Kapitel 8

»Oliver!« Unsanft landete ich auf dem Hintern. Schlittschuh laufen war definitiv nichts für mich.

Oliver stoppte direkt vor mir.

Eis und ein paar Spritzer halbgefrorenes Wasser trafen mich im Gesicht. »Bah.«

»Bitte entschuldige.« Oliver versuchte, mir aufzuhelfen, verlor dabei selbst das Gleichgewicht und landete auf mir.

Das Eis unter mir war hart und kalt.

»Entschuldige, Scarlett.«

Ich lachte.

Wie zwei Käfer auf dem Rücken versuchten wir, aufzustehen.

Oliver lachte auch und irgendwie kamen wir wieder auf die Füße.

Die folgenden Minuten liefen wir Hand in Hand und tatsächlich schaffte ich es, auf den Beinen zu bleiben.

»Wie war‘s gestern bei deiner Mutter?«

»Ach, ganz nett. Wir haben ihr Urlaubsvideo angeschaut. Sie war über Weihnachten und Neujahr mit meiner Tante Edith auf Kreuzfahrt. Und sie hatten ihren Camcorder dabei.«

»Das klingt ganz nach meinen Eltern.«

Ich lächelte.

»Äh, Scarlett?«

»Ja?«

»Meine Eltern feiern kommenden Donnerstag silberne Hochzeit.«

»Aha.«

»Und … und ich habe mich gefragt, ob du mich vielleicht dahin begleiten willst?«

Ich verlor das Gleichgewicht und riss uns zu Boden. »Autsch. Verdammt. Sorry, Oliver.«

Gemeinsam rappelten wir uns wieder auf.

Oliver wollte, dass ich seine Eltern und noch wichtiger seine Eltern mich kennenlernten. Er schien es ernst mit mir zu meinen. Keine Ahnung, warum, aber das machte mich nervös. Ach, ich sollte nicht so viel nachdenken. »Ich komme gerne.«

* * *

Oliver und ich lagen auf seinem Bett und tauschten schon seit einer ganzen Weile Küsse aus.

Immer, wenn seine Hände auf Wanderschaft gingen, hielt ich sie fest. Mir war einfach nicht nach mehr. Bald, sehr bald mussten wir mal ein Gespräch darüber führen. Mit Matthias war ich sechs Monate zusammen gewesen, bevor ich ihn »ranließ«, wie Nathalie es ausgedrückt hatte. Ich war halt nicht so für überstürzten Sex. Hoffentlich würde Oliver das verstehen.

Die Eingangstür schnappte zu und Oliver und ich sprangen gleichzeitig vom Bett.

Heute hatte Julia den ersten Tag im Krankenhaus gehabt.

Wie zwei Kinder rannten wir zur Zimmertür und rissen sie auf.

Gerade ging Julia an Olivers Zimmer vorbei und blieb wie ertappt stehen. Sie sah müde aus.

»Und?«, fragte Oliver.

Ich drängelte mich an ihm vorbei. »Wie war‘s?«

»Lasst uns erst mal ins Wohnzimmer gehen, dann erzähl ich es«, sagte Julia. »Ich bin geschafft und möchte mich hinsetzen.«

Oliver schob Julia ins Wohnzimmer und ich trottete hinterher.

Anschließend quetschten wir uns, mit Oliver in der Mitte, auf die Couch.

»Gott, es gab so viel Neues. Unzählige kleine Sachen. Ich hatte zeitweise das Gefühl, mir sollte alles an einem Tag erklärt werden. Und der Papierkram ist der blanke Horror.«

»Haben sie dich auch an Patienten rangelassen, Schwesterherz?«

»Einem hab ich Blut abgenommen, und einen anderen hab ich gemeinsam mit Dr. Reinhard untersucht.«

Ich rutschte etwas näher an Oliver heran. »In was für einem Bereich bist du?«

»Kardiologie und Innere.«

»Das ist alles, was du heute gemacht hast?«, fragte Oliver. »Papierkram, Blut abnehmen und untersuchen?«

Was sollte denn dieser Kommentar? Für den ersten Tag war das doch eine Menge.

