Kapitel 17

Julia hakte sich bei Daniel ein, während Nathalie und ich die Schuhe auszogen und mit den Füßen im Wasser liefen.

»Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie es bei deiner Mutter gelaufen ist«, sagte Nathalie nach einer Weile.

»Ganz gut, schätze ich. Nur zwischendurch hatte ich das Gefühl, dass …«

Nathalie sah auf. »Dass was?«

»Ich hatte zwischendurch das Gefühl, sie würde auch denken, ich und Julia …« Frustriert ließ ich meinen Atem entweichen. »Warum denken bloß alle, wir wären mehr als nur Freundinnen? Ist es, weil Julia lesbisch ist?«

Nathalie grinste. »Glaub ich nicht.«

Ich runzelte die Stirn. »Nicht? Was ist es dann?« Das ergab keinen Sinn.

Nathalie wirbelte mit einem Fuß etwas Sand im Wasser auf. »Es ist zum Beispiel die Art, wie du und Julia einander anseht«, sagte sie zögerlich. »Und wie ihr miteinander umgeht.«

»Was meinst du?« Ich blieb stehen. »Wie sehen wir einander an? Und wie gehen wir miteinander um?«

»Wo soll ich da anfangen?« Nathalie betrachtete ihre Füße und schaute anschließend wieder zu mir. »Ihr habt beide so ein Leuchten in den Augen, wenn ihr einander anseht. Wenn du von Julia sprichst, hellt sich dein ganzes Gesicht auf.«

Ich öffnete den Mund, um zu sagen, dass ich in den vergangenen Monaten, wie immer in den Sommermonaten, Allergien hatte und meine Augen deshalb ständig glasig oder glänzend waren. Von einem Leuchten konnte keine Rede sein. Und natürlich hellte sich mein Gesicht auf, wenn ich von ihr sprach. Sie war meine beste Freundin. Bei Nathalie ging es mir doch sicher nicht anders.

Doch Nathalie hob die Hand. »Dann ist da die Sache mit der Nähe. Ihr haltet oft Händchen oder lehnt euch aneinander an. Und manchmal beendet die eine sogar den Satz der anderen.«

Hatte sie recht? Keine Ahnung, was unsere Blicke betraf. Wir sahen einander an wie jeder andere auch. Und ja, manchmal ergriff ich kurz Julias Hand oder sie meine. Aber Händchenhalten war das nun wirklich nicht. Und wenn eine von uns den Kopf auf die Schulter der anderen legte, taten wir nichts, was andere gute Freundinnen nicht auch taten. Vielleicht machten es Nathalie und ich nicht ganz so häufig wie ich und Julia, aber eine Strichliste darüber führte ich nicht. »Du übertreibst. Man kann sich auch was einreden.«

Nathalie berührte mich am Arm. »Scarlett, ich sage das alles doch nicht, um zu sticheln oder dich unter Druck zu setzen.«

Ich atmete langsam aus. Das hatte ich auch nicht gedacht. Aber warum fing sie immer wieder damit an?

»Es ist nur …« Nathalie seufzte und schaute aufs Meer hinaus, als ob dort das Ende ihres Satzes wartete. Irgendwann sah sie mich wieder an. »Das mit euch hat Potenzial, weißt du? Verschließ deine Augen nicht vor etwas, das dich glücklich machen könnte.«

Ich drehte mich von Nathalie weg. Hatte sie nicht mehr alle? Mein Blick war zum Meer hin gewandt, aber ich konnte seine Schönheit nicht bewundern. Warum sagte Nathalie so was? Und warum dachte sie, ich sei unglücklich? Ich wirbelte zu ihr herum. »Ich bin glücklich. Was soll denn da für Potenzial sein? Ich bin nicht so an Julia interessiert. Bitte, Nathalie, hör auf. Wir sind Freundinnen. Sonst nichts.« Ich kämpfte mittlerweile gegen Tränen an. Was hatten bloß alle? »Ich möchte allein sein.«

Bevor ich auch nur einen Schritt tun konnte, hielt mich Nathalie am Arm fest. »Scarlett, bitte glaub mir, ich …«

Ich riss mich los. »Lass es gut sein.« Mit diesen Worten ließ ich Nathalie stehen und stiefelte zu den Dünen.

