Kapitel 18
»Das ist es«, rief ich und zog Nathalie näher, damit sie die Ausstellware im Schaufenster des Juweliers besser sehen konnte.
»Hä?«
Ich rollte mit den Augen und zeigte auf einen Anhänger. »Das ist es.«
»Das ist was?«, fragte Nathalie.
»Julias Weihnachtsgeschenk.« Ich strahlte Nathalie an. »Meinst du nicht, es ist perfekt?«
Nathalie starrte auf den Anhänger. »Es ist erst Oktober.« Sie schaute mich an. »Bist du nicht etwas früh dran?«
»Besser zu früh als zu spät«, sagte ich. »Komm schon, lass uns reingehen.« Ich zerrte sie ins Geschäft.
»Du willst Julia wirklich Schmuck schenken?«, fragte Nathalie, während sie mir zum Verkaufstresen folgte.
Ich ignorierte den lächelnden Angestellten und betrachtete Nathalie. Hoffentlich ging die alte Leier jetzt nicht schon wieder los. »Ja, wieso?« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich zum Verkäufer um. »Der rechteckige Anhänger, ist der aus Silber?«
»Ja. 925er Silber«, sagte der Angestellte.
»Sehr gut. Ich nehm ihn und … kann ich auch was eingravieren lassen?«
Nathalie hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.
»Du und ich haben eine Weile Freundschaftsringe getragen«, sagte ich. »Da hat sich auch niemand was bei gedacht.« Warum konnte Nathalie es nicht endlich mal gut sein lassen? »Ein Anhänger ist etwas absolut …«
»Was möchten Sie denn eingraviert haben?«, unterbrach mich der Verkäufer mit dem Anhänger in der Hand.
Ich tippte mit dem Finger ans Kinn. Was würde passen? Hm … »Ich hab‘s. Schreiben Sie auf die Vorderseite ›Diagnose Freundschaft‹. Und auf die Rückseite ›Julia und Scarlett‹.« Ich wandte mich Nathalie zu. »Was meinst du? Klingt das gut?«
Nathalie winkte ab. »Ich geb auf.«
Ich schüttelte den Kopf und gab dem Verkäufer ein paar Geldscheine.
Beim Verlassen des Ladens sagte Nathalie: »Das war nicht gerade billig.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Seit zwei Wochen arbeite ich jetzt im ›Limericks‹. Allein vom Trinkgeld vom vergangenen Wochenende kann ich den Anhänger bezahlen.«
»Was sagt eigentlich Julia zu deinem neuen Job im Irish Pub?«, fragte Nathalie.
Ich grinste. »Sie sagt, ich stinke nach der Arbeit immer wie eine ganze Brauerei. Aber sie weiß ja, ich brauche das Geld. Außerdem gibt sie mir nach langen Schichten manchm…« Oh verdammt. Warum war mir das denn nun wieder rausgerutscht? Wasser auf die Mühlen.
Nathalie hob beide Augenbrauen. »Was gibt sie dir?«
Ihr Grinsen gefiel mir gar nicht. »Ach, nichts«, murmelte ich und ging etwas schneller.
Zügig schloss Nathalie zu mir auf. »Komm, sag schon. Ich verspreche auch, keine dummen Kommentare zu bringen.« Sie hob zwei Finger. »Großes Indianerehrenwort.«
Das glaubte sie doch wohl selber nicht. Mist, warum hatte ich bloß wieder drauflosgeplappert, ohne nachzudenken? Ach, egal. »Manchmal gibt Julia mir eine Fußmassage.« Ich wedelte mit der Hand und tat so, als würde ich den Inhalt des Schaufensters vor uns wahnsinnig interessant finden. Bis mir bewusst wurde, dass ich vor der aktuellen Dildokollektion von Beate Uhse stand.
Nathalie folgte meinem Blick und öffnete den Mund. Doch es kam nichts heraus.
Ich ergriff die Flucht. Gott, wie peinlich. Als ich nach einigen Schritten Nathalie neben mir vermisste, drehte ich mich um.
Meine Freundin betrachtete ganz interessiert einen Gegenstand in einer Ecke des Schaufensters.
Wollte ich wirklich wissen, was sie da so interessierte?
Nathalie wendete sich mir zu. »Hat einer deiner Freunde schon mal ‘nen Cockring ausprobiert?«
* * *
Julia hob den Deckel von einem der beiden Töpfe auf dem Herd. »Mmh, was gibt‘s? Spaghetti Bolognese?«
Ich nickte. »Wie war‘s im Krankenhaus? Gab‘s irgendwas Aufregendes? Du kommst spät.«
Julia probierte mit einem kleinen Löffel die Soße. »Die ist klasse. Du kochst mittlerweile richtig gut, weißt du das?«
Ich strahlte von einem Ohr zum anderen und tätschelte ihren Arm.