Julia schaute Oliver mit zusammengepressten Lippen an. »Mir wurde alles gezeigt, und ich war bei einem Doppler dabei.« Sie schwieg für einen Moment, bevor sie sagte: »Es wurde mir heute unglaublich viel erklärt. Sowohl das Technische als auch, und das war das meiste, das Organisatorische. Ich hoffe, ich behalte alles.«

Oliver winkte ab. »Da mach dir mal keine Sorgen. Ich kenn dich. Du kriegst das schon hin.«

Julias Blick verfinsterte sich für einen Moment. »Ach, ist das schön, wenn einem die Last, immer alles richtig machen zu müssen, so charmant von den Schultern genommen wird.« Julia stand auf. »Ich werd mich jetzt ums Essen kümmern. Wie ich dich kenne, hast du noch nichts gegessen.« Sie schaute zu mir. »Ich meine, ihr.«

Oliver nickte. »Ich bin wirklich etwas hungrig.«

»Lasst uns doch alle gemeinsam kochen.«

Oliver und Julia sahen mich an, als ob ich gesagt hätte, der Dalai Lama würde Bundespräsident werden.

»Oliver in der Küche und wir werden vielleicht rechtzeitig zum Frühstück fertig.«

Oliver grinste.

»Dann helf ich dir halt«, sagte ich. »Du hast den ganzen Tag gearbeitet.«

Nach kurzem Zögern stimmte Julia zu und schlenderte in die Küche.

»Du brauchst ihr nicht zu helfen. Wir könnten uns auch etwas kommen lassen, aber Julia mag das nicht. Wenn sie unbedingt kochen will, lass sie doch.«

»Ich lass sie ja. Und ich mach gleich mit.« Ich verschwieg wohlweislich, dass ich eine Gefahr in jeder Küche war. Nathalie ließ mich nicht mal ein Spiegelei braten, weil ich absolut ungeschickt war, wenn es ums Kochen ging.

»Und was mach ich solange ohne dich?« Oliver machte einen Schmollmund und brachte mich damit zum Lachen.

»Was würdest du machen, wenn ich nicht hier wäre?«

»An dich denken.«

»Dann geh jetzt in dein Zimmer und denk an mich.« Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss, schob ihn von mir weg und folgte Julia in die Küche.

* * *

»Was soll ich machen?«

Julia holte mehrere Dinge aus den Küchenschränken und breitete sie auf der Arbeitsplatte neben dem Herd aus. »Du kannst schon mal das Hackfleisch anbraten.«

Ich schluckte. Ob ich wollte oder nicht, ich musste ihr reinen Wein einschenken. »Ähm, ich bin nicht besonders geschickt mit Pfannen.« Oh ja, das klang intelligent. Und so überzeugend.

Julia hob eine Augenbraue, bevor sie mir eine Auflaufform in die Hand drückte. »Dann kannst du die ja schon mal einfetten.«

Das würde ich wohl hinkriegen. Motiviert ging ich zum Kühlschrank und holte die Butter raus. »Was gibt‘s denn?«

»Lasagne.«

»Oh, ich liebe Lasagne.«

Julia schaute kurz zu mir. Sie weinte.

Ich eilte zu ihr. »Was ist los?«

»Zwiebeln.«

Ich sah runter und bemerkte, dass sie gerade Zwiebeln in Würfel schnitt. Erleichtert rieb ich Julias Rücken.

Sie starrte mich an und zuckte zusammen. »Mist.« Sie hatte sich in den Finger geschnitten.

Ich nahm Julias Hand in meine und beäugte ihren linken Zeigefinger, der ziemlich blutete. »Halt ihn unter Wasser.« Ich rollte mit den Augen. Was für ein blöder Kommentar von mir. Julia war doch angehende Ärztin.