Dort setzte ich mich in den heißen Sand. Der Wind blies mir ins Gesicht und ich schloss die Augen. Wieso wurden Julia und ich von allen Seiten missverstanden? Ich hätte es ja vorher selbst nicht geglaubt, dass es möglich war, mit einer lesbischen Frau eine derart gute Freundschaft zu haben, aber so war es jetzt nun mal. Sie bedeutete mir sehr viel. Und das hatte nichts mit Sex oder so zu tun. Es war lediglich eine tiefe Freundschaft.

»Bist du okay?«

Ich öffnete die Augen und blickte in Julias Gesicht. »Ehrlich gesagt, nein.«

Julia ließ sich neben mir in den Sand sinken, sagte aber nichts.

Ich griff ins Dünengras hinter mir und brach einen Halm ab. Damit zeichnete ich kleine Kreise in den Sand. Warum war das Leben nur so kompliziert? Vor einigen Monaten war alles viel einfacher gewesen. Mein Blick wanderte zu Julia, die aufs Meer hinausschaute. »Was denkst du?«

Julia drehte sich zu mir. »Was?«

Ich lächelte und tippte mit dem Grashalm Julias Nasenspitze an. »Was du denkst.«

Julia grinste und rubbelte sich die Nase.

Ich kicherte. Nach einigen Momenten wurde ich wieder ernst. »Hm?«

Julia zog die Knie hoch und lehnte ihre Ellbogen darauf. »Manchmal scheint mir alles so … surreal.« Sie sah mir tief in die Augen. »Weißt du, was ich meine?«

Erstaunlicherweise ja. Ich nickte. »Es ist viel passiert, und manches macht einfach keinen Sinn.«

»Genau«, flüsterte Julia.

Meine Mundwinkel zuckten, formten aber kein wirkliches Lächeln. Wie kam es, dass Julia immer Ähnliches zu fühlen schien? Ich lehnte den Kopf an ihre Schulter und schloss die Augen. Die Welt mit all ihren Zweifeln und Problemen konnte warten.

* * *

Etwa eine Stunde später waren wir wieder am Strandhaus.

Als ich Daniels Auto in der Einfahrt bemerkte, wünschte ich mir, unser Spaziergang hätte länger gedauert. Oliver hatte sich das Auto ausgeliehen. Jetzt war es wieder da und mit ihm höchstwahrscheinlich dieser Idiot.

Im Wohnzimmer saß Jennifer auf der Couch. Nahe bei ihr stand ihr Koffer. »Ich wollte mich verabschieden«, sagte sie leise und stand auf.

»Ihr fahrt?«, fragte Nathalie.

»Ich weiß nicht, was Oliver macht. Wir haben Schluss gemacht.« Ohne ein weiteres Wort ergriff sie ihren Koffer und verließ das Haus.

Kurz darauf ging Olivers Zimmertür auf und der Grund für dieses furchtbare Wochenende schlenderte in die Küche.

»Sie ist gegangen«, sagte Daniel.

Oliver ignorierte ihn und holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Dann ließ er sich auf die Couch plumpsen.

Wir sahen einander ungläubig an.

»Oliver, es ist vielleicht besser, wenn du gehst«, sagte Daniel.

Er sprach mir aus der Seele. Allerdings hätte ich mich vermutlich wesentlich unfreundlicher ausgedrückt.

Zuerst kam keine Reaktion. Schließlich stand Oliver auf und drehte sich zu uns um.

Wir vier standen immer noch wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Raum.

Oliver sah zu mir und anschließend zu Julia. »Treibt sie dich genauso in den Wahnsinn mit ihren Küssen? Oder wenn du auf ihr liegst, spürst du dann, wie sich ihre N…«

»Genug«, rief Daniel.

Was bildete sich dieser Mistkerl eigentlich ein? Hätte Daniel ihn nicht gestoppt, ich weiß nicht, was ich getan hätte.

Oliver stapfte zu Daniel und blieb ganz dicht vor ihm stehen. »Warum bist du eigentlich auf deren Seite?« Er nickte in Julias und meine Richtung, als wollte er uns einen Kopfstoß verpassen. »Glaubst du, dir kann das nicht passieren?« Er schaute zu mir. »Bei Scarlett hat Julia ihre Chance genutzt. Aber wer weiß, ob ihr das reicht?« Oliver wandte sich Nathalie zu. »Hast du mir nicht gesagt, sie hatte mal was mit einer Frau? Vielleicht würde sie ja wied…«

»Du verdammter, kleiner …« Nathalies Gesicht nahm ein unnatürlich dunkles Rot an.

Ich konnte nicht länger den Mund halten und unterbrach Nathalie: »Du tauchst hier auf mit deiner mittlerweile zweiten Freundin nach mir in wenigen Monaten, poppst dich munter durch die Welt und beschuldigst Julia, alles anzuspringen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.« Ich trat einen Schritt auf Oliver zu.