Julia setzte den Deckel wieder auf den Topf. »Ich hab heute den Papierkram nachgeholt, der in den letzten Wochen liegen geblieben war.« Sie lehnte sich gegen die Arbeitsplatte neben den Herd. »Manchmal fühle ich mich mehr wie eine Sekretärin als wie eine Ärztin.«
»Eine nach ihrem praktischen Jahr aber verdammt gut bezahlte Sekretärin.« Julia öffnete den Mund, doch ich kam ihr zuvor. »Setz dich hin, ich hab Hunger.«
Julia schmunzelte und nahm am Küchentisch Platz.
Wir aßen einige Augenblicke in Stille, dann sagte Julia: »Hast du gesehen? Es hat heute noch mal geschneit.«
Wirklich? Ich hatte den ganzen Tag gelernt und gar nicht aus dem Fenster geschaut. Es war zwar mittlerweile Ende November, aber trotzdem war ich immer wieder überrascht, wie winterlich es draußen schon war. »Echt?«
Julia nickte. »Sollen wir nach dem Essen eine Schneeballschlacht im Park machen?«
Ich sah Julia erstaunt an. »Ehrlich?«
Ihr Kopf wippte auf und ab. »Warum nicht?«
Ich grinste. »Hau rein. Wir haben eine Schlacht auszufechten.«
* * *
»Attacke«, rief Julia hinter mir.
Beim Umdrehen bekam ich den ersten Schneeball ins Gesicht. »Unfair«, kreischte ich und beugte mich hastig runter, um einen eigenen Ball zu formen.
Julia rannte auf mich zu und ich ergriff die Flucht.
Mit ihren längeren Beinen würde sie mich im Nu einholen. Da half nur eine rasche Verteidigung. Ich wirbelte herum und warf meinen Schneeball.
Doch Julia schaffte es rechtzeitig, sich zu ducken. »Daneben.« Perfekte weiße Zähne kamen zum Vorschein.
Ich formte einen neuen Ball, bekam jedoch währenddessen schon den nächsten von Julia ab.
Sie kam schnell näher.
Ich warf noch einen Ball zur Verteidigung, dann wurde ich von Julia überrannt. Ich landete im Schnee und sie auf mir.
Wir lachten.
Julia drückte meine Arme runter. »Ergib dich«, sagte sie außer Atem.
Ich schnappte nach Luft und schüttelte den Kopf. »Niemals.«
Sie ließ meine Arme los und nahm eine Handvoll Schnee.
Wollte sie mich einseifen? Ohne mich. Ich wandte mich, fuchtelte wild mit den Armen und landete irgendwie auf ihr. Enthusiastisch nahm ich zwei Hände voll Schnee und rieb sie in Julias Gesicht.
»Genug! Genug!«, rief sie.
Ich bekam ihre Arme zu fassen und drückte sie runter. »Sag es.«
Julia schüttelte den Kopf.
Ich lehnte mich über sie, bis sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Mein Herz trommelte gegen den Brustkorb. »Sag es«, wiederholte ich außer Atem und doch fast flüsternd.
»Du hast gewonnen«, hauchte Julia.
Es war, als ob ich sie in diesem Moment zum ersten Mal sehen würde. Tiefblaue Augen, die aufzublitzen schienen, kräftige und doch sanft wirkende Wangenknochen und volle Lippen, die … Was zur Hölle war hier los? Ich ließ so schnell von Julia ab, als ob ich mich verbrannt hätte. Ruckartig stand ich auf. Danach half ich Julia hoch. Kaum stand sie, zog ich meine Hand wieder weg.
Mir war schlecht. Ob ich was ausbrütete? Ja, vermutlich hatte ich etwas Fieber und deshalb so wirre Gedanken. »Es ist schon ganz dunkel. Lass uns nach Hause gehen«, murmelte ich. Am besten nahm ich zu Hause ein heißes Bad und mümmelte mich im Bett ein. Was immer sich da ankündigte, würde dann vielleicht nicht so schlimm werden.
* * *
Am Mittag des vierundzwanzigsten Dezember standen meine Mutter und ich in der Küche. Es war mal wieder Zeit, unseren Weihnachtskuchen frisch zuzubereiten.