Aber sie folgte meinem Rat mit einem Schmunzeln. »Im Schrank ganz oben neben dem Kühlschrank ist ein schwarzer Plastikkasten. Da sind Pflaster drin.«

»Meinst du, das reicht?«

»Mal schauen.«

Ich wollte die oberste Schranktür aufmachen, war aber zu klein. Als ich ein Kichern hinter mir hörte, warf ich Julia einen strafenden Blick zu.

»Entschuldige, aber es sieht so witzig aus, wie du auf den Zehenspitzen hochspringst, um an die Schranktür zu kommen.«

Ich stemmte die Hände in die Hüften.

»Gib mir etwas Küchenpapier, dann hol ich es mir selber.«

Ich tat wie geheißen.

Julia umwickelte den verletzten Finger mit dem Papier und holte sich den Erste-Hilfe-Kasten. Nachdem sie das Küchenpapier abgewickelt hatte, entschied sie sich gegen ein Pflaster und legte einen kleinen Verband an. »Scarlett, kannst du bitte die Zwiebeln zu Ende schneiden?«

Ich nahm ein neues Messer aus der Schublade und stellte mich unsicher vors Schneidebrett.

»Was ist?«

Ich antwortete nicht und begann zu schneiden. Aber irgendwie wollten keine Würfel daraus werden. Und wenn doch, waren sie viel zu groß.

»Was machst du da?« Julia starrte ungläubig auf das Gemetzel auf dem Schneidebrett.

Mit tränenden Augen drehte ich mich um. »Ich muss es dir einfach sagen: Ich kann nicht kochen. Ich bin eine Katastrophe in der Küche. Ich werde alles ruinieren.«

Julia neigte den Kopf zur Seite und betrachtete mich stumm. Anschließend begann sie, erst zu grinsen und schließlich laut zu lachen.

Ich grummelte. Aber wer konnte bei diesem Lachen wirklich böse sein? Es klang nicht nur wie Musik, sondern war auch noch ansteckend und so stieg ich mit ein.

Julia trat dicht neben mich.

Was würde sie jetzt tun?

Zu meiner Überraschung nahm sie das Schneidebrett, öffnete den Mülleimer und kippte die Zwiebeln weg. Danach legte sie das Brett in die Spüle. »Wir lassen uns was kommen.«

Ich schaute zu Boden. »Es tut mir leid.«

Julia winkte ab. »Das ist kein Problem. Ich bin eh zu müde zum Kochen.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Aber bei der nächsten Gelegenheit bringe ich dir zumindest die Grundzüge des Kochens bei. Einverstanden?«

»Da bin ich skeptisch. Das haben schon andere versucht. Ich bin wirklich sehr ungesch…«

»Keine Widerrede.«

Wie konnte ich diesen leuchtenden Augen widerstehen? »Okay.« Stopp mal, leuchtenden Augen widerstehen? Was sollte denn dieser wirre Gedanke?

»Oooliver!«

Oliver tauchte binnen weniger Sekunden auf und schaute Julia fragend an.

»Wir haben gerade beschlossen zu bestellen. Hast du einen dieser Coupons?«

»Wohl doch keine Lust zu kochen, was?« Er glotzte auf den Verband. »Was ist mit deiner Hand passiert?«

»Nur ein kleiner Schnitt. Und jetzt los, ich hab nämlich Hunger.«

* * *

Wir bestellten uns eine Familienlasagne und aßen sie gemeinsam am Esstisch in der Küche.

»Scarlett kommt am Donnerstag mit uns.«

Julia sah erst ihn, danach mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Doch sie sagte nichts und aß weiter.

Manchmal hatte ich das Gefühl, zwei Julias zu kennen. Die eine wortkarg und schwer zu durchschauen und die andere voller Lebensfreude, lustig und offen. Gerade jetzt saß Erstere vor mir und starrte auf ihr Essen.

»Meinst du, ich sollte lieber nicht gehen?« Ich erwartete nicht, dass sie Ja sagte, aber ich wollte wissen, was in ihr vorging.

»Nein, nein. Meine Eltern werden sich freuen, dich kennenzulernen. Ich hab gerade an etwas Anderes gedacht.«

»Und an was?«, fragte ich.

Oliver sah zwischen uns hin und her wie bei einem Tennismatch.

