerade aus ihrem Auto aussteigen, da umarmte Julia mich. »Viel Glück bei deinem ersten Mal.«
* * *
Julia war um halb fünf immer noch nicht im Café. Dabei hatten wir uns für sechzehn Uhr verabredet. Ich machte mir Sorgen und beschloss, sie auf ihrer Station abzuholen. Erst fragte ich an der Information und dann machte mich auf den Weg. Auf der Station ging ich zum Schwesternzimmer und fragte nach Julia.
»Woher kennen Sie Frau Liebknecht?«, fragte eine dunkelblonde Schwester.
»Ich bin eine Freundin. Wir waren verabredet und sie ist nicht aufgetaucht.«
Die Schwester nickte. »Ich bringe Sie zu ihr. Sie ist in der Notaufnahme.«
»In der Notaufnahme? Was macht sie denn da? Ich dachte sie arbeitet hier.«
Wir gingen gemeinsam den Gang herunter.
»Ein Patient hat sie angegriffen.«
»Angegriffen?«
Sie berührte mich am Arm. »Es ist nicht allzu ernst. Sie braucht wohl nur ein paar Stiche.«
»Stiche?«
»Am besten erzählt Frau Liebknecht Ihnen die Geschichte selbst.«
Warum sagte sie mir nicht einfach, wie es Julia ging?
Irgendwann erreichten wir endlich die Notaufnahme.
Mit der Schwester an meiner Seite konnte ich direkt in einen der Behandlungsräume durchgehen.
Da lag Julia auf einer Liege, und ein Arzt war über sie gebeugt.
»Frau Liebknecht, da ist jemand für Sie«, sagte die Schwester, tätschelte erneut meinen Arm und verschwand.
Der Arzt blickte kurz auf, bevor er sich wieder Julia zuwandte.
Ich ging um die Liege herum und war geschockt über das, was ich sah: Julia hatte eine blaue Beule auf der Stirn über dem rechten Auge, und der Arzt nähte gerade eine Wunde an ihrem rechten Oberarm.
Ich konnte nicht hinsehen und nahm stattdessen Julias linke Hand. »Was um Himmels willen ist passiert?«
Julia schaute mich erst mit großen Augen an und senkte dann den Blick. »Ein Patient ist ausgerastet. Ein Psychiatriepatient mit Herzproblemen. Leider auch psychotisch. Er war eigentlich fixiert, hat sich aber losgerissen.« Julia schloss die Augen. »Ich war die Nächste in Reichweite.«
»Gott, Julia.« Ich strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Er hatte Angst und dachte, wir würden ihn verletzen wollen. Er riss mir den Sonokopf aus der Hand und schlug mich damit. Ehe ich reagieren konnte, schnitt er mir den Arm mit der Metallschlaufe seiner Fixierung auf.«
Ich musste schlucken.
»Es ging alles so schnell. Es kamen mehrere Schwestern und ein Pfleger zu Hilfe. Sie zogen mich weg. Der Patient wurde fixiert und dann gab Dr. Reinhard ihm was zur Beruhigung.« Julia betrachtete mich. »Es tut mir leid, dass ich nicht aufgetaucht bin.«
»Machst du Witze?«
Julia antwortete nicht.
»Kannst du nach dem Nähen gehen?«
»Ja.«
»Ich fahre.«
»Das musst du auch. Ich habe was gegen die Schmerzen bekommen, weil meine Schulter geprellt ist und mein Kopf einen ziemlichen Bums abbekommen hat.«
Ich strich über den unverletzten Teil ihrer Stirn. »Ich kann dich auch keine Minute aus den Augen lassen.«
Eine ganze Weile herrschte Stille.
»Ich bin jetzt den Rest der Woche krankgeschrieben wegen dieser Sache.«
»Verstehe. Ich bringe dir … euch in der Zeit Essen vorbei.«
»Quatsch. Kochen kriege ich hin.«
»Du bist am Arm und an der Schulter verletzt. Und mit deiner Kopfverletzung sollst du dich auch sicher ausruhen.« Ich sah zum Arzt, der gerade mit seiner Arbeit fertig wurde.
Er nickte zustimmend.
»Heute gibt‘s Sandwiches für euch und morgen was vom Chinesen. Einverstanden?«
Julia seufzte und deutete ein Nicken an.