Aber diesmal würde ich mithelfen. Motiviert holte ich einige Zutaten aus den Regalen und schlängelte mich am aufgeregt hin- und herlaufenden Popeye vorbei.
»Woher weißt du, was ich brauche?«, fragte meine Mutter und beobachtete, wie ich selbstsicher alles bereitstellte.
»Julia und ich haben dir jetzt schon mehrfach gesagt, dass sie mir kochen beibringt.« Hörte Mama mir überhaupt zu, wenn ich was erzählte? »Und was denkst du? Backen natürlich auch. Ich sage nicht, ich bin so gut wie sie, aber ich glaube, meine Fähigkeiten in der Küche sind mittlerweile ganz passabel.«
Als wollte er zustimmen, kläffte Popeye, bevor er zu Mama wanderte. Vermutlich um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen, da ich ja gerade mit den Zutaten hantierte.
Meine Mutter verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete mich skeptisch.
Ich grinste. »Außerdem liegt auf der Arbeitsplatte die Zutatenliste.«
Mama setzte sich an den Esstisch und begann, Popeye zu streicheln. »Du glaubst also, du kannst den Kuchen alleine backen?«
Ich nickte.
»Dann mach mal.«
»Danke fürs Vertrauen«, sagte ich lachend und machte mich an die Arbeit.
»Julia hat dir eine Menge beigebracht, was?«
Ich blickte auf und nickte.
»Sie ist heute bei ihrer Familie?«
»Ja. Oliver ist Gott sei Dank mit seiner neuen Flamme Regina im Tunesienurlaub. Wer weiß, was sonst heute da los gewesen wäre.« Ich lächelte. »Und morgen bin ich bei Julias Familie zum Essen eingeladen.« Beim Umdrehen, um das Handrührgerät vom Küchentisch zu nehmen, sah ich zwei hochgezogene Augenbrauen.
»Zu einem Familienessen?«
»Ja, zum Familienessen.« Ich legte den Mixer auf der Arbeitsplatte neben der Schüssel ab. »Es war eine nette Geste, mich einzuladen, also habe ich zugesagt.«
Meine Mutter betrachtete ihre Hände und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf.
Das war doch wieder mal klar. So was musste doch kommen. Ich entschied mich zur Abwechslung mal für den direkten Weg. »Ist das ein Problem für dich?«
»Nein. Wieso sollte ich damit ein Problem haben?«
Dachte sie etwa, ich würde ihr das glauben? »Mama, sprich mit mir.«
»Was soll ich dir sagen, Kind?« Meine Mutter schaute aus dem Fenster. »Kümmer dich lieber um den Kuchen.«
Ich nickte und schüttete Mehl in die Schüssel auf der Waage. »Weißt du, ich habe keine Lust mehr, jedem immer wieder zu sagen, dass Julia und ich bloß Freundinnen sind.«
Meine Mutter musterte mich eindringlich. »Aber nicht von ihrer Seite.«
Mein Blick schnappte zu Mama. Mir konnte sie nichts andichten, also nahm sie jetzt Julia ins Visier? Mir fehlten die Worte. Das war einfach lächerlich. Schweigend wandte ich mich wieder meiner Arbeit zu.
»Du weißt es, stimmt‘s?«
Ich wirbelte herum und stemmte die Hände in die Hüften. »Mama, wovon redest du?«
Popeye löste sich von meiner Mutter und tapste aus der Küche.
Hatte ich ihn mit meiner Lautstärke verschreckt?
»Sie sieht dich vollkommen verliebt an. Kind, lass dich da nicht in etwas verwickeln.« Mama ließ den Atem laut entweichen und schüttelte mal wieder den Kopf. »Da wird nichts Gutes bei rauskommen.«
Ich hatte wirklich gedacht, meine Mutter wäre nicht so extrem wie Papa. »So ein Quatsch. Nur weil sie lesbisch ist, heißt das nicht, dass sie sich in jede Frau verliebt.« Schwungvoll schlug ich ein Ei an der Schüssel auf. »Und was soll der Schwachsinn mit sich in etwas verwickeln lassen?« Ich atmete einmal tief ein und wieder aus, in der Hoffnung, das würde mich beruhigen. Zu meiner Überraschung half es tatsächlich. »Sollen wir jetzt über mögliche Gefühle meiner Mitbewohnerin sprechen oder über was Anderes?«
»Gut.« Meine Mutter schürzte die Lippen. »Reden wir über deine Gefühle.«
Ich rollte mit den Augen. Am liebsten wäre ich jetzt rausgestürmt. Es war nervig. Warum unterstellte sie mir bloß so was? »Ich hab sie sehr lieb. Als Freundin. Mehr ist da nicht.« Etwas ungeschickt fischte ich ein Stück Eierschale aus der Schüssel.