»Die Arbeit.«

Ich konnte nicht sagen, warum, aber ich glaubte Julia nicht. »Und an was genau?«

Zusammengekniffene Augen starrten mich an. »Einen Patienten.«

Oliver berührte mich sanft am Arm. »Lass Julia am besten jetzt ausruhen.«

Mir passte dieses Bevormunden gar nicht, aber ich ließ die Sache dennoch auf sich beruhen. Eigentlich war es ja auch egal. »Ich werde wohl gleich nach Hause gehen. Ich habe Nathalie in den letzten Tagen so wenig gesehen. Sie erkennt mich wahrscheinlich bald schon gar nicht mehr.«

Oliver und Julia lächelten kurz, sagten aber nichts.

Die Stimmung war echt klasse.

Wenige Minuten später stand ich auf und gab Oliver einen langen Kuss auf den Mund. Anschließend küsste ich Julia auf die Wange und umarmte sie spontan.

Zögerlich erwiderte sie die Umarmung.

»Denk nicht so viel an die Arbeit. Du musst jetzt ausspannen«, sagte ich ihr ins Ohr und richtete mich wieder auf.

Sie sah mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an.

»Gute Nacht, ihr zwei.«

»Nacht, Scarlett«, sagten beide gleichzeitig.

* * *

Nathalie saß in der Küche und löffelte aus einem Nutellaglas. »Hallo, Fremde. Lange nicht gesehen. Wie geht‘s?«

»Kann nicht klagen«, sagte ich. »Und dir?«

»Alles wie immer. Komm, setz dich zu mir. Ich geb dir auch einen Löffel, wenn du willst.«

Ich nickte und setzte mich neben meine Mitbewohnerin.

Nathalie schaute auf ein kleines Foto von Daniel, das auf dem Tisch lag.

»Du und Daniel, ihr scheint euch gut zu verstehen.«

»Weißt du, ich habe das Gefühl, es könnte was Ernstes sein.«

Wow. Nathalie hatte bisher nie etwas Derartiges gesagt.

Nathalie wandte den Blick vom Foto ab. »Schau nicht so. Auch ich kann mich ernsthaft verlieben.« Sie stupste mich in die Seite. »Und du und Oliver? Wie läuft es mit euch?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ganz gut. Am Donnerstag komme ich mit zur silbernen Hochzeit seiner Eltern.«

»Klasse, ich bin auch da.« Sie zögerte, bevor sie sagte: »Du solltest allerdings die Finger vom Alkohol lassen. Nicht, dass dir wieder so etwas Charmantes wie bei Daniels Geburtstagsparty rausrutscht.«

Ich wollte ärgerlich mit Nathalie sein, aber sie hatte recht. Im Nachhinein fühlte ich mich blöd, so schlecht über Homosexuelle und insbesondere Julia gesprochen zu haben. Ich hatte es nicht böse gemeint, aber … Ach, keine Ahnung, in den letzten Wochen hatte ich begonnen, einiges anders zu sehen. Zumindest wenn es um Julia ging. »Keine Sorge. Du weißt doch, dass ich am Samstag etwas Zeit mit Julia verbracht habe.«

Nathalies Teelöffel glitt langsam aus ihrem Mund. »Wie war‘s eigentlich?«

»Es hat richtig Spaß gemacht.«

»Echt?«

»Jetzt tu mal nicht so überrascht. So schlimm bin ich auch nicht.«

»Das hab ich ja auch nicht gesagt. Aber ich dachte, du fändest Julia … wie hast du es so schön ausgedrückt … pervers. Und außerdem schienst du vor Kurzem ziemlich Angst vor ihr zu haben. Und nach dieser Sache mit Miriam in der Disco …«

»Julia hat mich beschützt. Auch wenn ich sie nicht verstehe, weiß ich doch, sie würde mich niemals belästigen. Und ich … ich mag sie.«

Nathalie hob beide Augenbrauen. Dann schlang sie einen Arm um meine Schultern. »Ich hab‘s gewusst. Du kommst doch noch über deine Vorurteile hinweg.«

Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen?