Ich half ihr auf, und gemeinsam verließen wir die Notaufnahme.
Während Julia im Auto wartete, eilte ich noch mal ins Café und erzählte die ganze Sache meiner Chefin. Daraufhin gingen die Sandwiches aufs Haus.
Ich bedankte mich und hastete zurück zum Auto.
* * *
Ich berührte die schlafende Julia sanft an der Schulter. »Julia? Wir sind zu Hause.«
Keine Reaktion.
»Julia, aufwachen.«
Wieder nichts.
Ich beugte mich zu ihr rüber. »Julia, Natalie Portman ist hier und möchte ein Date mit dir.«
Ein Augenlid klappte hoch, dann das andere.
Julia drehte den Kopf, und ich wich zurück.
Sie zwinkerte ein paarmal. »Sehr witzig«, murmelte sie.
»Es hat funktioniert. Das ist alles, was zählt.« Ich grinste, stieg aus und schüttelte den Kopf über mich selbst. Bei Matthias hatte dieser Spruch immer geholfen, um ihn aufzuwecken. Aber dass ich bei Julia direkt auf die Idee gekommen war …
Als wir in Julias Wohnung ankamen, steckte Oliver den Kopf aus seiner Zimmertür und sein Mund klappte auf. Er stürmte zu Julia und legte den Arm um ihre Taille. »Gott, was ist passiert?«
»Bin mit einem Verrückten zusammengestoßen.«
Während Oliver Julia in ihr Zimmer begleitete, ging ich in die Küche und verteilte die Sandwiches auf zwei Teller. Gut, dass ich schon im Café gegessen hatte. Anschließend ging ich in Julias Zimmer. Als ich sie im BH stehen sah, drehte ich mich weg. Eigentlich albern. Ich hatte mich bisher nie bei anderen Frauen umgedreht. Die hatten ja nichts, was ich nicht schon bei mir selbst gesehen hatte. Aber weil Julia lesbisch war, kam es mir irgendwie nicht richtig vor zu gucken.
Einen Moment später hatte Julia mit Olivers Hilfe ein T-Shirt angezogen und ich stellte die Teller auf Julias Nachttisch.
Unter ihrem Oberteil kämpfte Julia mit der linken Hand, um ihren BH aufzubekommen. Es sah witzig aus, bis sie schmerzerfüllt das Gesicht verzog.
Ich eilte zu ihr. »Lass mich das machen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, stellte ich mich hinter sie, zog das Shirt hoch und löste den Verschluss des BHs.
Oliver starrte unterdessen auf seine Füße.
»Danke«, sagte Julia und begann, ungeschickt am geöffneten BH rumzunesteln und ihn unter ihrem T-Shirt durchzuziehen.
Erneut half ich. Erst fasste ich an der gesunden Schulter in den Ärmel und zog den Träger über den Arm. Danach schob ich vorsichtig zwei Finger in den Ärmel des verletzten Arms. Ich zog den BH heraus und hielt ihn wie eine Trophäe hoch. Gott sei Dank hatte ich Julia nicht wehgetan.
Sie nahm den BH an sich. »Noch mal danke, Scarlett.«
Wer hätte gedacht, dass Julia so rot im Gesicht werden konnte?
»Keine Ursache.«
Nachdem Julia auch ihre Hose ausgezogen hatte, kuschelte sie sich unter die Bettdecke.
Oliver nahm am Bettrand Platz, und beide begannen zu essen, während Julia genau erzählte, was passiert war.
Ich fühlte mich wie ein Eindringling und ging zur Tür.
Julia blickte auf. »Scarlett, du musst nicht gehen.«
»Ich weiß, aber ihr redet jetzt am besten ganz in Ruhe. Oliver, ich geh in dein Zimmer, okay?«
Mein Freund nickte und nahm einen weiteren großen Bissen von seinem Sandwich.
Bevor ich den Raum verließ, schaute ich noch einmal zu den beiden.
Oliver hielt Julias Hand. Sie schienen einander so nahe zu sein. Ich wünschte in diesem Moment, ich hätte auch einen Bruder oder eine Schwester gehabt.
* * *
Oliver kam etwa eine halbe Stunde später in sein Zimmer.
»Wie geht‘s ihr?«, fragte ich.