»Sehr lieb«, wiederholte meine Mutter kaum hörbar.
»Mama, bitte, lass uns das Thema wechseln.«
Mein Appell hatte wohl was gebracht, denn sie stoppte ihre Verdächtigungen bezüglich mir und Julia.
Die nächsten Minuten sprachen wir über Tante Ediths Knieoperation. Nicht wirklich interessant, aber wenigstens lenkte es von dem scheinbar allgegenwärtigen Thema ab.
* * *
Als der Kuchen im Ofen war und ich aufgeräumt hatte, gingen meine Mutter und ich mit der Eieruhr in der Hand ins Wohnzimmer.
Wir nahmen beide auf der Couch Platz.
Von Popeye war weit und breit keine Spur.
Meine Mutter war ungewöhnlich still. Hoffentlich plante sie nicht die nächste Runde des scheinbar in der letzten Zeit populär gewordenen Gesellschaftsspiels »Dichte Julia und Scarlett eine Beziehung an«.
»Weißt du, Scarlett«, sagte sie nach einer Weile mit leiser Stimme. »Es gibt da etwas, von dem bloß vier Menschen außer mir wissen. Zwei andere, die die Wahrheit kannten, sind tot. Einer von diesen Menschen war dein Vater.«
Was sie sagte, machte mich neugierig, aber gleichzeitig beschlich mich das Gefühl, dass ich nicht hören wollte, was meine Mutter zu sagen hatte.
»Bei der Hochzeit mit deinem Vater war ich zweiundzwanzig.«
Ich nickte. Das war nichts Neues.
»Was du nicht weißt, ist, … ich hatte eine andere Beziehung, bevor ich seine Frau wurde.«
Wow, das war mehr, als ich über das Liebesleben meiner Mutter je wissen wollte. Definitiv. »Mama, warum erzählst du mir das?« Oh Gott … war ich ein Kuckuckskind?
»Hör einfach zu, mein Engel.« Meine Mutter holte tief Luft und begann zu erzählen: »Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag lernten wir uns kennen. Erst waren wir nur befreundet. Aber nach etwa einem Jahr wurde mehr daraus.« Mama starrte auf den Teppich. »Wir waren so verliebt. Jede freie Minute verbrachten wir zusammen. Doch niemand durfte von unseren Gefühlen füreinander erfahren. Unsere Eltern hätten es niemals verstanden.«
Klang wie Romeo und Julia. Total romantisch.
Meine Mutter lächelte flüchtig. »Trotz des ständigen Versteckspiels hatten wir zwei wundervolle Jahre miteinander.« Ihr Gesichtsausdruck erstarrte. »Dann kam alles raus. Wir durften uns nicht mehr sehen, und ich wurde in eine andere Stadt geschickt, um bei Onkel Friedhelm als Sekretärin in seinem Betrieb zu arbeiten.«
Was konnte denn an diesem Mann so falsch gewesen sein? Meine Großeltern mussten doch gesehen haben, dass ihre Tochter glücklich war. Und wie hatte Mama meinen Vater kennengelernt? »Hast du Papa bei deiner Arbeit kennengelernt?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Nach einem Jahr durfte ich wieder zurückkehren. Aber alles hatte sich verändert.« Ihre Lippen zitterten. Sie schluckte und schaute mich mit traurigen Augen an. »Wir waren beide immer noch ineinander verliebt. Doch es spielte keine Rolle mehr.«
»Warum?« Ich hatte auf einmal ein richtig ungutes Gefühl.
Mama biss sich auf die Unterlippe. »Der Name meiner großen Liebe war Maria.«
Maria? Das Echo dieses Namens hallte in meinem Verstand und hinterließ vollkommene Leere.
»Ihre Eltern hatten sie in eine Ehe mit einem Mann aus der Nachbarschaft gezwungen, und meine Eltern, deine Großeltern, sagten, sie würden dasselbe mit mir tun, wenn ich nicht selbst bald einen Mann für mich finden würde. Es waren damals andere Zeiten. Und so begann ich, mit deinem Vater auszugehen. Er ahnte nichts von all dem. Bis …«
Gott, noch mehr? Was jetzt?