Julia hielt mich am Arm fest.

Doch ich war noch nicht fertig. »Du warst es, der mir sagte, Julia sei nicht auf der Suche. Wie passt das bitte schön mit deiner tollen Logik zusammen? Hä?«

Oliver hatte mich während ich sprach angesehen, ignorierte meine Worte aber und sagte zu Daniel: »Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Er presste die Lippen zusammen und stapfte in sein Zimmer.

»Das wird hier und jetzt enden«, murmelte Daniel und folgte ihm.

Ich konnte das alles nicht glauben. Wer brauchte Seifenopern, wenn Oliver in der Nähe war? Meine Hände waren zu Fäusten geballt und ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ohne aufzusehen, flüchtete ich auf die Terrasse.

* * *

Nach ein paar Minuten ging die Glastür auf.

»Alles okay?«, fragte Julia.

»Oliver ist ein Arschloch«, sagte ich. »Er hat kein Recht, uns so anzugreifen.« Ich wirbelte zu Julia herum. Adrenalin pumpte durch meinen Körper. Ich wollte Julia anschreien. Sie und die ganze Welt. Doch als ich in ihre traurigen Augen sah, bröckelte meine Wut in einem Sekundenbruchteil von mir ab. »Das ist alles ein Albtraum.« Ich begann zu weinen.

Julia schloss mich in die Arme und streichelte mir sanft über den Rücken. »Es wird alles gut werden«, flüsterte sie.

Nach einer Weile löste ich mich etwas von Julia. Ich schaute in ihr ebenfalls tränennasses Gesicht. »Glaubst du das wirklich?«

Julia lächelte schief. »Daniel kam gerade und meinte, Oliver verschwindet gleich.«

Ich nickte. »Das ist das Beste, was ich heute gehört habe. Selbst wenn nicht alles gut wird. Es wird jetzt definitiv besser.«

* * *

Ich stand allein am menschenleeren Strand und genoss den Wind, der mir mit voller Wucht ins Gesicht blies. Es war so ungezügelt, so … klar. Der Wind blies. Es gab kein Zögern, keine Unsicherheit. Wie sehr ich mir wünschte, der Wind zu sein, anstatt mich von ihm treiben zu lassen.

Ich atmete laut, dennoch über den Böen kaum hörbar, aus. Oliver hatte vor zwei Tagen das Strandhaus verlassen. Doch nichts war wie vorher. Julia schien so unendlich traurig. Wie hatte es bloß so weit kommen können? Ich schloss die Augen und holte tief Luft. War am Ende alles meine Schuld?

* * *

Nathalie und Daniel hatten sich schon zur Nacht verabschiedet.

Julia und ich saßen gemeinsam auf der Couch.

Doch ich saß nicht so nah bei ihr wie sonst. Ich wusste nicht, was richtig war und was falsch.

»Scarlett, was ist los?«, fragte Julia.

Ich wandte den Blick vom Kamin ab und drehte mich zu ihr.

Julia sah mir in die Augen.

»Das kann so nicht funktionieren.«

Statt zu fragen, was ich meinte, senkte Julia den Kopf.

Also redete ich weiter. »Du weißt, wie wichtig du mir bist, ja?«

Julia nickte, sah aber nicht auf.

Ich holte tief Luft. »Du bist meine beste Freundin. Aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir das Richtige tun.«

Julias Blick schnellte nach oben. »Wovon redest du?«

Ich musste schlucken. »Wie kann ich deine beste Freundin sein, wenn ich gleichzeitig der Grund dafür bin, dass du und dein Zwillingsbruder …«

Julia berührte mich am Arm. »Du hast nichts Falsches getan.« Sie schüttelte den Kopf. »Was sich jetzt hier abspielt, hat seine Wurzeln in etwas, das vor Jahren passiert ist.« Julia seufzte. »Ich war für Oliver immer ein Vorbild.« Sie lehnte sich zurück und starrte ins Leere. »Er wollte immer sein wie ich und war bitterlich von sich selbst enttäuscht, wenn es mal nicht klappte.«

»Aber das erklärt doch ni…«

Julia hob die Hand. »Er sah zwar immer zu mir auf, aber ich war auch immer Konkurrenz für ihn. In allem. Bis auf eine Sache: Zumindest bei Mädchen konnte ich nicht mit ihm …«, sie machte Anführungszeichen mit den Fingern, »›konkurrieren‹.« Julia starrte ins Kaminfeuer. »Und dann outete ich mich. Obwohl das sicher ein Schock für ihn war, unterstützte er mich.« Julia lächelte. »Er ist wirklich ein wundervoller Mensch.«

Wundervoll? Ich widerstand nur mit Mühe der Versuchung, verächtlich zu prusten. Wie konnte Julia nach allem, was geschehen war, immer noch so reden?