Oliver legte sich neben mich aufs Bett und schloss mich lose in die Arme. »Sie ist ziemlich durchgeschüttelt. Wem würde es nicht so gehen?«
»Es ist wohl besser, wenn du bei ihr bleibst. Ich kann ja nach …«
»Nein. Sie ist gerade eingeschlafen. Ein bisschen Schlaf ist genau das Richtige für sie.«
Da kam mir eine Idee. »Oliver, warum fragst du nicht deine Eltern, ob sie Julia einen Flug nach Sylt fürs Wochenende spendieren? Ich fand es da so erholsam, und vielleicht wäre es genau das, was sie jetzt braucht.«
»Ich weiß nicht, ob sie das wollen würde, aber ein bisschen Abstand von allem könnte sicher nicht schaden.«
Ich lächelte, zufrieden mit mir selbst.
»Aber …«
Was denn nun? »Was?«
»Ich möchte nicht, dass sie allein hinfliegt.«
Ich tätschelte ihm den Arm. »Flieg doch einfach mit.«
»Würde ich ja gerne, aber mein Kumpel Marek zieht am Samstag um, und ich soll den Transporter fahren, weil ich der Einzige bin, der das schon mal gemacht hat.«
»Dann kann sie mit einer ihrer Freundinnen fliegen.«
»Welche Freundinnen?«
»Was meinst du?«
»Julia ist mit ihren Büchern befreundet. Erinnerst du dich, als ich sagte, sie würde nicht nach der Frau fürs Leben suchen?«
Ich nickte.
»Nach Freundschaften sucht sie auch nicht wirklich.«
Hatte ich das richtig verstanden? »Meinst du damit, Julia hat keine Freunde?«
»Bestenfalls ein paar Bekannte, aber niemand, den man mit in einen Kurzurlaub nehmen würde.« Er grinste. »Dir hat es doch so gut da gefallen. Leiste du ihr doch Gesellschaft.«
Ich? Allein mit Julia? Für drei Tage? »Ich weiß nicht so recht.«
Oliver kitzelte mich. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass du am Wochenende freihast. Wo ist also das Problem?«
Mein Herz raste, und das nicht nur, weil Oliver mich kitzelte. Einerseits war der Gedanke, so bald wieder auf Sylt zu sein, verlockend. Andererseits kam es mir merkwürdig vor, ganz allein mit Julia zu fliegen. Ach … warum eigentlich nicht? Julia würde ja vermutlich sowieso nicht wollen. »Wenn sie einverstanden ist, komme ich mit.«
Oliver strahlte wie ein Honigkuchenpferd und streckte mir die Hand entgegen. »Deal.«
* * *
Als ich am Donnerstag nach der Arbeit bei Oliver vorbeiging und etwas Würziges roch, wusste ich sofort, dass Julia am Kochen war.
Oliver begrüßte mich mit einem Kuss.
»Sie sollte im Bett liegen und sich erholen, anstatt in der Küche zu stehen und zu kochen.«
Oliver hob abwehrend die Hände. »Sag das nicht mir. Ich wollte was kommen lassen.«
Ich schaute ihn mit finsterer Miene an. Bloß keinen Finger krumm machen. »Ich schau mal kurz nach ihr.«
Oliver nickte und verschwand in seinem Zimmer.
»Hey«, sagte ich, als ich die Küche betrat.
Julia tunkte einen Teelöffel in einen großen Topf und hielt ihn mir hin. »Hi. Probier mal. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es so in Ordnung ist.«
Ich trat näher und ließ Julia den Löffel in meinen Mund schieben. »Mmh, Gott, ist das lecker. Ist das …?«
»Kartoffelsuppe.«
Also eine Sache war sicher: Julia war eine verdammt gute Köchin. Das war die mit Abstand leckerste Kartoffelsuppe, die ich je probiert hatte. Ich betrachtete Julia eingehend.
Sie blinzelte öfter als sonst, aber die Schwellung auf der Stirn war etwas zurückgegangen. Die Farbe hatte sich allerdings verändert. Aus dem anfänglichen Blau war ein Lila mit einzelnen Grün- und Gelbtupfern geworden.