»Wie sieht‘s aus?«, fragte Nathalie. »Ich glaub ich hab Vanilleeis im Tiefkühlfach. Interessiert?«

Was für eine Frage.

* * *

Das Herz schlug mir bis zum Hals, als Olivers Eltern die Haustür öffneten.

»Mama, Papa, das ist meine Freundin, Scarlett Winter.«

Olivers Eltern schüttelten mir die Hand und lächelten.

Mir war schlecht. »Herr und Frau Liebknecht, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Und herzlichen Glückwunsch zur silbernen Hochzeit.«

Frau Liebknecht lächelte mich an. »Danke, Scarlett. Schön, dass Sie kommen konnten.«

Ich schlängelte mich vorbei an Grüppchen älterer Leute, die ich alle nicht kannte, und rettete mich zu Julia, Nathalie und Daniel in eine Ecke.

Obwohl wir uns erst zwei Stunden vorher gesehen hatten, begrüßte mich Nathalie mit einer dicken Umarmung. »Lass mich bloß nicht allein. Die sind hier alle todlangweilig.«

Ich kämpfte hart, nicht laut loszulachen.

Als Nathalie sich von mir löste, kam Daniel und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Schön, dass du hier bist.« Er beugte sich weiter vor und flüsterte mir ins Ohr: »Ich glaube, Nathalie langweilt sich fürchterlich.«

Ich grunzte. Irgendwie schaffte ich es, ihn halbwegs ernst anzusehen. »Wirklich?«

Er nickte.

Jetzt tauchte Julia auf. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug mit einer weißen Bluse. Ihre Haare waren in einem geflochtenen Zopf zusammengebunden.

Ich betrachtete sie. Wir hatten uns seit unserem kleinen Streit am Montagabend nicht mehr gesehen, und ich war immer noch unsicher bezüglich ihres Verhaltens beim Essen. War Julia meine Anwesenheit hier unangenehm? War ich ihr unangenehm?

Julia lächelte mich an und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

War jetzt wieder alles in Ordnung zwischen uns?

Oliver trat einen Schritt näher. »Möchtest du auch etwas trinken?«

»Sicher.«

»Sekt?«

»Lieber Apfelschorle.«

Oliver war kaum verschwunden, da wendete ich mich Julia zu, deren Blick durch den Raum voller Menschen wanderte. »Wie läuft‘s im Krankenhaus?«

Julia lächelte. »Ziemlich gut.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Sektglas. »Es ist vieles neu, aber ich habe das Gefühl, langsam in so etwas wie einen Rhythmus reinzukommen.«

»Das klingt toll«, sagte Nathalie.

Ich starrte sie an. Wie hatte ich nur vergessen können, dass sie auch noch hier war? »Macht es denn Spaß?«

»Es ist toll, mit Menschen zu arbeiten. Meistens ist so wenig Zeit für das Patientengespräch, obwohl das ja eigentlich am wichtigsten sein sollte.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Oliver, der gerade wieder auftauchte und mir ein Glas reichte.

Ich nahm einen Schluck und lächelte dankend.

Daniel, der einige Minuten verschwunden gewesen war, stellte sich jetzt neben Nathalie. »Ich habe mal nachgedacht. Was haltet ihr davon, wenn wir für eine Woche zum Strandhaus meiner Eltern nach Sylt fahren? Also wir zwei Pärchen.« Er schaute zu Julia, dann wieder zu uns. »Julia muss ja arbeiten.«

Julias Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Sie sagte nichts und nahm einen Schluck.

Ich runzelte die Stirn. »Hm. Ich liebe das Meer, aber das Wetter jetzt im März ist ja nicht so gut.«

»Das Haus hat einen Kamin auf jeder Etage und wir könnten es uns richtig gemütlich machen.« Daniel grinste. »Außerdem kann man sich ja dick einpacken, wenn man zum Strand geht.«

»Ich finde die Idee klasse«, sagte Oliver.