Ihr Lächeln verblasste. »Olivers erste Freundin hat mit ihm Schluss gemacht, weil sie mich besser fand. Sie war hetero und dachte es trotzdem. Oder zumindest hat sie das Oliver gesagt.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich konnte seine Freundin von Anfang an nicht leiden. Nie hätte ich was mit der angefangen.« Julia betrachtete ihre Hände. »Ich habe viel über alles nachgedacht. Ich glaube, Oliver hat das Gefühl, versagt zu haben. Und in seiner Wut und Enttäuschung über sich selbst schlägt er um sich.«

Julia schien ihren Bruder so gut zu verstehen. Und ihre Sehnsucht, wieder mit ihm ins Reine zu kommen, war offensichtlich. Nur ich stand dem im Weg.

»Ohne mich zwischen euch könntet ihr euch womöglich wieder versöhnen.«

Julia ergriff meine Hand. »Ich werde unsere Freundschaft nicht aufgeben, damit sich Oliver vielleicht besser fühlt. Glaubst du denn wirklich, es würde an diesem Punkt etwas ändern?«

Ich zog meine Hand weg. »Aber er denkt doch …«

»Geht es hier darum, was Oliver denkt oder was die Leute denken?«

Ich starrte sie an. »Wovon redest du?«

Julias Hände umschlossen die Armlehne neben ihr. »Fast jeder um uns herum scheint zu glauben, wir sind ein Paar. Es geht hier gar nicht darum, was Oliver denkt, richtig?« Julias Stimme wurde lauter. »Du willst bloß nicht für eine Lesbe gehalten werden.«

Diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung. Hatte sie recht?

»Warum, Scarlett?«

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Warum was?«

»Warum ist dir die Meinung der anderen so wichtig?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Sie ist es. Was gibt es da mehr zu sagen? Nicht alles im Leben hat einen Grund, weißt du?«

Julia nickte. »Stimmt.«

Wir betrachteten einander für einen langen Moment.

Dann fragte Julia: »Wer bist du, Scarlett?«

Ich blinzelte einige Male. »Hä?«

Ein Lächeln huschte über Julias Gesicht. »Ich sage nicht, dass ich keine Fehler habe, aber im Großen und Ganzen bin ich zufrieden mit dem Menschen, der ich bin, und wie ich mein Leben lebe. Zweifellos gibt es Menschen, die das anders sehen. Aber die kommen und gehen.« Julia zeigte mit dem Daumen auf sich selbst. »Ich dagegen bin immer bei mir selbst und werde auch nie weggehen. Sollte es da nicht wichtiger sein, was ich über mich denke?«

Sie sah die Dinge zu simpel und unkompliziert. Das Leben funktionierte so aber nicht.

»Sind wir ein Paar?«, fragte Julia.

Ich riss die Augen auf. »Nein!«

»Wo ist also das Problem?«

»Na, d… d…«

Julia legte den Kopf zur Seite. »Ich frage noch mal: Warum ist dir die Meinung der anderen so wichtig?«

»Weil …« Eine furchtbare Traurigkeit überkam mich und ich begann zu weinen.

Julia schlang die Arme um meine Schultern.

Ich hielt mich an ihr fest. Was passierte hier gerade? Was zur Hölle war mit mir los?

»Schhh … es ist gut. Alles wird gut«, flüsterte Julia in mein Ohr.

»Ich will doch gar nicht, dass wir keine Freundinnen mehr sind«, jammerte ich und war dankbar, als Julia sich etwas von mir löste und mir ein Taschentuch reichte. Ich schnäuzte mir die Nase, stopfte das Tempo in meine Hosentasche und umarmte Julia erneut.

»Lass uns einfach sehen, wie sich alles entwickelt«, sagte Julia. »Womöglich sieht in ein paar Wochen alles schon ganz anders aus.«

Ich schmiegte mich an Julia an und entspannte. Wenn ich etwas im Leben gelernt hatte, dann, dass Probleme nie wegliefen, sich aber manchmal von alleine lösten. Vielleicht, nur vielleicht würde das ja dieses Mal auch passieren.