»Sagst du mir jetzt, wie es dir geht?«
Julia betrachtete intensiv den Kochlöffel, mit dem sie die Suppe umrührte. »Ganz gut. Isst du mit uns?«
Wie konnte ich bei diesem Essen Nein sagen? »Sicher.«
Sie stellte drei Teller auf den Tisch, und ich verteilte sie. Anschließend ging ich zur Schublade und holte Löffel raus, während Julia Servietten hinlegte.
»Freust du dich schon aufs Wochenende?«, fragte ich.
Julia streifte mich mit einem Blick, sagte aber nichts.
Ich setzte mich hin und starrte sie an. Was war hier los? »Willst du nicht mit mir nach Sylt fliegen? Hat der Arzt vielleicht gemeint, es wäre keine gute Idee?«
Julia seufzte. Dann schaltete sie den Herd aus und setzte sich zu mir an den Tisch. »Das ist es nicht.«
»Was dann?« Ich konnte nicht verhindern, ärgerlich zu klingen.
Julia holte tief Luft. »Ich mag es nicht, wenn andere über meinen Kopf hinweg entscheiden.«
»Was meinst du?«
»Ich meine, mir wurde am Dienstag verkündet, dass für dich und mich Flüge nach Sylt gebucht wurden und ich Freitag bis Sonntag mit dir im Strandhaus verbringen werde.«
»Was? Willst du mir sagen, Oliver und deine Eltern haben den Flug gebucht, ohne dich vorher zu fragen?«
Julia nickte.
»Warum?«
»Ich schätze, weil sie wussten, dass ich Nein gesagt hätte, wenn sie mich gefragt hätten.«
»Entschuldige, wenn ich mich wiederhole, aber warum?«
Julia schwieg eine ganze Weile. Irgendwann schüttelte sie langsam den Kopf. »Ich will einfach nur in meinem Zimmer sein und in Ruhe gelassen werden.«
»Du schottest dich viel zu sehr von der Welt ab.«
»Seit wann geht dich das was an?« Julia stand ruckartig auf und stapfte wieder zum Herd.
Ich zuckte zusammen.
Sie nahm nacheinander die Teller und füllte sie.
Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich sagen sollte. Sie konnte wirklich verletzend sein. Ich stand auf, um hier zu verschwinden und Oliver Bescheid zu sagen, dass das Essen fertig war. Aber bevor ich die Küche verließ, drehte ich mich noch mal zu Julia. »Weißt du, Oliver sagte mir, du hättest keine richtigen Freunde. Ich konnte es mir nicht erklären. Du kannst so nett sein. Der eine Samstag mit dir hat mir richtig Spaß gemacht. Aber wenn du so bist wie jetzt … Ich muss dir leider sagen, du bist gerade unausstehlich.« Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ ich die Küche.
Oliver und ich kamen einige Augenblicke später wieder in die Küche, doch Julia war nirgendwo zu sehen.
Wir setzten uns und warteten.
Als Julia nicht wiederkam, sah Oliver mich an. »Wo ist Julia? Ihre Suppe wird kalt.«
Ich stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir hatten einen kleinen Streit. Ich rede besser mit ihr.«
»Wenn ihr euch gestritten habt, lass sie lieber in Ruhe. Sie muss dann erst mal runterkommen. Worum ging es denn?«
»Warum habt ihr die Flüge gebucht, ohne sie zu fragen? Sie will nicht gehen.«
Oliver runzelte die Stirn. »Hat sie das gesagt?«
Ich nickte. »Stimmt das etwa nicht?«
»Ja, schon. Aber wenn sie erst mal da ist, sieht sie es sicher anders. Julia braucht einen Tapetenwechsel, und ich weiß, sie mag dich. Also mach dir keine Gedanken darüber.«
Ich teilte seine Meinung nicht. Ich war hin- und hergerissen. Sie war vermutlich in ihrem Zimmer. Vielleicht sollte ich …
In diesem Moment tauchte Julia wieder in der Küche auf und setzte sich an den Tisch.
Ich nahm auch wieder Platz.
»Guten Appetit«, sagte Julia, während sie auf ihren Teller starrte.
»Gleichfalls«, antworteten Oliver und ich.
Julia räusperte sich. »Daniel kommt morgen um halb zwei hierhin und bringt uns zum Flughafen.«
Ich nickte. Damit war das Thema erledigt. Ich würde morgen mit Julia in den Kurzurlaub fliegen.