Mir kam das Ganze ziemlich geplant vor. Und natürlich war Oliver Feuer und Flamme. Was für ein Zufall. Aber andererseits war es auch keine schlechte Idee. »Was meinst du, Nathalie?«

»Warum eigentlich nicht?«, sagte sie. »Wann geht‘s los?«

»Samstag?«

Nathalie und ich sahen Daniel erstaunt an.

»Schon übermorgen?« Kurzfristiger ging es ja kaum.

»Klar. Warum nicht?«

Oliver hatte recht. Warum eigentlich nicht?

»Okay«, sagten Nathalie und ich gleichzeitig und grinsten einander an.

Daniel und Oliver strahlten um die Wette.

Julia sagte nichts und betrachtete stattdessen ihr Sektglas.

* * *

»Wow.« Nathalie schaute sich mit großen Augen im riesigen Wohnzimmer des Strandhauses um. Sie nahm mir das Wort aus dem Mund.

Ich sah mich um. »Wer schläft denn wo?«

»Nathalie und ich schlafen oben und du und Oliver in einem der beiden unteren. Irgendwelche Einwände?«

Oliver und ich schüttelten die Köpfe.

Daniel entzündete ein Feuer im Kamin und Oliver verstaute die mitgebrachten Lebensmittel in der Küche.

Nathalie und ich gelangten unterdessen durch die Glastür auf die Terrasse.

Der Sternenhimmel und das Meeresrauschen waren einfach der Hammer.

»Hier lässt es sich aushalten«, sagte Nathalie.

Ich nickte.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Scarlett? Du bist so still.«

»Ach, es ist nichts. Wirklich.«

Nathalie starrte mich an. »Jetzt weiß ich mit Sicherheit, dass etwas nicht in Ordnung ist. Schieß los.«

Ich sah sie einen langen Augenblick stumm an. »Ich … ich weiß nicht, wie ich Oliver sagen soll …« Ich ließ meinen Atem langsam entweichen. »Ich will noch warten.«

Nathalies Gesichtszüge wurden sanfter. »Du meinst, ihr habt noch nicht?«

»Ich bin nun mal nicht wie du.«

»Dann sag ihm das. Also nicht das mit mir. Du weißt, was ich meine.«

Ich musste grinsen. Nathalie schaffte es doch immer wieder, mich aufzuheitern. »Ich hab Angst, er versteht es nicht oder ist enttäuscht.«

Nathalie legte den Arm um meine Taille. »Keine Sorge. Er wird es verstehen. Sag ihm, wie du fühlst, und alles ist gut.«

In diesem Moment tauchte Daniel auf. »Es ist kalt hier draußen. Kommt doch wieder rein. Dann können wir vorm Kamin kuscheln.«

Nathalie gab Daniel einen Kuss. »Wie könnte ich da Nein sagen?«

»Ich bleib einen Moment länger hier draußen.«

Nathalie nickte und gab mir einen feuchten Schmatzer auf die Wange.

Ich lächelte und schaute aufs dunkle Meer hinaus.

Als die Glastür erneut aufging, wusste ich sofort, wer es war.

»Oliver, kann ich mal eben mit dir sprechen?«

»Sicher.«

Ich blickte über meine Schulter und sah, wie Oliver die Tür hinter sich schloss.

Dann umarmte er mich von hinten.

Ich genoss die Wärme und lehnte mich an ihn. »Fändest du es sehr schlimm, wenn ich dir sagen würde, dass ich warten möchte?«

»Warten? Worauf?«

Ich drehte mich in seiner Umarmung und sah ihm tief in die Augen. »Ich bin nicht frigide oder so, aber ich bin auch nicht jemand, der schon nach kurzer Zeit mit jemandem in die Kiste hüpft.« Gott, was für eine lahme Ansprache.

»Du sprichst von Sex?«

Hatte ich mich so unklar ausgedrückt? »Ja.«

Zu meiner Überraschung küsste mich Oliver und der Kuss war alles andere als schüchtern. Danach betrachtete er mich ernst. »Solange ich dich so küssen darf, warte ich so lange du willst. Möchtest du alleine schlafen?«

»Nein, mit dir ist okay«, sagte ich.