»Ich und Maria sahen uns ein letztes Mal. Sie hatte einige Tage vorher von ihrer …« Meine Mutter senkte den Blick. Nach einigen Momenten schaute sie wieder auf. »Sie war schwanger. Maria war so unglücklich. Immer wieder sagte sie mir, wie sehr sie mich lieben würde und dass sie das alles nicht aushalten könne. Wir … verbrachten die Nacht miteinander. Meine Eltern waren über das Wochenende nicht da, und Maria hatte ihrem Mann gesagt, sie würde bei einer Freundin übernachten.« Mama schluckte. »Womit niemand rechnen konnte, war, … meine Eltern kamen früher wieder nach Hause. Und als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, kam dein Vater zum selben Zeitpunkt vorbei, um mich zu überraschen. Wir hörten sie nicht. Wir waren«, Mama wich meinem Blick aus, »im Bett. Die Zimmertür ging auf und …« Tränen glänzten in ihren Augen, als sie mich ansah. »Dein Vater fand uns. Durch sein Geschrei kamen meine Eltern ins Zimmer gestürmt.« Mamas Schluchzen durchdrang die plötzliche Stille.
Was sollte ich jetzt tun?
Was für eine Frage. Ich rückte näher und umarmte sie.
Popeye tauchte auf und schleckte an einer von Mamas Händen.
»Maria zog sich an und verschwand hastig. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah.« Meine Mutter schaute mich mit aufgequollenen roten Augen an. »Sie warf sich am selben Abend vor einen Zug.«
Oh Gott.
»Unsere Eltern sagten, es sei alles meine Schuld. Es sei falsch gewesen und Maria habe das gewusst. Deshalb habe sie dem Unrecht ein Ende gesetzt. Sie sagten, es sei für mich noch nicht zu spät. Ich müsse nur diesen kranken Ideen abschwören, dann würde alles gut werden. Einen Monat später fand die Hochzeit mit deinem Vater statt. Kurz darauf wurde ich schwanger und bekam dich.«
So viele Gedanken rasten mir durch den Kopf. So viele Fragen, deren Antworten ich wissen wollte, wissen musste. Doch der Eierwecker klingelte. Wie betäubt stand ich auf und taumelte in die Küche.
Zurück im Wohnzimmer sah ich meine Mutter wie angewurzelt auf der Couch sitzen. Ihr liefen stumme Tränen übers Gesicht. Ich nahm wieder neben ihr Platz. »Mama?«
Sie hob den Kopf, mied jedoch meinen Blick.
»Hast du Papa jemals geliebt?«
Meine Mutter fiel mir weinend in die Arme.
Ich zuckte zusammen, hielt sie jedoch fest. Meine Frage war beantwortet.
Nach einer Weile hörte Mama auf zu weinen und ich löste mich etwas von ihr. Mein Herz raste wie verrückt und der riesengroße Kloß im Hals machte es mir schwer zu sprechen. »Bist du … heißt das, du bist eigentlich lesbisch?«
»Ich weiß es nicht.« Mama schloss kurz die Augen. »Aber ich weiß, dass ich für viele Jahre wünschte, mit Maria an diesem Tag gestorben zu sein. Sie war mein Leben. Als sie vor … vor den Zug sprang, starb auch ein Teil von mir.«
Ich weinte mittlerweile auch. »Oh, Mama …«
Wir hielten einander für eine ganze Weile. Anschließend schnäuzte sich meine Mutter und ich folgte ihrem Beispiel.
Irgendwann gingen wir in die Küche, um den Kuchen zu probieren.
Ich war froh, etwas so Banales zu tun. Der Kuchen war noch heiß, doch ich schnitt trotzdem schon ein Stück ab und gab es meiner Mutter.
Mamas Hand zitterte, als sie mit einer Gabel ein Stück abtrennte und mit skeptischem Blick probierte. Dann schaute sie mich erstaunt an.
Ich musste mich zwingen, mich nicht von Mamas tränenüberströmtem Gesicht abzuwenden. Wie hatte ich bloß niemals sehen können, was für eine starke Frau sie war?
Popeye kam schwanzwedelnd angelaufen und lugte nach oben. Dabei wusste er doch, dass Kuchen für ihn tabu war.
»Er schmeckt hervorragend«, sagte Mama. »Aber du hast da noch irgendwas Anderes reingetan, als in dem Rezept steht.« Sie nahm einen weiteren Bissen. »Zimt?«
Ich grinste. »Und etwas mehr Vanillinzucker. Ich dachte, es würde gut schmecken.«
Meine Mutter nickte, und ich lächelte.
Das erste Mal, nachdem ich das wohl größte Geheimnis meiner Familie erfahren hatte.