Wir lächelten einander an.

Jetzt, wo das geklärt war, fühlte ich mich befreit, und wir gingen wieder rein, um vorm Kamin zu schmusen.

* * *

Oliver und ich gingen nach dem gemeinsamen Frühstück mit Daniel und Nathalie mehrere Stunden am Strand spazieren.

Ein strammer Wind peitschte die Wellen in die Höhe und die weiße Gischt bildete einen extremen Kontrast zum grau-grünen Meer. Ich genoss es sehr, mit Oliver Hand in Hand die Wellen zu betrachten und über alles und nichts zu reden. Wir waren schon fast wieder am Haus, als mir etwas einfiel. »Ich glaube, Julia war ziemlich traurig, nicht mit uns kommen zu können.«

»Meinst du?«

Ich nickte.

»Sie hätte sich wahrscheinlich eh wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt«, sagte Oliver. »Wenn sie eine Freundin hätte, wäre das anders, aber ich glaube, bevor sie eine Freundin findet, bin ich schon verheiratet und hab drei Kinder.«

»Warum sagst du das?«

»Diese Miriam, das Mädel, das dich angemacht hat, war die erste Verabredung seit mehreren Monaten und Julia wollte nicht mal mit ihr ausgehen.«

»Wieso hat sie es dann getan?«

»Miriam hat sie gefragt und ich hab ihr gesagt, es kann nicht schaden. Weißt du, Julia ist zwar lesbisch, aber sie schaut nur selten Frauen an, wenn du weißt, was ich meine.«

Nein, eigentlich nicht. »Ich verstehe nicht.«

»Na ja, sie ist ziemlich zurückhaltend.« Er gestikulierte mit beiden Händen. »Ihre Ex … Silke, hätte sie Julia nicht so umgarnt, die beiden wären wahrscheinlich nie zusammengekommen. Ich glaube, meine liebe Schwester ist, wenn es um Liebe und Sex geht, ziemlich schüchtern.«

Schüchterne Homosexuelle? Mein bisheriges Bild schien vollkommen falsch zu sein. Obwohl … »Ist es Schüchternheit oder ist sie sich vielleicht doch nicht sicher, ob sie wirklich …?«

»Nein, nein. Sie ist so lesbisch, wie ich hetero bin. Aber sie gehört halt nicht zu den Menschen, die ständig auf der Suche sind. Sie war immer ein ziemlicher Einzelgänger, und ich denke, sie glaubt einfach nicht daran, dass die Richtige für sie da draußen ist.«

Erstaunlicherweise konnte ich das sehr gut verstehen. Ich hatte zwar immer diesen Drang, einen Freund zu haben, aber ich glaubte nicht wirklich, dass sie die Richtigen waren. Auch bei Oliver konnte ich es mir nicht vorstellen. »Ich denke, ich verstehe.«

* * *

Es war unglaublich, wie schnell die Woche verging. Nathalie und Daniel verbrachten die meiste Zeit oben in ihrem Zimmer und Oliver und ich gingen sehr viel spazieren.

Nicht selten stand ich auch allein am Strand und schaute aufs Meer hinaus. Wenn ich die Wellen betrachtete und der Wind mir ins Gesicht blies, fühlte ich mich im Einklang mit mir selbst. Normalerweise waren da immer Unsicherheiten. Mein ganzes Leben fühlte sich irgendwie falsch an. So als würde man mit dem Auto irgendwo hinfahren, und obwohl die Karte einem sagte, dass man auf dem richtigen Weg war, fühlte es sich vollkommen falsch an. Doch hier und jetzt gab es nur mich und das Meer. Keine Erwartungen, die ich zu erfüllen hatte, und keine Entscheidungen, die ich treffen musste. Ich war einfach … Scarlett.

Als wir wieder nach Hause fuhren, schaute ich aus dem Fenster und sah, wie das Meer aus meinem Blickfeld verschwand. Ich nahm mir vor, zukünftig öfter ans Meer zu fahren.